Massenhaltung im öffentlichen Raum

«Poller»-Kolumnist Martin Erdmann ist überzeugt, dass lange Sitzbänke die Massenhaltung fördern.

Ein Text beginnt ausnahmslos mit dem ersten Satz. So auch dieser. Dies ist höchst ungünstig, denn aller Anfang ist schwer. Besonders, wenn man sich gelegentlich von schwerster Prokrastination befallen fühlt. Das ist die besondere Fähigkeit, den Beginn einer Aufgabe immer weiter hinauszuzögern. So sitze ich seit Stunden mit inspirations­mageren Gedanken und willenlosen Fingern vor der Tastatur und schiebe diesen Textbeginn unaufhörlich auf die lange Bank. Damit der Text nicht an dieser Stelle endet, erachte ich es für nötig, nun eine unvorhergesehene Wendung einzufügen. Wenn Sie nun um die Stringenz dieses Textes bangen, so seien sie unbesorgt. Denn die Wendung hat mit oben besagter langen Bank zu tun. Eine solche steht nämlich seit kurzem vor dem Käfigturm.

Nach dieser durchaus glänzenden Einleitung ist es nun Zeit, zur Sache zu kommen. Ich bin zum Entschluss gekommen, dass ich gegen jene Bank tendenziell ratlose Gefühle hege.
Es hat mit ihrer Länge zu tun.
15 Meter misst sie. Um einen bildlichen Vergleich aus der Tierkunde beizuziehen: Das entspricht der Aneinanderreihung von drei ausgewachsenen Anakondas weiblichen Geschlechts. Nun ist es so, dass Bänke durch ihre angedachte Funktion einen starken gemeinschaftlichen Charakter aufweisen. Bei einem Modell von 15 Metern Länge kann sogar von einem protzigen Prunkbau im Zeichen des Pluralismus gesprochen werden.

Ich tue mich immer etwas schwer mit gesellschaftlich geprägten Wir-Gefühlen. Wenn zum Beispiel eine sich in den Armen liegende Fest­gemeinschaft unaufgefordert Patent-Ochsner-Lieder mit integrativem Mitsingcharakter durch die Strassen plärrt, fühle ich mich immer peinlich berührt. Diese Bank von beinahe äquatorialer Länge ist im Grunde nichts anderes als das «Scharlachrot» der Sitzgelegenheiten – jeder Dahergelaufene kann sich einreihen. Eine Sitzbank von solcher Länge fördert also die Massenhaltung und kann durchaus als Angriff auf das Ich-Bewusstsein der Bevölkerung verstanden werden.
 
Ich für meinen Teil bevorzuge individuelle Sitzgelegenheiten wie Ohrensessel oder Barhocker. Da solche im öffentlichen Raum eher spärlich gesät sind, meide ich diesen, wenn es sich einrichten lässt. Deshalb habe ich mich über die Existenz besagter Bank durch das Internet in Kenntnis gesetzt. Dort wird sie von der Stadt als Ort zum Verweilen angepriesen. Auch das hat mich irritiert. Welch merkwürdige Formulierung. Mir hat noch nie jemand davon berichtet, dass er seinen Nachmittag auf einer Sitzbank verweilend verbracht hat. Verweilen tut die Familie am Krankenbett, auf dem Grosstante Gertrud auf unbestimmte Zeit das letzte Fünkchen Leben aus dem klapprigen Körper röchelt.

Vielleicht haben Sie nun bereits ein erbostes Schreiben aufgesetzt, in dem Sie intervenieren, dass eine Bank von solcher Länge gerade in kalten Zeiten wie diesen für ein gesellschaftliches Zusammenrücken sorgen könnte. Ich muss Sie aber leider darüber unterrichten, dass solche Gedanken einer illusorischen Weltfremdheit entspringen. Das Bedürfnis, sich neben fremde Menschen zu setzen, ist sehr gering. Bester Beweis liefert der öffentliche Verkehr. Da sitzt quasi nur nebeneinander, wer sich seit Jahrhunderten dieselbe Blutlinie teilt. Bleibt also anzunehmen, dass auf der 15-Meter-Bank höchstens drei Menschen gleichzeitig sitzen werden, um dazwischen genug Platz für die gute, alte zwischenmenschliche Distanziertheit zu lassen.

Und um nun einen gekonnten Bogen zum Anfang dieses Textes zu spannen, werde ich diesen jetzt mit dem letzten Satz beenden.

Ein Kommentar zu «Massenhaltung im öffentlichen Raum»

  • Christina sagt:

    Falsch! Heute Nachmittag ca. 15 Uhr war die besagte lange Bank völlig ausgelastet. Vielleicht aber ist es der Sinn dieser langen Bank, welche Richtung Bundeshaus schaut, dass Bankbesetzer und Besetzerin gewahr werden, was alles dort drüben auf diel ange Bank geschoben wird.

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