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Ein Mehrzweck-Tool für Zeitungen: Der Ein-Wochen-Chefredaktor

Constantin Seibt am Mittwoch den 13. Juni 2012

Hier, im Blog des kämpfenden Fussvolks, zur Abwechslung einmal ein Vorschlag für die Strategen in den Chromstahletagen.

Und zwar handelt es sich um ein schlankes Projekt zur Verbesserung und Vermarktung von Tageszeitungen. Es ist fast gratis. Der organisatorische Aufwand ist klein. Es braucht eigentlich nur etwas Mut. Dafür bietet es mehrere Chancen: die Chance auf eine ehrgeizigere Qualitätsdebatte in der Redaktion. Und die Chance auf einen souveräneren Auftritt in der Welt. Und wer weiss, vielleicht verkauft es sogar Zeitungen.

Ausserdem ist es – so weit ich weiss – weltweit unerprobt. Der ersten Zeitung, die es wagt, winkt der Ruhm als Pionier.

Konfekt und Gift

Die Idee ist sehr einfach. Beim «Tages-Anzeiger» gibt es ein internes Dokument mit dem geheimnisvollen Namen «Job 25». Im Prinzip handelt es sich um eine abendliche Blattkritik, geschrieben von einem Mitglied der Chefredaktion.

Wenn man das File liest, ist die Reaktion immer die gleiche: Die Ermahnungen nimmt man äusserst ernst, aber vergisst sie sofort. Die einzigen Fehler, aus denen man lernt, sind die eigenen: Dann lernt man durch Schmerz.

Wirksam ist der Text vor allem als Lektüreempfehlung: Wird ein Artikel eines Kollegen gelobt, den man beim Morgenkaffee verpasste, liest man ihn nach. In der uralten Kinderhoffnung auf ein Stück Konfekt.

Wurde ein Artikel besonders verrissen, liest man ihn auch. In der uralten Kinderhoffnung auf ein spektakuläres Unglück. Und um zu sehen, ob das Ding wirklich so grottenschlecht war, wie die Chefetage glaubt.

Die Idee wäre nun, das Ganze öffentlich zu tun.

Richter für eine Woche

Klar ist, dass man die interne Kritik nicht einfach freischalten kann. Die Chefredaktion würde bei Verrissen eigene Redaktoren öffentlich schwächen. Oder so diplomatisch schreiben, dass niemand die Sache mehr liest.

Die Kritik muss daher kommen, woher sie immer kommt: von aussen. Am praktischsten wäre: Dafür einen Chefredaktor für jeweils eine Woche zu ernennen. Dieser verpflichtet sich, täglich vor 9 Uhr morgens eine Blattkritik zu diesen drei Punkten online zu stellen:

  • Welche Artikel waren begeisternd? Warum?
  • Welche Artikel waren schrecklich? Warum?
  • Was fehlt?

Ausgewählt würde der Chef von Woche zu Woche zu je einem Drittel aus folgenden Pools: aus möglichen Kollegen, möglichen Opfern und möglichen Abonnenten. Infrage kommen also: Profis (befreundete und verfeindete Leute aus TV und Presse), Prominente (aus Politik, Industrie, Banken, Kultur, Kirche und anderen Gewerbezweigen), Leute aus dem erweiterten Kundenkreis (interessante Einwohner der Stadt, interessante Leserbriefschreiber, interessante Netzkommentatoren).

Die Wirkung

1. Selbstbewusstsein nach aussen. Sich kritisieren zu lassen, sogar die eigene Kritik zu suchen, ist ein starkes Zeichen für Souveränität. Nur wenige Präsidenten, Chefs, Könige haben das je gewagt. Aber es ist eine zeitgemässe Haltung. Und eine unvermeidliche: Schon allein, weil im Zeitalter des Netzes Kritik allgegenwärtig ist.

2. Debatte nach innen. Interne Kritik in Zeitungen ist fast immer zu friedlich. Warum? Man kennt sich gut. Man muss täglich zusammenarbeiten. Und macht selbst Fehler. Und vor allem: Jede Redaktion interessiert sich kaum für die aktuelle Ausgabe – nur für die morgige. Eine öffentliche Kritik hingegen ist schwerer zu ignorieren. Sie würde die Debatte befeuern – zu den zentralen Fragen, was ist gut, was schlimm und warum. Zugegeben: Meist mit dem Resultat, dass der Ein-Wochen-Chefredaktor ein Bastard ist. Aber Debatte ist Debatte. Und je mehr Feedback sie haben, desto ehrgeiziger schreiben Journalisten.

3. Verkaufsankurbelung. Diese funktioniert nicht nur darüber, dass die Zeitung diskutierter, also interessanter wird. Und einige Artikel mehr und genauer gelesen werden. Sondern vor allem darüber, dass jeder der 52 jährlichen Chefredaktoren seinen ganzen Bekanntenkreis mit der Zeitung in Kontakt bringt. Kritisiert etwa ein Industrieboss, so werden hunderte von Leuten seine Kritiken lesen müssen, schon allein, um herauszufinden, ob der Chef denkt. Und wenn ja, was.

4. Risiko: Das Risiko ist, eine Woche einen Langweiler oder einen Pitbull am Hals zu haben. Aber eine Woche Ärger ist überschaubar. Und vielleicht hat der Pitbull nicht nur herumgebissen, sondern sogar eine echte schwache Stelle entdeckt. Und auch für verletzte Eitelkeit gibt es einen Trost. Denn zumindest auf dem Buchmarkt gilt für harte Kritik das Gesetz: Brutal verrissene Bücher verkaufen sich fast so gut wie hoch gelobte. Hauptsache, man schreibt deinen Namen richtig.

5. Finanzen: Die Ein-Wochen-Chefredaktore dürfen keinesfalls als bestechlich gelten. Das hat für die Zeitung die erfreuliche Konsequenz, dass ein ernsthaftes Honorar entfällt. Zwei Flaschen Wein, ein Händedruck und ein Sie-waren-Chefredaktor-Diplom zur Erinnerung genügen.

So weit dieses Memorandum an alle Leser aus den Chromstahletagen: Versucht das.

First come, first served.


 

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15 Kommentare zu “Ein Mehrzweck-Tool für Zeitungen: Der Ein-Wochen-Chefredaktor”

  1. Richard Stretto sagt:

    «Es fast gratis.» Mag sein – es wäre aber sehr schade, wenn die erste Sparmassnahme ausgerechnet die Verben träfe…

  2. Manchmal sind die Kleinen so klein, dass man sie von Zürich aus nicht sieht 😉 Aber es gibt sie, die kleinen Lokalzeitungen. Und eine davon, die «Aroser Zeitung», hat seit August 2011 einen externen Blattkritiker. Denn um einen solchen handelt es sich de facto beim «Ein-Wochen-Chefredaktor».

    Der Chefredaktor eines nationalen Mediums kritisiert im «Rückspiegel» monatlich unsere lokale Wochenzeitung (wöchentlich wäre mit Kanonen auf Spatzen geschossen). Und die Redaktion freut sich auf die öffentliche Kritik eines kompetenten Journalisten.

    Beispiele: http://www.krz.ch/spiegel1 http://www.krz.ch/spiegel2

    • Constantin Seibt sagt:

      @ Arosa. Tja, da sitzt man in Zürich und denkt, man sagt was Neues, und wird aus den Bergen überrollt. So ging es Rudolf von Habsburg, so geht es mir. Congratulations.

  3. Heinrich Zihlmann sagt:

    Das Beispiel “Aroser Zeitung” finde ich sehr interessant, und es sollte eigentlich Schule machen – nicht zuletzt bei Tageszeitungen. Manch ein Journalist würde sich da vielleicht zweimal überlegen, was er schreibt.

  4. Mo sagt:

    In dem Städtchen, das in den letzten sieben Jahren zu meiner Heimat wurde, gibt es so etwas auch, bzw. gab es. Bis vor kurzem.

    Die örtliche Regionalzeitung http://www.ostsee-zeitung.de/ hatte ihren ganz eigenen Kritikblog von außen unter http://ostsee-zeitung-blog.blogspot.de/

    Alles andere ist eine Zumutung gewesen, der man sich jetzt wieder stellen muss.

    Passen

  5. Peter Lamm sagt:

    Ich finde die Zeitung solidarische.ch Montagszeitung sehr gut. Dort liest man Sachen, welche von den den Zeitungen ausgeblendet werden aber stimmen. Vielleicht sollten Sie dort einen Chefredaktor suchen.

  6. Tim Streber sagt:

    Habe diesen interessanten Artikel gemailt bekommen, nehmt doch Jakub Walczak als Redaktor von http://solidarische.ch obwohl nur einzelne Texte dort sind von ihm, wie er zum Tagi steht weiss ich nicht, abet ich weiss diese Leute haben eine grossen Ahnung über Medien. Ich habe gehört, dass sie alle Zeitungen elektronisch archivieren und sie vergleichen, sie prangern auch die Simultanität der Informationen in der Schweiz an. Ja, nehmt Walczak, das wird lustig.

  7. René sagt:

    Der Unbestechliche in allen Ehren, aber wer um 9 Uhr eine fundierte Kritik abliefern soll, muss zeitig aufstehen und auch wirklich arbeiten. Wer dafür nicht entlohnt wird, wird alles andere abliefern: Ein müder Schmusekurs, einen fremdfinanzierten (manipulativen) Beitrag, Selbstbeweihräucherung, ein haltloser Verriss, …

    Nein, wenn man ehrliche Kritik (im Guten wie auch im Schlechten) haben möchte, kommt man um eine ordentliche Entlohnung nicht herum.

  8. Dominique Krähenbühl sagt:

    Bei wem darf ich mich bewerben?

  9. miss piggy sagt:

    ich wollte ihnen ja nur helfen bei ihrem unmöglich schwierigen projekt…auch wenn meine kommentare formal unbedarft rüber kommen, sie sind super…nun, ich werde ihren blog in zukunft wieder ihren kollegen überlassen…ich habe sehr viel gelernt durch ihren blog, allerdings nicht, was intendiert gewesen ist und werde es wahrscheinlich auch in zukunft, dafür möchte ich ihnen ganz herzlich danken… in zukunft allerdings nur noch als passive leserin.. alles gute 😉

  10. Hannes von Wyl sagt:

    “Kritisiert etwa ein Industrieboss, so werden hunderte von Leuten seine Kritiken lesen müssen, schon allein, um herauszufinden, ob der Chef denkt. Und wenn ja, was.” Wundervoll!

  11. Gloria sagt:

    Und noch etwas mit Verlaub. Ich spiele hier jetzt mal die externe Chefin von Seibt. 🙂 Zitat: “Tja, da sitzt man in Zürich und denkt, man sagt was Neues.” Ja, das habe ich auch schon gedacht, als ich hier herum gesurft bin: Wann bringt der eigentlich wieder etwas Neues? Ist das hier wirklich alles, was vom Journalismus übrig bleibt? Die tote Linie? Soll das tatsächlich unsere Zukunft sein?Und die Suite im Bellevue ist auch futsch. Herr Seibt, was meinen Sie, wollen wir nicht lieber ein Hotel aufmachen?

  12. Gerda Schuurman sagt:

    Gute Idee. Es ist bereits zu sehen wie die Seiten der Lesermeinungen, Blogs – und Briefe immer grössere Beachtung finden. Zeitungsmenschen und Politici sind schon recht, aber sie sind immer (über Jahre und Jahre hinweg) die gleichen mit einer immer mehr festgefahrene Meinung oder Ansicht.

  13. ralph kocher sagt:

    Das wäre wirklich ein Spass! Alles Konspirative (die nicht trendigen Sichtweisen) zuerst. Ansonsten man dauernd ja nur geschnitten wird…!