Auf dem Sprung

Neulich bin ich in eine prekäre Situation geraten. Schuld daran war der Wunsch nach längerem Leben. Denn das Konzept des menschlichen Körpers sieht es vor, dass Unmengen an Zeit in unangenehme Dinge investiert werden muss, um nicht mit 50 an einem Herzinfarkt zu sterben. In Fachkreisen wird diese lebensverlängernde Massnahme als Sport bezeichnet. Um mein eigenes Ableben in möglichst weite Ferne zu schieben, treibe auch ich manchmal Sport. Im Sommer draussen. Doch wenn es zu kalt wird, um mein egozentrisches Bedürfnis nach etwas Unsterblichkeit in aller Öffentlichkeit zu stillen, dann gehe ich ins Hallenbad.
Weil ich einen aussergewöhnlich dilettantischen Schwimmstil pflege, will ich Ihnen den Ort der folgenden Schilderung nicht verraten. Ganz anders die Zeit. Es war Morgen. Zu früh für die älteren Semester, die gemächlich durch das Becken gleiten, als wären sie von den Gezeiten gezogene Bojen. Zu spät für die frühmorgendlichen Leistungsschwimmer, die mit brachialer Eleganz durch das Wasser pflügen. Die Anonymität dieses Zeitfensters verleitete mich zu einem sonderbaren Vorhaben. Ich steuerte den Sprungturm an.
Es muss Übermut gewesen sein. Denn geht es um Sprungtürme, verfolge ich eiserne Prinzipien. Menschen, die ihre Mündigkeit erreicht haben, sollen nur dann von Sprungtürmen springen, wenn sie dabei aufrechte Chancen auf eine Medaille haben, die von einem international anerkannten Verband vergeben wird. Alle andere Gründe sind völlig inakzeptabel. Wer es als Spass versteht, aus erheblicher Höhe hinunterzufallen, hat ein seltsames Verhältnis zum Wert des Lebens.
Dieser Grundsatz rührt natürlich daher, dass ich Höhe mit höchster Skepsis begegne. Seit Ikarus sollte die Menschheit doch wissen, dass es mit fataler Gefahr verbunden ist, die Bodenständigkeit zu verlieren. Mit diesen Gedanken trat ich an die Leiter, die drei Meter über Beckenrand endete. Bereits nach wenigen Sprossen waren meine Zweifel dermassen ausgeprägt, dass mich nur ein innerer Druck, meine Vorbehalte gegenüber Höhe auf die Probe zu stellen, vor dem sofortigen Abstieg bewahrte.
Ich kam oben an. Die Aussicht war schrecklich. Eigentlich bin ich ins Hallenbad gekommen, um den Tod durch Sport auf Distanz zu halten. Nun hing sein chloriger Atem in der Luft, die mit hoch dosierter Feuchtigkeit den Turm umhüllte. Ein jähes Ende vor Augen beraubte mich jeglicher Entschlussfähigkeit. So wartete ich ab, auf dass sich die Lage besserte. Sie tat es nicht. Im Gegenteil. Während ich all meine Kräfte darauf konzentrierte, mich am glitschigen Geländer festzuklammern, ist mir entgangen, dass ich nicht mehr alleine auf der Plattform war. Zwei Buben standen vor mir. Der eine trug einen groben Bürstenschnitt über einem Gesicht, das einmal in eine veritable Gaunervisage hineinwachsen wird. Der andere war pummelig und hatte zwei fiese kleine Schweinsäugchen über den Pausbacken stecken. Ich konnte ihr Alter nicht genau einordnen. Zu alt, um nichts auf dem Kerbholz zu haben, zu jung für den Jugendknast. Mit spätkindlicher Grausamkeit musterten sie mich und registrierten augenblicklich, dass ich mich in einer Notlage befand. Ob ich nicht springen wolle, fragte mich Gaunervisage mit verschmitzten Lächeln. Schweinsäugchen gab leise Grunzgeräusche von sich. Ich sagte, sie sollen ruhig vorgehen. Gaunervisage versicherte mir, dass sie nicht in Eile seien. Schweineäugchen grunzte. Mit barbarischem Blick starten sie mich an, als wäre ich eine Ameise, über der sie eine Lupe halten, durch die tödliche Sonnenstrahlen fallen. Es gab nur zwei Auswege. Entweder der furchterregende Sprung in die Tiefe oder der beschämende Abstieg.
Wenn Sie nun eine geniale Finte erwarten, mit der ich mich souverän aus der Situation befreit habe, muss ich sie enttäuschen. Ich stieg die Leiter hinunter. Mündige Menschen springen sowieso nicht von Sprungtürmen – versuchte ich mir zumindest einzureden.
Der «Bund»-Redaktor vermutet, dass ihm sein schrecklicher Schwimmstil eher Lebenszeit abzieht als dazurechnet.
2 Kommentare zu «Auf dem Sprung»
Ich hätt auch einiges zu jammern und hab dabei eigentlich nichts zu sagen und ich hab auch selbstmitleid und mein Humor kann sehr Platt und gleichzeitig plakativ sein. Darf ich auch eine Kolumne scheiben? Der Bund ist eh zu Männerlastig. Übrigens: Ich hab mehr als zwei Eier und ich wär gesprungen, 1. weil wegen Stolz, 2. weil man sich machmal einfach überwinden muss. A propos Stolz und Überwinden: Herr Erdmann, viellicht ist ihr Zenit als komlumnenschreiben länst überschritten? Müssen sie eine Kind als „schweinsäugig mit Grunzgeräuschen“ bezeichnen um einigermassen darüber stehen zu könnn? Sie hätten der Moralische Sieger sein können. Ich hoffe sie finden mal schreibenenswerte Themen, Humor oder das Ende ihrer Adoleszens.
Frau waldvogel
Ich habe mir kurz überlegt, Ihnen hier zu wiedersprechen. Doch wenn man Ihren Kommentar liest, verrät dies genug über Sie, damit er zu einem eigentlichen Kompliment für Herr Erdmann wird.
Danke