Wer spät kommt, verpasst Gorbi

«Poller»-Kolumnist Markus Dütschler sah den Mauerfall nicht kommen – dies obwohl er die Wendezeit intensiv miterlebte.

Seit im Kreml der freundliche, vergleichsweise junge Michail Gorbatschow herrscht, scheint sich die Sowjetunion zu wandeln. In der DDR ist jedoch auch 1989 keine Lockerung zu spüren. Im Gegenteil. Die reformfreudige sowjetische Zeitschrift «Sputnik» ist an ostdeutschen Kiosken nicht mehr erhältlich. Die Devise «Von der Sowjetunion lernen heisst siegen lernen» hat abgedankt. Die DDR braucht weder Glasnost noch Perestroika. Zumindest die starrsinnige Führungsriege in Ostberlin glaubt das.

Am 7. Oktober 1989 wird die DDR 40. Alle Ostblockfürsten erweisen dem Genossen Erich Honecker die Reverenz, auch «Gorbi». Diesen Kosenamen skandieren die jungen Leute, die sich vor dem Palast der Republik – wegen der vielen Leuchtmittel «Erichs Lampenladen» genannt – versammeln. Die Staatssicherheit fährt die Krallen heftig aus, aber es wirkt irgendwie hilflos.

«Gorbi» sehen will auch der Schreibende. Das Visum hat er frühzeitig beantragt und erhalten. Doch im S-Bahnhof Friedrichstrasse in Ostberlin, wo die Grenzkontrollen stattfinden, tun die Beamten bockig. Der Schweizer, der wegen eines vorangegangenen Auslandaufenthalts unglaublich viel Gepäck bei sich hat, wird in ein Räumchen geleitet, wo alles durchsucht wird. Danach lassen ihn die Grenzer allein schmoren. Es ist zermürbend, eingesperrt zu sein, ohne dass man den Endpunkt kennt.

Endlich erscheinen die Grenzer und sagen: «Eine Einreise ist zurzeit nicht möglich.» Der Grund ist klar: Sie haben mit den Begeisterungsstürmen für «Gorbi» genug an der Backe. Tags darauf schleppt sich der Besucher mit dem Karsumpel durch das Niemandsland am Checkpoint Charlie für einen zweiten Versuch. In der Grenzbaracke legt er den Pass auf den Tisch. Der Beamte beugt sich nach vorn, sodass sein Gesicht unter der Schildmütze verborgen ist, murmelt etwas ins Telefon und gibt den Pass zurück. Keine Einreise! Der Schweizer ist verstimmt und verlangt nach einer Begründung. Diese lautet: «Darüber wird gemäss internationaler Vereinbarung keine Auskunft erteilt.» Ach so.

Mit Lenin fragt sich der Reisende: Was tun? Ratlos treibt er sich im Westberliner Bahnhof Zoo umher und sieht plötzlich auf der Anzeigetafel, dass in wenigen Minuten ein Zug mit einem Schlafwagen direkt nach Bern fährt. Mühsam schleppt er die Gepäckstücke auf den Perron. Der russische Schaffner fordert ihn auf, sofort einzusteigen, das Pekuniäre regle man später. Der Russe steckt 10 Franken ein, für ihn wohl fast ein Wochenlohn, verabreicht dem Spontangast ein Set bügelfeuchter Bettwäsche und ein Glas Tee. In diesen Abteilen transportieren sowjetische Diplomaten geheime Koffer nach Bern oder reisen mit Kühlschränken, Velos oder Stereoanlagen nach Moskau.

Tags darauf kommt der Reisende in Bern an und vernimmt zu Hause in den Radionachrichten, dass die Einreisebeschränkungen aufgehoben worden seien. Sofort kauft er sich ein neues Zugbillett und macht sich mit reduziertem Gepäck wieder auf den Weg. Diesmal verläuft alles problemlos, am nächsten Morgen ist er in der DDR. Nur «Gorbi» ist längst weg. «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben», hatte er in Ostberlin gesagt, nicht genau so, aber sinngemäss. Im Land passieren unerhörte Dinge. An der Montagsdemonstration in Leipzig sieht der Gast, wie DDR-Bürger über ihren eigenen Mut staunen. Ein Wagen der Volkspolizei wird von Marschierern umringt. Den sonst gefürchteten «Vopos» ist mulmig zumute. Die Demonstranten spüren es und rufen: «Keine Gewalt!» Es bleibt ruhig, doch alle spüren, dass hier gerade etwas kippt. Keine drei Wochen später kippt die Mauer, aber das weiss zu diesem Zeitpunkt noch keiner.

Der «Bund»-Redaktor erlebte die Wendezeit 1989 intensiv mit, sah aber den Mauerfall nicht kommen – wie so viele andere auch.

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