Den Zeitzeugen wünscht man «sto lat!»

(v.l.) Bronislaw Erlich, Fishel Rabinowicz,Mark Varshavsky.
Zeitzeugen haben ein Alleinstellungsmerkmal: Sie haben eine Sache selbst erlebt, sie kennen ihr Thema nicht durch Sachbücher oder Dokfilme. Das macht Geschichte greifbar und erlebbar. Deshalb hatte der deutsche Fernseh-Historiker Guido Knopp derartigen Erfolg mit seinen Beiträgen, allen Einwänden einiger Historiker zum Trotz. Diese sagen, dass Zeitzeugen zwar viel über den damaligen Zeitgeist wüssten und was ihnen konkret passiert sei. Dennoch könnten bei ihnen aus der zeitlichen Distanz Fakten durcheinandergeraten. Es brauche stets eine Einordnung von jemandem, der den grösseren Rahmen im Blick hat.
Als kürzlich eine Diskussion um Zeitzeugen aufkam, sagte ein Historiker, die Vermittlung historischer Fakten funktioniere auch ohne Zeitzeugen, denn sonst könnte man keinen Geschichtsunterricht zum Römischen Reich erteilen.
Das stimmt natürlich. Dennoch ist es ein Privileg, mit Zeitzeugen zu sprechen. Ich selbst fragte als Bub manchmal meine Grosseltern: «Erzählt mir etwas von früher», was zugegebenermassen keine präzise Handlungsanweisung war. Die Grosseltern fanden, in ihrem gewöhnlichen Leben sei nichts Besonderes vorgefallen. Auf mein Drängen hin erzählten sie dann doch etwas: über ihre Schulzeit, die Lebensmittelrationierung im Zweiten Weltkrieg, die Konfirmation oder die Vereinsreise, an der sie nur teilnehmen konnten, weil die anderen zusammenlegten. Was sie als unspektakulär empfanden, war für mich spannend.
Die Grosseltern lebten in nicht einfachen Zeiten, doch hatten sie keine derart verrückten und lebensgefährlichen Situationen durchlitten wie die drei betagten Herren, die kürzlich gemeinsam an einer Gedenkveranstaltung in Bern auftraten. Es waren drei jüdische Männer, die den Holocaust überlebt hatten, alle im zehnten Lebensjahrzehnt stehend. Sie sprachen vor einem internationalen Publikum, vor diplomatischer Prominenz. Die Botschafter Israels und Deutschlands waren dabei, was nachzuvollziehen ist, aber auch Ambassadoren aus Südafrika, der Ukraine, des Vatikans, von Polen oder der Türkei.
Die drei waren in jungen Jahren durch die Hölle gegangen, doch steckte in ihnen viel Leben, selbst wenn sie inzwischen die Bresten des Alters tragen müssen. Bronislaw Erlich – er ist sporadisch mit Leserbriefen im «Bund» präsent – las aus seinen Erinnerungen aus der Zeit, als er im besetzten Polen dem Griff der Nazihäscher wie durch ein Wunder entwischte. Den Text hatte er sich in riesigen Buchstaben ausdrucken lassen. «Die Augen», sagte er entschuldigend: «Ich bin 96.»
Mark Varshavski, der in Basel lebende bekannte russische Cellist, spielte auf seinem Instrument «Kaddish» von Maurice Ravel, was einem unter die Haut ging. Und Fishel Rabinowicz, der heute in Lugano wohnt, erklärte seine rätselhaften Bilder, die aus hebräischen Buchstaben bestehen und Motive aus der jüdischen Zahlenmystik Kabbala verwenden. In ihnen verarbeitet Rabinowicz den erlebten Schrecken.
Es war nach der Berner Veranstaltung nicht einfach, die drei Zeitzeugen gemeinsam abzulichten. Immer wenn zwei beim Fotografen bereitstanden, fehlte der dritte, und wenn dieser in einem Nebenraum im Gespräch mit alten Freunden gefunden und zum Fotografen geführt worden war, war inzwischen der zweite wieder entschwunden. Bot man dem einen rüstigen alten Herrn auf dem Weg zum Fotografen auf der steilen Treppe den Arm an, lehnte dieser ab – es gehe schon. Und wenn der Maler Rabinowicz einen zu einem seiner Bilder führte, um es zu erläutern, nahm er dem Begleiter die Warnung vor dem kleinen Absatz am Boden aus dem Mund und sagte mit ausgestrecktem Zeigefinger: «Vorsicht, Stufe!» Wem über Jahre fanatisch nach dem Leben getrachtet wurde, lässt sich von einer kleinen Stufe nicht aus der Ruhe bringen.
Zwei der drei Männer wuchsen in Polen auf, weshalb ihnen das Geburtstagslied «sto lat! sto lat!» («100 Jahre!») bestens bekannt sein dürfte. Allzu weit entfernt von dieser wichtigen Wegmarke sind sie nicht mehr, das hätten sie sich während der Schrecknisse in jungen Jahren wohl kaum träumen lassen. Die Frage bleibt offen, wie die Vermittlung der Schoah erfolgen soll, wenn die letzten Zeitzeugen einmal nicht mehr da sind. Bücher und Filme wird es viele geben, aber nicht das eindrückliche Zeugnis, etwa in einer Schulklasse. Den Auftritt, bei dem ein betagter Mensch sagt: «Das sind keine Schauergeschichten, es hat sich so ereignet, ich habs selbst erlebt – und überlebt!» Das ist unvergleichlich und unersetzlich. Nur schon darum wünscht man den Zeitzeugen von Herzen «sto lat!» – es darf auch gerne etwas mehr sein.
Markus Dütschler
Der «Bund»-Redaktor ist froh, Zeitzeugen getroffen zu haben – und rät allen, keine derartige Gelegenheit zu versäumen.
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