William Gladstone, Führer der Liberalen Partei und Premierminister im viktorianischen England, war ein strenger Moralist. Seine Antrittsvisite bei der Königin nutzte er, um ihr in einer langen Rede seine Royalismus-Prinzipien bekannt zu geben. Dann, bei den wöchentlichen Briefings, hielt er endlose Monologe über wirtschaftliche Fakten und politische Zusammenhänge.
Der Chef der Konservativen und Nachfolger Gladstones, Benjamin Disraeli, dagegen schmeichelte Königin Viktoria von Beginn weg. Er parlierte über ihre Schönheit, erklärte seine Ideen als die ihren und berichtete über Politik und Parlament mit Charakterisierungen wie folgender: «Seiner Statur nach misst mein neuer Minister sechs Fuss und vier Zoll; wie bei St. Peter in Rom ist sich seiner Dimensionen auf den ersten Blick niemand bewusst. Doch er hat nicht nur die Ausmasse, sondern auch den Scharfsinn eines Elefanten.»
Das Resultat war absehbar: Die Queen hasste Gladstone, neben dem sie sich dumm und langweilig fühlte. Vom charmanten Disraeli hingegen schwärmte sie wie ein Backfisch. Und gewann so erneut Interesse an der Politik. Die Folge: Das britische Weltreich blühte auf.
Die Moral daraus? Niemand schätzt Intelligenz, Informationen oder Ideen, solange sie ohne Verführung serviert werden. Trotzdem wimmelt es weiterhin von Gladstones: in der Politik, der Wirtschaft, der Universität, sogar in der Medienbranche. Die Gladstones der Gegenwart versuchen noch immer, den Willen der Leserschaft mit Fakten, Meinungen und Moral zu brechen. (Zwar kommt die Moral heute kaum mehr mit Kreuz, Kanzel und Soutane daher. Sondern meist im Kleid von Power-Point-Präsentationen. Dort betreibt sie dann Marketingkonzepte, Vollkostenrechnungen und andere Bibelexegesen.) Dabei besteht der Journalistenjob eigentlich darin, Leserinnen und Leser wie Königinnen zu verführen. Und zwar unter Berücksichtigung ein paar simpler Ideen:
1. Menschen hassen es, sich dumm zu fühlen. Ob durch überlegene Faktenkenntnis oder – in den Zeitungen von heute die weit häufigere Variante – durch routinierte Anbiederung. Das Publikum wagt zwar in beiden Fällen nicht zu widersprechen, wird sich aber bei der ersten Gelegenheit rächen. Zumindest durch Desinteresse. Wer aber etwas riskiert, wird geliebt oder zumindest respektiert. Ladies and Gentlemen! Wagen Sie in Ihren Artikeln Farbe, Frechheit, Zweifel und offene Schlüsse!
2. Menschen wollen keine Parade von Fakten, sie wollen Geschichten. Der Norm der Polit- und Wirtschaftsberichterstattung mangelt es jedoch an den Vorzügen, die sogar der banalste Bastei-Lübbe-Roman beherrscht: die fesselnde Schilderung von Schauplätzen, Verwicklungen und Handelnden aus Fleisch und Blut, inklusive ihrer früheren Abenteuer. Viel zu oft haben Storys aus den Zentren der Macht die Ausstrahlung von Aktenordnern.
3. Menschen verabscheuen neue Ideen. Ausser die eigenen. Persönlich wie schriftlich ist es entsprechend das Wirksamste, die eigenen Einfälle (oder Interessen) dem Gegenüber, also dem Chef, Kollegen oder Leser, zuzuschreiben. Und gute Ideen nie neu und ungeschützt in eine Sitzung bringen, sondern sie vorher herumerzählen, dass man sie kennt.
4. Das wirksamste Mittel der Verführung ist das Zuhören. Eine englische Prinzessin bemerkte einmal: «Nach dem Essen, das ich an der Seite von Mister Gladstone verbrachte, dachte ich, er sei der klügste Mann Englands. Doch nachdem ich neben Mr. Disraeli gesessen habe, denke ich, ich bin die klügste Frau von England.» In der Tat verlieben wir uns praktisch nie in brillante Menschen, wir bewundern sie nur. Aber verlieben tun wir uns in Menschen, in deren Gegenwart wir brillant sind. Oder uns wenigstens so fühlen. Wenn wir es schaffen, Leuten ernsthaft zuzuhören, werden sie uns mögen: verführt durch den Klang der eigenen Stimme.
Und nebenbei gesagt: Das Mass für die Brillanz eines Chefs – gerade in der Medienindustrie – ist nicht dessen persönliche Eindrücklichkeit, sondern die Brillanz seiner Untergebenen.
Damit, verehrte Dame, verehrter Herr, genug für heute. Der Rest ist Ihre Geschichte.
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Warum nochmal nennt er ES Deadline? Ist dies die Trennlinie zwischen “entweder man schreibt für sich oder man schreibt für die anderen”…? Sind auch “Zwitter” DIE Sünde wert?
Ihrer Schilderung zufolge scheint Disraeli ein Schleimer gewesen zu sein. Sie haben in der Tat recht, wenn Sie sagen, dass diese Leute beliebter sind und weiter kommen als offene und ehrliche Menschen. Aus moralischer Sicht ist das jedoch verwerflich. Es zeugt überdies von der Dummheit vieler Menschen, die keine klügeren Köpfe neben sich ertragen können. Angestellte, die Karriere machen wollen, sollten sich ihren Vorgesetzten gegenüber wie Disraeli verhalten.
Geehrter Herr Müller, Sie irren. Disraeli war auch der Mann, der sagte: “Gnade Gott jeder Regierung ohne fürchterliche Opposition.” Charme ist nicht der Gegensatz zur Klarheit. Offenheit kein Freipass für Grobheit oder Langweilerei. Wer einen Standpunkt hat, muss diesen nicht so angestrengt betonen. Er kann sich dann Freundlichkeit, Kompromisse, Taktik leisten. Grade aus Souveränität.
@ Seibt: Ein guter Artikel. In diesem Zusammenhang hatte ich vor kurzem eine Diskussion mit einem befreundeten Journalisten. Ich war der Meinung, Online-Zeitungen (auch kostenpflichtige) sollten vermehrt auf Flattr setzen, um guten Journalismus zu fördern. Aus meiner Sicht würde das die Macht der Redaktoren und des Managements innerhalb der Medienhäuser ein wenig brechen, und Journalisten wären freier und könnten besser auf die Informationsbedürfnisse der Leser eingehen. Einverstanden?
Eigentlich nein. Flattr ist eine sympathische Idee. Mit der richtigen Richtung. Aber ich zweifle doch sehr, dass der kleine grüne Münzenhut unter dem Artikel als Geschäftsgrundlage genügt. Schon gar nicht für grössere Nachrichtenorganisationen. Als Ergänzung ist es cool, mehr nicht.
Es wäre v.a. wichtig für Flattr, das sich für kleine Projekte schon bewährt hat, aber immer noch zu wenig Verbreitung hat. D.h. der TA könnte mit wenig Aufwand viel helfen. (Und u.a. auch zur Akzeptanz und Bekanntheit von Micropayments und Pay-After-Read beitragen.)
Brillant wäre gewesen, wenn die/der Schreiberin des Teasers (offenbar nicht der Autor) das Wort “Brillanz” gekannt hätte.
Danke für den Hinweis. Der Schreiber des Teasers.
Oh, jemand mit Humor!
Braucht man auch, im Kreuzfeuer der geehrten Kundschaft!
Noch selten habe ich einen so brilliant formulierten Text gelesen, wie den hier aus aus den Federn dieses genialen jungen Schreibers.
Aber Spass beiseite, viele Menschen erreichen sie tatsächlich nicht mit harten Fakten und guten Ideen, sondern mit Verführung.
Allerdings zeichnet es den fähigen Chef, den intelligenten Leser, und den wahren Freund aus, sich nicht durch Schmeichelein beiendrucken zu lassen, sondern ihre Ehrlichkeit zu lieben.
Sind sie also kein Politiker, sondern jemand der von fähigen, intelligenten und ehrlichen Menschen umgeben sein will, schreiben sie ungeschminkt.
Es ist immerhin ein sehr wesentlicher Unterschied, ob man mündige Bürger überzeugt (‘verführen gefällt mir im vorliegenden Zusammenhang nicht sehr) oder eine Monarchin mit damals noch sehr grosser Entscheidungsfreiheit.
Einer der brillantesten Beiträge in dieser Zeitung und erst noch gegenüber dem Leser überzeugend im Sinne der Kommunikation zwischen Disraeli und Queen Victoria. Es wundert wohl auch nicht, dass unter diesen Gesichtspunkten der phantasievolle und grandios empathische 300-jährige Genfer Jean-Jacques Rousseau ein viel lieber gelesener philosophischer Schriftsteller geworden ist als systematisch argumentierende Rechthaber wie Kant, Fichte, Hegel, Marx und Karl Popper. Letzterer war wohl einer der besten Denker aller Zeiten, aber auch Weltmeister darin, Andersdenkende als Dummköpfe hinzustellen.
Unter ‘Meta’ steht Anmelden ( WP-Login). Ich denke, das ist nicht als öffentlich sichtbares Element gedacht.
@admin Martha Meister 13:31 14:27 bitte löschen, die Verführung des Philantropen Disraeli steht in keiner Relation zu der Verführungskunst von Talleyrand. Wir wollen doch den grauen Männern keine Argumente frei Haus liefern für ihr zwanghaftes, unreflektiertes, schädliches Verhalten, an diesem bemerkenswerten Tag des Frühlingserwachens.
🙂
Ein wirklich schöner Artikel. Anschaulich, prägnant, auf den Punkt. (Ohne Anbiederung hier.)
1. Wenn Menschen es hassen sich dumm zu fühlen, sollten sie alles daran setzen sich intelligenter zu machen! Weshalb tuns sies nicht? Statt selber zu schreiben, lässt man für sich schreiben. Statt ganze Bücher zu lesen, liest man Zusammenfassungen etc etc. Es ist noch nie soviel akademisch beschissen worden wie heute.
2. Es gibt nichts erregenderes, als einem genialen Menschen zuhören zu können. Wir sind auf der Welt um zu lernen, nicht um unsere schäbige Unvollkommenheit feiern zu lassen.
3. Mephisto ist der Meister des schalen Verführens. Man folge ihm ausgelassen und eitel ins Verderben
Der Artikel fasziniert. Er nutzt das Belehren ohne Geschichte, um zu lehren, dass Geschichten erfolgreicher sind als das Belehren. Und wird gelobt. Für die Botschaft der Entschlüsselung dessen, was bekannt ist und damit keiner Entschlüsselung bedarf – und stellt damit in Frage, was die Schlussfolgerung selber ist. War es Absicht, so ist es brilliant, ist es Zufall, so ist es menschlich.
Wenn man den Leser verführen will, dann sollte man sich schon im Voraus klar sein, welche Leserschaft man verführen will, weil ganz unterschiedliche Taktiken erforderlich sind.
Ich habe im Folgenden mal drei wichtige Kategorien etwas näher beleuchtet.
In der Welt der Brillanz ist jene Menschenbeute beheimatet, welcher der Glanz wichtig ist, welches das Produkt verbreitet oder dessen Vertreter.
Dabei kommt es nur auf den Glanz an, es darf auch ein Furz sein, wenn er nur glänzt. Dieses Beutesegment ist sehr gross, weil wir ja bekanntlich in der Welt des schönen Scheins leben.
Ich könnte mir vorstellen, dass Jeff Koons ein bewusster Virtuose ist in diesem Verführungsgebiet, kenne das Werk allerdings zu wenig, um abschliessend urteilen zu können.
Dann gibt es da noch die Welt der Perfektionisten.
Solche für sich zu gewinnen ist das Schwierigste überhaupt, weil man dazu Perfektion bringen muss, oder wenigstens sich ernsthaft darum bemühen muss.
Da führt kein Weg daran vorbei, es ist der einzige Weg. Das Produkt darf glänzen, aber es darf genau so gut matt vor sich her stumpfen oder stumpf vor sich her matten- ich darf das :-).
Perfektionisten haben oftmals ein grosses Problem, wenn sie sich in der grossen weiten Welt behaupten müssen, weil diese Gruppe relativ klein ist, und sie sich selten um die Kultivierung von Glanz bemüht haben.
Trotzdem darf man sie nicht ganz ignorieren, weil sie Schlüsselstellen besetzen-irgendjemand muss ja wirklich was vom Fach verstehen.
Eine herausragende Vertreterin dieser Gattung war La Callas. Sie war Perfektionistin ad extremum, und sie sang auch nur für die von mir mal aus dem Bauch heraus geschätzten 0,05 Prozent Publikum, welche so dachten wie sie. Das war kein Publikum im eigentlichen Sinne, es war ein Tribunal, eine Deadline.
„ Sie hocken da und lauern darauf, dass ich einen Fehler mache „
umgekehrt kannte sie auch keine Gnade, so weigerte sie sich mit einem Sänger weiter zu singen, welcher die Stufe vom „hohen“ h zum „hohen c“ nur zu 2/3 mit seiner Stimme erklommen hatte.
So dürfte man auch leicht verstehen, warum La Callas berüchtigt dafür war, kurzfristig Konzerte abzublasen, wenn sie stimmlich nicht auf der Höhe war.
Stichwort: Der Kunst und dem Kunstwerk dienen.
Und dann gibt es noch eine dritte wichtige Gruppe von Publikum.
Ein herausragender Künstler dieser Sparte war der Konzertpianist Arthur Rubinstein.
Rubinstein war es egal, wenn er ab und zu Noten verhaute, und auch das Stück war eigentlich gleichgültig.
Sein Publikum liebte ihn und er liebte sein Publikum.
Das Stück und das Spielen war nur ein Medium.
Es ging um Energie und um Austausch, um das Bewegen von Energie, Freude, die wechselseitige Befruchtung von Künstler und Publikum.
Das erzeugen von Magie über das Medium Klavier.
Und in der Art sehe ich auch die Beziehung von Disraeli und Victoria, die Beglückung und das Blühen waren wechselseitig.
Erratum: Talleyrand war noch ein grösserer Verführer als Disraeli im gleichen Genre. Seine Wirkung war nicht so Philanthtopisch wie die von Talleyrand, weil er es nicht nur mit einer “kindischen” Königin zu tun hatte, sondern mit wirklich “bösen grossen” Buben.
Talleyrand war wahrscheinlich einer der grössten Schauspieler, welche die Weltbühne in den letzten Jahrhunderten gesehen hat.:-)
Aaaaaah, ich tue mich schwer mit diesem Artikel. Obwohl inhaltlich korrekt, sehe ich in dem Beitrag den Versuch eine Erklärung für die Manipulationen in der Politik etc. zu geben und diese ist natürlich positiv. Stellen wir uns doch einmal vor, wie viele Menschen es gibt die tolle Geschichten erzählen können, aber keine Ahnung haben was sie eigentlich sagen oder nur für ihr eigenes Wohl manipulieren… (Hitler, Lenin, Mao…) Blender gehören nämlich meiner Meinung nach zu der gefährlichsten Gruppe Menschen… Eine rein rhetorische Frage: War Disraeli wirklich ein Genie oder ein Blender?
alles sehr interessant nachzulesen im Buch von Richard Aldous, Lion and the Unicorn, Verlag Laurele Pimlico…
Übrigens gehört den Nachkommen von Gladstone immer noch viele Häuser und Felder im Dorf Hawarden in der Nähe von Chester,,,,,unter Anderem…. und die seinerzeit von Gladstone begündete Bibliothek Stz. Deiniols ist immer noch in regem Betrieb
Vorsichtig gesagt, interessante Hypothesen, die Du aufstellst. Direkt gesagt, kurzgreifende Behauptungen.
Ich mag ja nicht “Menschen” sein, aber da ich Intelligenz mag, ganz ohne Verpackung, trifft das ‘niemand’ sicher nicht zu. Ich behaupte sogar ganz im Gegenteil, wahre Intelligenz braucht keine Anpreisung, keinen Verkauf, und ja, auch keine Verführung. Zumal es durchaus Menschen gibt, die auf Verführung nicht reagieren. Und sonst: Intelligenz und Wissen sind nicht das gleiche (Hyp. 1). Differenzierung wäre gefragt. Nur neue Idee sind interessant (Hyp. 3).
Ach ja, und Hypothese 4: Gewisse Menschen brauchen vielleicht den Applaus von aussen, um sich gut zu fühlen, und sich vielleicht nur in dem von Dir beschriebenen Fall verlieben. Es gibt aber auch die anderen, die die Herausforderung suchen, die sich nur in brilliante Menschen verlieben – oder die sie zumindest dafür halten, ob in einem Zustand geistiger Umnachtung oder nicht sei dahingestellt – und die anhimmelnde Menschen extrem langweilig und abtörnend finden.
Mag ja, dass Du mit Deinem Rezept gewisse Menschen erreichst. Fragt sich, was für Menschen erreicht werden sollen.
Ach Eliane, dabei sage ich in dem Text oben nichts anderes als: 1. Sei farbig. 2. Sei freundlich. 3. Sei klar. 4. Hör zu,
Ok, ich sags mit etwas bengalischer Beleuchtung, aber so giftmischerisch ist das Rezept auch nicht, von Nahem besehen, oder?
Sollen wir daraus schliessen, dass Journalisten ihre Leser als geistig leicht beschränkt und faktenresistent einschätzen?
Ich habe bisher immer gemeint, es sei umgekehrt! Mir kam es immer so vor, als seien Journalisten in der Sache ahnungslos, unwissend was die wissenschaftlichen Zusammenhänge angeht und dafür umso grosspuriger im politischen “agenda setting”, –der Meinungsmache und der Manipulation der politschen Prozesse also.