Von Freilandhühnern und Freunden des Alleingangs

Fussgänger leben gefährlich, auch weibliche und solche mit Sternchen. Kollidiert ein Auto mit ihnen, gibts am Fahrzeug eine Beule, doch der Mensch ist verletzt – wenn nicht Schlimmeres geschieht. Sogar gegen ein Velo haben Verkehrsteilnehmer auf zwei Beinen keinen Stich. Dessen sollten sich alle, die auf Rädern unterwegs sind, bewusst sein.
Daraus könnte man ableiten, dass Fussgänger vorsichtige Leute sind, die um ihre Verletzlichkeit wissen. Bei älteren Personen ist dies meist der Fall. Sie blicken, wenn sie nicht den vor ihnen liegenden Weg mustern, in die Runde, um Gefahren rechtzeitig zu registrieren. Denn sie wissen: Weglaufen geht nicht, und ein Sturz kann üble Folgen haben. Keine Sorgen machen sich oft Jüngere, Gesunde und Sportliche.
Allmählich habe ich einen Instinkt entwickelt, wenn ich mit dem Velo unterwegs bin. Oft merke ich, dass ein auf dem Trottoir gehender Mensch die Absicht hat, meine Fahrbahn
zu überqueren. Selbstverständlich nicht auf einem Fussgängerstreifen. Und ohne Zeichen oder Kontrollblick.
Im letzten Augenblick erschreckt er und weicht zurück.
Oft hängen diesen Leuten weisse Stummel aus den Ohren, oder dicke Muscheln decken das ganze Ohr ab. Sie hören ihre Lieblingsmusik,
die ihre Seele zum Schwingen bringt und ihnen nicht Flügel, aber doch ein Gefühl von Unverletzbarkeit verleiht. Viele von ihnen benehmen sich so, als hätten sie wie Siegfried
in Drachenblut gebadet. Darum lenken sie ihre Schritte auf
die Strasse, umfangen vom Urvertrauen, dass dort sicher nichts kommt. Wenn sie sich da bloss nicht täuschen.
Es ist also unklug, sich abzukapseln. Doch selbst wer das Anliegen des Selbstschutzes hintanstellt, muss sich fragen, ob es wünschbar ist, dass alle mit zugepfropften Ohren durch die Welt marschieren. Schliesslich liegt man nicht zu Hause auf dem Sofa, sondern bewegt sich im öffentlichen Raum, ist Teil eines Ganzen, selbst wenn man solo unterwegs ist.
Öffentlichkeit heisst: Man sieht und wird gesehen, man grüsst und wird gegrüsst. Zumindest kann dies geschehen. Der öffentliche Raum birgt Risiken, aber auch Chancen und Überraschungen – hoffentlich nur freudige. Wer seine Gehörgänge abdichtet, sagt implizit: «Lasst mich in Ruhe, ihr interessiert mich keinen Deut. Tut so, als wäre ich gar nicht da.» Irgendwann tun das die anderen tatsächlich. Und das ist dann auch nicht lustig.
Der Lokalredaktor hat beim Loeb-Reopening das Kopfhörerregal betrachtet, aber dann trotz 20-Prozent-Rabatt nichts gekauft.
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