Schnurrli ist verschwunden

«Poller»-Kolumnist Martin Erdmann erzählt von den Schwierigkeiten, fremde Katzen zu fangen.

Dieser Text handelt primär davon, wie ich mir neulich überlegt habe, eine Katze zu fangen. Die Gründe dafür sind nostalgischer Natur. Wer nun denkt, ich werde aufgrund von Geschehnissen in meiner Vergangenheit von einer sentimentalen Sehnsucht gepackt, Katzen durch das Quartier zu scheuchen, irrt sich. Es ist wegen der Vermisstmeldungen. Sie sind die letzte Bastion gegen den Fortschritt. Die Welt kann so modern werden, wie sie will – wenn Katzen verloren gehen, wird der Stadtteil durch altbackene Handarbeit mit Aufrufen zur Suchbeteiligung zugekleistert. So klebt zurzeit vor meiner Tür ein solcher Partizipations-Appell. Es geht um Schnurrli. Eigentlich heisst das Tier anders, aber aus Datenschutzgründen kriegt es einen stereotypischen Katzennamen verpasst. Schnurrli sieht aus wie etwas, mit dem sich gut Staub aus schwer zu erreichenden Inneneinrichtungsecken wischen lässt. Sein fusselgraues Fell lässt vermuten, dass das bereits einige Male getan wurde. Vielleicht hat er sich deswegen aus einer Dachwohnung im Breitenrain davongestohlen.

Und nun wird es spannend. Denn ich habe Schnurrli gesehen. Zumindest vermute ich das. Ganz sicher bin ich mir nicht. Es ging zu schnell. Ich schlenderte gedankenverloren durch eine Seitenstrasse, als plötzlich etwas Flauschiges in zehn Meter Entfernung meinen Weg kreuzte. Bevor ich dieses Wesen eindeutig als Schnurrli identifizieren konnte, verschwand es im Dickicht eines angrenzenden Gartens. Ich wollte bereits gleichgültig meines Weges gehen, als mich eine moralische Frage abrupt daran hinderte. Denn war meine Vermutung nicht gewichtig genug, um im Namen der gesellschaftlichen Solidarität sicherzustellen, ob es sich beim verdächtigen Subjekt nicht tatsächlich um Schnurrli handelt?

Ich mochte mich aus der Geiselhaft meines moralischen Empfindens nicht befreien und schlurfte missmutig zum gusseisernen Gartenzaun, hinter dem ich Schnurrli vermutete. Tatsächlich begegnete ich dort den vor Überraschung weit aufgerissenen Augen einer gräulichen Katze. Ein typischer Blick eines ertappten Ausreissers. Mein Verdacht, es mit Schnurrli zu tun zu haben, wuchs rasant, was mich dazu bewegte, über die praktischen Aspekte der Jagd auf eine fremde Katze nachzudenken. Ich fragte mich, ob es mir meine moralische Souveränität erlaubt, Privatgrundstücke zu betreten, oder ob da doch etwas Hausfriedensbruch mitschwingt. Zudem war ich mir nicht sicher, ob ich es in angemessener Zeit schaffen würde, den hohen Gartenhag zu überwinden. Und was, wenn ich Schnurrli tatsächlich zu fassen kriegen würde? Es wäre mit heftiger Gegenwehr zu rechnen. Ich hätte das Tier also genug fest umklammern müssen, dass es nicht flüchten kann, aber dennoch mit solcher Sanftheit vorgehen, um ihm nicht das Genick zu brechen. Zwar war in der Vermisstmeldung nicht explizit angegeben, ob Schnurrli tot oder lebendig retourniert werden soll, doch gemäss meiner Erfahrung mit domizilierter Tierhaltung sind Haustiere in lebendem Zustand deutlich beliebter.

Schnurrlis Motorik ist agiler, als es meine Gedanken sind. Lange bevor ich einen Entschluss gefasst habe, ob ich Schnurrli jagen soll, war er in der Dämmerung verschwunden. Um mein Wissen über das temporäre Aneignen fremder Katzen zu vergrössern, recherchierte ich, ob es dazu Richtlinien, Leitfäden oder Konventionen gibt. Dabei musste ich feststellen, dass die Digitalisierung selbst die Suche nach vermissten Katzen unterwandert hat. Es gibt nationale Portale, auf denen abhandengekommene Haustiere ausgestellt werden können. Das fand ich etwas unnütz, aber auch interessant. Denn während man Vermisstmeldungen in der realen Welt unaufgefordert begegnet, müssen die Onlineableger aktiv angesteuert werden. Um Sinn und Zweck solcher Seiten zu legitimieren, muss es also Leute geben, die sich mit fester Absicht ins Internet einwählen, um zu schauen, ob es vermisste Katzen in der Nähe zu retten gibt. Möge einer von ihnen Schnurrli möglichst genickschonend seinem Inhaber zurückbringen.

Der «Bund»-Redaktor lässt tierische Vermisstmeldungen künftig gegen kleine Geldbeträge in seine Kolumnen einfliessen.

2 Kommentare zu «Schnurrli ist verschwunden»

  • Frau Mahlzahn sagt:

    Ich gehöre zu den Personen, die aktiv eine Internetseite mit Vermisstmeldungen zu Katzen aufgesucht habe. Wir hatten eine tote Katze in unserem Garten gefunden und konnten dank der Online-Vermisstenanzeige die Besitzer ausfindig machen und informieren. Für solche Fälle sind die Plattformen ausgesprochen nützlich. Ohne die Online-Anzeige hätte ich im Katzenumkreis unseres Gartens auf die Suche nach Aushängen gehen müssen, was vielleicht auch ein schöner Spaziergang geworden wäre.

  • Monique Saulnier sagt:

    Digital oder Flyer spielt weniger eine Rolle. Wichtig ist, dass der Katzenhalter sein Tier chippt. So können die Polizei oder Tierärzte und Tierheime schnell und einfach den Besitzer finden. Zwei Fälle aus meinem Umfeld als Beispiel:
    1. Der zweijährige Kater eines Freundes in Bern kam eines Tages nicht mehr nach Hause. Fast auf den Tag genau ein Jahr später bekam er einen Anruf von einem Tierarzt in Lausanne (!) sie hätten seinen Kater in der Praxis. Etwas verfilzt aber putzmunter wurde er nach Hause geholt.
    2. EIn Nachbarkater, 18 jährig,wurde tot aufgefunden (vermutlich Herzversagen). Dank des Chipps konnte der Besitzer ihn holen und sich von ihm verabschieden.

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