Gefährlicher als das Coronavirus

«Poller»-Kolumnist Martin Erdmann erklärt, wieso Nilpferde unterschätzt werden, weshalb in Bern mehr Schutzmasken als Gewehre verkauft werden und warum Basel abgeriegelt gehört.

​Immer, wenn ich etwas zum Coronavirus lese, muss ich an Nilpferde denken. Ich will nicht angeben, aber ich weiss einiges über diese Tiere. Falls es nicht bis zu Ihnen durchgedrungen ist: Vor rund 26 Jahren hielt ich in einem muffigen Klassenzimmer eines sanierungsbedürftigen Schulhauses einen Vortrag über das Nilpferd. Dieser sollte das Leben der zwecks Ausbildung anwesenden Bälger für immer verändern – oder zumindest ihren kindheitsbedingten Verniedlichungsdrang gegenüber dem Nilpferd beseitigen.

Denn der Hippopotamus, wie wir Experten das Tier nennen, ist nicht etwa der gutmütige Moppel aus dem Nil, für den er gerne gehalten wird, sondern eine präzise, perfide Tötungsmaschine. Er verfügt über einen Korpus, der dem Leergewicht eines Schiffscontainers entspricht, kann an Land Geschwindigkeiten bis zu 50 Kilometern pro Stunde erlaufen, hat scharfe Eckzähne und einen stark cholerischen Charakter. Diese fatale Mischung sorgt dafür, dass jährlich rund 500 Menschen durch nilpferdische Niederträchtigkeit ihr Leben lassen müssen.

Da Sie diesen Text trotz seiner kaum zu ertragenden Komplexität noch nicht beiseite gelegt haben, gehe ich davon aus, dass Sie auf eine langjährige akademische Laufbahn zurückblicken können. Das wiederum heisst, dass Sie altersbedingt schon so manchen Ausbruch schauriger Epidemien überlebt haben. Da wären: EHEC, Sars, Vogelgrippe, Schweinegrippe, Zikavirus oder auch Ebola. Wenn Sie diesen Text in der Hygienehochburg Schweiz lesen, bestehen bis jetzt keine Anzeichen, dass es beim Coronavirus anders sein wird. Und dennoch werden in Berner Apotheken die Schutzmasken nur so aus den Regalen gerissen. Die Bevölkerung rüstet sich also für den nackten Überlebenskampf. Das verwundert mich. Dieses Ausmass an Angst ist völlig irrational.  Denn bis zum jetzigen Zeitpunkt sind am Coronavirus immer noch weniger Menschen gestorben als durch Nilpferde. Dennoch ist die Furcht vor den grausamen Paarhufern bedeutend kleiner.

Das hat nicht zuletzt mit Medienpräsenz zu tun. Zum Coronavirus rattern täglich zahllose Liveticker durch das Internet. Weil der Mensch ein egozentrisches Wesen ist, neigt er dazu, alles Gelesene mit seiner eigenen Existenz in Verbindung zu bringen, auch wenn dazu überhaupt kein Anlass besteht. Daher kann übermässiger Liveticker-Konsum das dringende Bedürfnis auslösen, Schutzmasken zu kaufen. Weil die Medien mit Epidemiennews gefüllt sind, bleibt kein Platz mehr für zeitnahe Einschätzungen zur Gefahrenlage mordender Nilpferde. Dadurch ist wiederum zu erklären, wieso in Bern zurzeit mehr Schutzmasken als grosskalibrige Schiesseisen verkauft werden.

Da Nilpferde so wenig mediale Beachtung finden, könnte schnell die Meinung entstehen, dass sie ausserhalb von Afrika keine Gefahr an Leib und Leben darstellen. Ein schwerer Irrtum! Nach 26-jähriger Pause habe ich meine Recherche zum Hippopotamus wieder aufgenommen und dabei beunruhigende Entdeckungen gemacht. Schauen wir zunächst nach Medellín, Kolumbien. Der ortsansässige Rauschgifthändler Pablo Escobar hat dort in den 80er-Jahren vier Nilpferde gehalten, die sich inzwischen zu einem stattlichen Rudel von rund 60 Tieren fortgepflanzt haben. Noch heute bedrohen sie Fischer und vertreiben Otter und Seekuh aus ihrem natürlichen Lebensraum. Sie sehen: Der Nilpferdbefall verläuft schnell und ist kaum einzudämmen.

Selbst in der Schweiz gibt es bestätigte Nilpferdfälle. Die Tiere stehen zurzeit im Zoo Basel unter Quarantäne. Direkter Kontakt zur Bevölkerung ist untersagt. Doch auch durch die Abschottung zum Menschen konnten Todesfälle nicht verhindert werden. 2004 tötete Nilpferdbulle Wilhelm das Zebra Kalungu. Vier Jahre später folgte ein namenloser Strauss. Doch dem nicht genug. 2016 brachte eines der beiden Tiere ein Junges zur Welt, wodurch die Hippopotamuspopulation in der Schweiz um satte 50 Prozent gestiegen ist. Die Behörden schauen tatenlos zu. Basel ist bis heute nicht abgeriegelt.

Martin Erdmann

Der «Bund»-Redaktor stellt diese Kolumne dem Bundesamt für Gesundheit vollumfänglich zur Verfügung.

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