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Wie wäre es, wenn wir es ganz anders machten?

Constantin Seibt am Mittwoch den 27. Juni 2012

In seinem Interviewbuch mit Truffaut beschreibt Sir Alfred Hitchcock eine seiner Lieblingsmethoden, auf Ideen zu kommen. Er empfiehlt, die Konventionen des eigenen Genres genau zu studieren. Und sich dann die Frage zu stellen: «Wie wäre es, wenn wir es ganz anders machten?»

Um seinen Helden in Lebensgefahr zu bringen, überlegte Hitchcock etwa wie folgt:

Ein Mann kommt an einen Ort, wo er wahrscheinlich umgebracht wird. Wie wird das im Allgemeinen gemacht? Eine finstere Nacht an einer engen Kreuzung in einer Stadt. Das Opfer steht im Lichtkegel einer Laterne. Das Pflaster ist noch feucht vom Regen. Grossaufnahme einer schwarzen Katze, die eine Mauer entlang streicht. Eine Einstellung von einem Fenster, hinter dem schemenhaft das Gesicht eines Mannes auftaucht. Langsam nähert sich eine schwarze Limousine, und so weiter. Ich habe mich gefragt, was das genaue Gegenteil einer solchen Szene wäre. Eine völlig verlassene Ebene in hellem Sonnenschein, keine Musik, keine schwarze Katze.

Daraus entstand einer der berühmtesten Mordanschläge der Filmgeschichte. Die Szene in «North by Northwest», in der Cary Grant von einem Sprühflugzeug angegriffen wird, auf offenem Feld, bei hellem Sonnenschein, einsam und ohne schwarze Katze.

These, Antithese, Zeitungsartikel

In der Tat sind die wirklich guten Ideen erstaunlich oft das direkte Gegenteil der verbreiteten Ideen. Deshalb lohnt sich für jeden Journalisten, alle Regeln, Praktiken und Tabus seines Standes präzis zu studieren. Um sich dann die Frage zu stellen: «Wie wäre es, wenn wir das genaue Gegenteil machten?»

Der Vorteil dieser Methode ist, dass die Inspiration nicht wie ein Blitz Gottes über einen kommen muss. Sondern dass man sie mit kühler Logik aus der herrschenden Praxis entwickeln kann.

Etwa wie folgt:

Die verbreitete These: Zeitungen sind im Nachrichtenbusiness. Ihre Ware sind die Neuigkeiten.

Die Gegenthese: Das glauben nur Naive. In Wahrheit verkaufen Zeitungen (getarnt durch Neuigkeiten) eine mindestens 4000 Jahre alte Ware: Geschichten. Und zwar immer dieselben. Etwa: Der Gott Chronos, der seine Kinder frisst. Der Umjubelte, der gekreuzigt wird; der Gekreuzigte, der wieder aufersteht. Lady Macbeth und ihre Pläne für ihren Mann. Überhaupt sollte jede ernsthafte Nachrichtengeschichte so beginnen wie eine Geschichte am Feuer in der Steinzeit. Mit dem Satz «Es war eine dunkle, stürmische Nacht, als…».

Die Anwendung: Suche das uralte Muster im Neuen: Das Königsdrama in der Chefetage; die Passionsgeschichte in der Karriere; die Buddenbrooks in Industrieunternehmen. Schreibs so. Und schreibe überhaupt jede Geschichte, dass sie auch ohne die kleinste Neuigkeit gelesen würde.

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Die verbreitete These: Die Schnellsten sind die Besten. Am besten ist der Journalist dran, der einen Primeur, also eine Geschichte zuerst hat.

Die Gegenthese: Die Bibel sagt: Die Letzten werden die Ersten sein. Primeurs sind – wenn sie keine welterschütternden sind – dramaturgisch meist im Nachteil. Erstens merkt ein Leser oft gar nicht, dass eine Geschichte neu ist: Er hält viele abgeschriebene für neu, viele neue für abgeschrieben. Zweitens erzählen Primeurs meist nur ein Detail, einen Anfang der Story. Viel aussichtsreicher ist, zu warten bis eine Geschichte fast nicht mehr in den Nachrichten dreht. Dann sind Fortsetzung, Reaktionen und Details der Story am Licht. Das heisst: Sie hat Anfang, Mitte und Schluss. In dem Moment ist es eine komplette Geschichte.

Die Anwendung: Warte. Warte wie ein Raubtier am Wasserloch. Oder noch besser: Warte wie ein Bauer, bis die Geschichte reif ist. Und dann erzähle sie an einem Stück, in grossem Stil. Selbst wenn kein Buchstabe neu ist, wird dem Leser viel daran neu sein. Und vor allem wird ihnen die Sache neu erscheinen, weil du nicht die Bruchstücke, sondern das Panorama lieferst.

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Die verbreitete These: Journalisten sollten Kompetenz ausstrahlen, immer.

Gegenthese: Wie beurteilt man dauerkompetente Leute im eigenen Leben? Man geht ihnen aus dem Weg. Viel klüger wäre es, auch die eigenen Zweifel zu verkaufen, die Fehler und Niederlagen. Schon, weil man als Journalist nicht immer eine Chance auf Perfektion hat: Nicht bei jedem Interviewpartner, nicht bei jeder Sachlage. Und leider nicht in jeder Tagesform.

Die Anwendung: Fehler offen eingestehen. Gescheiterte Interviews ganz direkt als gescheiterte Interviews verkaufen. Aus persönlichen Niederlagen Stoff für Kolumnen machen. Die eigenen Grenzen deklarieren. Und in einem Kommentar vielleicht sogar den grössten Tabubruch des Journalismus begehen. Und den Satz schreiben: «Ich weiss es nicht.»

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Die verbreitete Praxis: Journalisten arbeiten in ihrem Ressort, bis sie zur Konkurrenz wechseln, sterben, in die PR desertieren oder entlassen werden.

Gegenpraxis: Was passiert, wenn man die Sportreporter ins Parlament, die harten Wirtschaftsrechercheure in den Kulturdschungel, die Politleute auf den Sportplatz und die Kulturmenschen in die Konzerne schickt?

Die Anwendung: Mal sehen. Ziemlich sicher würden selbst wache Journalisten im kalten Wasser wacher. Und die Leser auch. Immerhin waren zwei der besten Bundeshausredaktoren, die ich je gelesen habe, Musikjournalisten. Sie waren so gut, weil sie die Bühnenauftritte der Politiker immer mit beschrieben. Und erstaunliche Schreiber kommen regelmässig vom Radio: Sie lernten dort Knappheit, Einfachheit und die präzise Montage von Zitaten. Fremdheit ist in unserer Branche so wichtig wie Kenntnis.

Experimente wagen! 

Das Wie-wäre-es-wenn-wir-alles-anders-machten-Prinzip lässt sich überall durchdeklinieren. Man braucht eigentlich nur eine eherne Praxis, eine stolze Gewissheit, ein unausgesprochenes Tabu. Und dann noch etwas Logik und etwas Frechheit.

Hier ein paar Notizen auf die Schnelle: Der Stoff von Zeitungsartikeln besteht zu 90 Prozent aus anderen Zeitungsartikeln. Welche Zeitung macht eine Redaktion, wenn (bis auf ein kleines Nachrichtenteam) drei Wochen niemand eine einzige Zeitung mehr liest? +++ Interviews bestehen aus kurzen Fragen und langen Antworten. Wie sähe ein Interview mit ellbogenlangen Fragen und superlakonischen Antworten aus? +++ Tote sagen nichts mehr. Was kommt heraus, wenn man berühmte Tote per Spiritisten interviewt? +++ Die Auftraggeber von journalistischen Artikeln sind stets andere Journalisten. Was würden die Leser an Recherchen bestellen, wenn man sie fragte? +++  Themensitzungen finden in den Konferenzräumen statt. Warum nicht  in einer Bar, am Swimming Pool, beim Spaziergang? +++  Alle Seiten werden täglich gefüllt. Wie wäre es, wenn man von Zeit zu Zeit systematisch weisse Flecken liesse mit Bemerkungen wie: «Mehr war nicht los» oder «Der hier geplante Artikel über XYZ war noch nicht gut genug. Wir arbeiten bis morgen hart daran, dass er wirklich brillant ist.» Und wirklich nur das druckt, was überzeugt? +++ Warum versucht jede Publikation, die mehr Frauen als Leserinnen will, es mit Lifestyle-Seiten? Wäre nicht ein anderer Politik- und Wirtschaftsteil gefragt? Und mehr Frauen in harten Ressorts? +++ Was passiert, wenn man Routine-Interviewgebende wie Politiker oder Sportler nicht mit Routinefragen, sondern mit den philosophischen Menschheitsfragen eindeckt, etwa mit: Gibt es eine Seele? oder: Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts? +++

Einige dieser Ideen (die interviewten Toten, fürchte ich) werden nur für einen Gag oder einen Artikel gut sein. Andere (wie etwa die Die-Letzten-werden-die-Ersten-sein) können eine ganze Produktelinie begründen. Dritte wie etwa die Idee amerikanischer Blätter, die Autorschaft aufzuheben und gute Rechercheure (die schlecht schreiben können) und gute Schreiber (die zu schüchtern zum Recherchieren sind) zusammenzuspannen, können eine solide neue Praxis begründen.

Natürlich: Nicht immer hat die Konvention die schlechteste Lösung gefunden. Sie ist zwar teils blind, aber nicht blöd. Doch man sollte sie nie ungeprüft regieren lassen. Denn die tägliche Pflicht jedes Journalisten ist die Verwaltung von Neuigkeiten. Aber seine Berufung ist das genaue Gegenteil: das Neue.

PS: Was wären Ihre Vorschläge, was man ganz anders tun sollte?


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19 Kommentare zu “Wie wäre es, wenn wir es ganz anders machten?”

  1. Herr Natischer sagt:

    Warum nicht in der Politik etwas mehr – wie Tatort-Kommissare – Motiven und ggf. Alibis von Politikern nachgehen?

  2. Sam Pirelli sagt:

    Zum lakonischen Interview: Der ungeschlagene König in dieser Disziplin dürfte nach wie vor Willy Brandt sein, der Nowottny aufs Schönste auflaufen lief (und sichtbaren Genuss dabei empfand). Man findet es unter nachfolgendem Link oder indem man “Brandt Nowottny” bei Youtube eingibt. http://www.youtube.com/watch?v=cMgJFG90w7w

  3. Thomas sagt:

    Diese Unsitte, am Ende jedes Artikels eine Frage ans ‘Publikum’ zu richten, endlich sein zu lassen.

    • Constantin Seibt sagt:

      Warum Unsitte? Und warum jedes? Warum die Anführungsstriche? Und warum sein lassen?

    • Fabian sagt:

      Im klassischen Journalismus, von mir aus. Als erfahrener Blogger (tägliche Beiträge) kann ich sagen: Die Leserschaft muss mit einer Frage aus der Apathie geweckt werden, zum Kommentareschreiben animiert werden.

  4. Roberto sagt:

    ellbogenlange fragen? ellenlange fragen, oder?

  5. rolandwyss sagt:

    ok, jean-martin büttner. klar. super. wer ist der andere?

  6. Heinz Kistler sagt:

    “Der Stoff von Zeitungsartikeln besteht zu 90 Prozent aus anderen Zeitungsartikeln.”

    Was für ein Armutszeugnis.

    Etwas anderes:
    Der neutrale Journalismus spielt uns was vor, was er nicht ist: neutral. Nehmt diesen Schutzschild weg und vertretet Standpunkte, dann kommen auch die Leser wieder zurück. Keiner hat Lust in jedem Blatt das gleiche, neutrale Gesülze zu lesen.

    No offense, just my standpoint. Get it?

  7. Martin K. sagt:

    Wenn die Gegenthese länger ist, als die These, verheisst das oft nichts Gutes.

  8. Zeitungen könnte auch einfach anfangen zu recherchieren, über Dinge zu schreiben, die hier im Kanton passieren, die für unseren Alltag eine Rolle spielen. Zeitungen könnten auch anfangen, fähiges Personal anzustellen, das etwas von der Sache versteht, wenn es um Pensionskassen geht oder Kriminalität oder Verkehrswachstum oder Umweltschädigung.

    Hätten unsere Tageszeitungen Journalisten, die selber denken, Probleme analysieren, eigene Recherchen anstellen anstatt immer nur im Archiv und aus dem Internet abzuschreiben, dann täten sie schon alles anders machen.

    • Gefährlich, wenn die Leute anfangen zu denken. Das ganze System ist in Gefahr. Kaufen, immer wieder kaufen, sich etwas Gutes, nicht allzu anspruchsvolles gönnen – nach einem spartanischen Arbeitstag. Am Schluss kann der Journalist im Tagebuch schreiben. Nein, The Show must go on.

  9. pell sagt:

    Vorschlag: Journalisten sollten weniger über Journalisten schreiben.

  10. Hans Kernhaus sagt:

    Ganz frech: Beim Leser etwas voraussetzen. Ein Axiom scheint mir ja, dass man das nicht darf. Den Artikel zu einem exklusiven Club machen, von dem man gar nicht will, dass ihn jeder liest (auch wenn’s gar nicht stimmt). Etwa:

    “Wenn Sie nicht wissen, wie eine Bank funktioniert, wird Ihnen dieser Artikel nicht viel sagen, denn es wird komplex:”

    “Um diese Kolumne zu verstehen, müssen Sie ein Mann sein und die Offiziersschule absolviert haben”

    Vielleicht denken einige “na, wollen wir doch mal sehen”. Kann natürlich auch arg hinten hinausgehen. No risk, no fun.

  11. Adriano Granello sagt:

    Alle Seiten werden täglich gefüllt. Wie wäre es, wenn man von Zeit zu Zeit systematisch weisse Flecken liesse mit Bemerkungen wie: «Mehr war nicht los»…

    Genau das ist es! Nur würden die all die teure Zeitungswerbung in Auftrag gebenden Firmen kaum mit dieser Idee anfreunden können, keine News, keine Leser, kein Publikum, das man markettingtechnisch umgarnen kann, so dass sie Dinge tun und Dinge kaufen, die sie nicht wollen und nicht brauchen…

    Damit sind wir beim Kern angelangt: Zeitungsstoff als Köder. Und jetzt fahren Sie versuchsweise die Antithese ‘WERBEFREI’!

  12. S. Kistler sagt:

    Die verbreitete These: Es spielt keine Rolle, wie fehlerhaft die verwendeten Beispiele sind, da das Publikum ja eh doof ist.

    Die Gegenthese: Man schreibt nur, worüber man Bescheid weiss.

    Die Anwendung: Vor dem Druck noch kurz nachschauen, was der Unterschied zwischen Chronos und Kronos ist.

    “Also erbe man das untergegangene Bildungsbürgertum, indem man sein Erbe ehre:” Die Zuhilfenahme von mythologischen Beispiele, um möglichst seine Bildung zu demonstrieren, aber bestimmt nicht, um sich durch deren Vortäuschung zu blamieren.

  13. Constantin Seibt sagt:

    Geehrte Mrs oder Mr Kistler, wow – das war sehr elegant eins aufs Dach gegeben! Allerdings auf ein Dach, auf das häufig der Regen trommelt. Als Ex-Hardcore-Leghasteniker sehe ich das Wort, nicht die Buchstaben. Und verhaue regelmässig Eigennamen. Sie werden noch Einiges zu tun kriegen.