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Der 2/3-Trick – oder: Die Tragödie malender Ärzte in der Toskana

Constantin Seibt am Montag den 21. Mai 2012

Etwas vom Brauchbarsten beim Schreiben lernte ich schlecht gelaunt, bei der Betrachtung von Gemälden und in Begleitung meiner Mutter.

Das erste Mal war ich noch ein Kind, das an der Hand durch eine Cézanne-Ausstellung gezogen wurde. Es waren ausschliesslich Stillleben: Schalen, Teller, Früchte. Ich erinnere mich noch an den hellen Klang in der Stimme meiner Mutter, als sie sagte, dass das Grossartige an diesen Bildern das Weiss sei. Dass Cézanne einige Stücke der Leinwand frei gelassen habe.

Und ich weiss noch, dass ich dachte: Wie? Dafür? Dass er es nicht fertig gemalt hat? Dass Cézanne etwas nicht getan hat, dafür wird er berühmt?

Und weil man alles aus der Kindheit vergisst, ausser die Rätsel, erinnerte ich mich daran.

Das nächste Mal war ich 17 und noch schlechter gelaunt. Meine Mutter hatte mich und meinen Bruder zu einer Malwoche in die Toskana mitgenommen. Es gefiel mir nicht. Aus irgendeinem Grund waren vor allem österreichische Ärzte in der Midlifecrisis in dem Kurs. Und der Kursleiter mit den ergrauten Künstlerlocken hielt mich für schwul, weil ich Klaus Mann las.

Kurz: Ich war verärgert, eingesperrt und gelangweilt. Und bereit, sämtliche Fehler anderer zu entdecken. Und ich entdeckte sie. In den langen Stunden, in denen ich meistens untätig im Atelier herumlungerte, sah ich den österreichischen Ärzten zu, die wie besessen malten. Und erstaunlich, gegen ein Drittel des Bilds hin, fing es an, erstes Leben zu bekommen. Nach zwei Dritteln fing es an, interessant zu werden. Und dann malten die Ärzte weiter. Und am Ende war das Bild tot. Immer. Jedes. Einzelne. Bild.

Warum? fragte ich mich und kam darauf: Die Ärzte hatten, während sie malten, nicht auf die Leinwand gesehen. Sie hatten einfach den ursprünglichen Plan durchgezogen.

Seither mache ich beim Malen nach zwei Drittel eine Pause. Und sehe mir das Bild genau an: Und zwar mit der Frage, wohin das Bild will. Und nicht, wohin ich will.

Und wenn ich ein Liebespaar malen will, aber die Farben sind etwas zu grell und die Gesichter etwas zu hart geworden, dann mache ich daraus ein eifersüchtiges Paar. Es ist das stärkere Bild.

So ging es mir später beim Schreiben. Es ist fast immer gut, nach zwei Dritteln eines Textes einen Stopp zu machen. Die Sache noch einmal genau zu lesen und zu sehen, was der Text will. Und dann das Schlussdrittel so zu schreiben, dass er zu Schwung und Stoff des Anfangs passt. Egal, was der Plan war.

Nicht selten geht dabei ein Teil der geplanten Information über Bord. Und die geplante Schlusspointe mit.

Und etwas Gespenstisches geschieht: Erstaunlich oft ändern sich dadurch Ton, Architektur, ja das Ziel des Texts. Ein kühl geplanter Verriss wird zu einer melancholischen Beschreibung eines Scheiterns. (Und umgekehrt.) Die Beschreibung einer Person wird zur Beschreibung ihrer Zeit oder ihres Berufs. (Und umgekehrt.) Respekt kippt in Ironie, Ironie ins Sachliche, Sachliches verschnörkelt sich. (Und umgekehrt.)

Das Resultat ist immer: ein wesentlich stärkerer Text. Nur nicht der, den man anfangs wollte.

Natürlich kann man einwenden, dass hier ein schlechter Handwerker von seinem schlechten Handwerk fortgerissen wird. So wie ein betrunkener Schreiner, der einem Tisch versehentlich die Beine absägt und ihn als Tür verkauft. Aber ehrlich gesagt, ich glaube das nicht. Warum sollte der ursprüngliche Plan besser, aufrichtiger, gerechter sein als das Ding, das da gerade auf dem Schreibtisch wuchert? Handwerk als reine Planerfüllung zu betrachten heisst, es zu unterschätzen. Schreiben ist nicht Aufschreiben. Es ist eine Brille. Durch die man schärfer sieht, was man wirklich denkt. Oder das, was man möglichweise auch denken könnte. (Dann hat die Brille grüne Gläser.)

Und falls man am Tag danach nicht mit dem einverstanden ist, was man unter seinem Namen geschrieben hat, kann man als Journalist gnädigerweise in der Woche darauf das Gegenteil schreiben. Das Publikum hat ein schlechtes Gedächtnis. Niemand wird es merken.

Aber das ist, was mir am Schreiben gefällt: Seltsamerweise führt in diesem Beruf nicht das Durchziehen eines Plans zu einem konsequenten Produkt, sondern das zwischenzeitliche Zögern, das Hinhören und das Folgen.

Denn alles ist im Fluss bis zum Ende. Das habe ich schlecht gelaunt von meiner Mutter gelernt an einem langen Nachmittag und in einer langen Woche und ich bin ihr dankbar dafür.

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22 Kommentare zu “Der 2/3-Trick – oder: Die Tragödie malender Ärzte in der Toskana”

  1. Konrad Walser sagt:

    Wunderbarer Text, wunderbares Erkennen, genau so ist es … und noch schöner ist, dass das hier Geschilderte nicht “nur” aus der Perspektive des Schreibens sondern multiperspektivisch entwickelt wird. “Vom allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Schreiben” … wer hat das schon wieder gesagt … es ist die reine Wahrheit. Congratulations.

    • Marianne Benteli sagt:

      Ja, tatsächlich der beste Text, den ich seit langem zum Thema Schreiben oder Malen gelesen habe! Mut zum Weglassen, damit der Leser oder Betrachter die weissen Flächen mit eigenen Gedanken füllen kann. Und bei 2/3 des “Werks” eine “kreative Pause” einlegen, um sich zu fragen, ob es wirklich noch mehr braucht. Ob man die ersten 2/3 nicht so weit kondensieren könnte, dass das dritte Drittel gar nicht mehr nötig ist. Und ob man genügend weisse Fläche gelassen hat… siehe oben. Danke für diesen wunderbaren Text!

  2. b.steinmann sagt:

    danke für den tipp mit den 2/3. bisher habe ich erst den rat befolgt, am ende des textes den ersten abschnitt zu streichen… war ebenso nützlich.

  3. Sehr gut beschrieben, wie die Pinselstriche Zeit und Raum benötigen, damit ein Bild nicht schief hängt. Eigentlich ist Schreiben wie das Leben oder umgekehrt. Manchmal innehalten, einen Strich ausradieren, einen neuen, feineren ziehen, darüber schlafen, und wenn’s gut geht, am Morgen das Bild rahmen, ist erleuchtender, als im Blitzlichtgewitter Falten zu zählen und darob ausser Atem zu geraten.

  4. Michael Brunner sagt:

    @Walser

    Es war Kleist, und er titelte: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

  5. Rolf Schumacher sagt:

    Das Publikum hat ein schlechtes Gedächtnis, niemand wird es merken! Diesen einen lakonisch, zynisch hingeworfenen Satz, dieser harmlos klingende Wortfolge ist von horriblem, mephistohaftem Inhalt. Die Zeit lässt gestern Geschriebenes heute vergessen? Der Eugeniker von gestern (Julian Huxley) wird WWF-Präsident, ohne für seine eugenischen Aufsätze bestraft zu werden. Der Buchhalter im KZ, welcher seine Todesstatistik durch die eugenischen Schriften legitimiert sah, kann nach dem Krieg problemlos als Prokurist einer Bank weiterschreiben. Seine Gulag/KZ-Schriften sind vergessen!

  6. Rolf Schumacher sagt:

    Es gibt keinen Menschen der Welt, der eine grössere Verantwortung hat, als der der die Welt in Wort und Zahl festzuhalten wagt. a) Damit er schreiben kann, muss er zuerst alles töten. Er presst und zwängt das unendlich Lebendige zwischen Zahlen und Buchstaben, wo es einen unmenschlichen Erstickungstod erleidet.
    b) werden Texte und Zahlenreihen oft für schreckliche Dinge missbraucht. Könnte der Mensch nicht schreiben und rechnen. Gäbe es den Fundamentalismus und die rasenden Ideologen genauso wenig, wie deren Massenvernichtungswaffen.
    Schreiben ist brandgefährlich und fordert Zurückhaltung.

  7. Rolf Schumacher sagt:

    Ich warte auf Freischaltung, das sollte ja in einer Welt der freien Meinungsäusserung eine Selbstverständlichkeit sein. PS: Wenn jeder für sein Schreiben die volle Verantwortung übernehmen würde, dann bräuchte es gar keine Zensur. Wenn Schreiben nicht einfach ein manipulatives Spiel ist, sondern tierischer Ernst, dann muss nichts ausgeblendet sein. Der Schreiber weiss, dass er sich mit seinem Schreiben ans Kreuz der Gesellschaft nagelt. Jeder Kritiker schlägt einen ewigen Nagel ein, egal ob es sich um einen Verriss oder triefende Lobhudelei handelt.

  8. Richi sagt:

    Geben Sie doch bitte den Text auch dem Herrn vom Stadtblog zu lesen…

  9. wolfgang staub sagt:

    Gilt auch für das Leben…

    • Constantin Seibt sagt:

      … nur dass das Leben nicht liest. Sondern nur schreibt.

      • Martha Meister sagt:

        Herr Seibt, haben Sie das gut überlegt, das Leben schreibt nur ? Da das Leben im herkömmlichen Sinne weder liest noch schreibt, muss man diese Begriffe weiter fassen. Es ist nicht einfach zu beantworten und ich komme auf einen ganz anderen Schluss als Sie. 😉

  10. Martha Meister sagt:

    Dieser Text erinnert mich an eine ähnliche Geschichte aus meiner Jugend.
    Ja, dank Herrn Seibt hat sie sich vom Boden des Trivialen erhoben und schwebt.
    Ich finde, sie zeigt wichtige ergänzende Aspekte zum Text von Herrn Seibt auf, deshalb erlaube ich mir, sie ausführlich zu erzählen.
    Ich war in einem Haus zum Kinderhüten geladen. Die Eltern sammelten leidenschaftlich Bilder von Künstlern aus ihrer Heimat irgendwo in Ex Jugoslawien. Ueberall im Haus hingen sie.
    Die Mutter wollte unbedingt wissen, welches Bild mir am Besten gefiele. Da ihre Sammlung sie mit ihrer Heimat verband, und ich den Wert vor allem in den dazugehörigen Assoziationen ausmachen konnte, welche mir fehlten, brachte ich es nicht übers Herz zu sagen, dass mir keines richtig gefiele. Zum Glück stach mir dann doch noch eines ins Auge, von dem ich guten Gewissens sagen konnte, das gefällt mir.
    Die Dame des Hauses wollte wissen, warum. Es handelte sich um ein Stilleben und die Frau wollte wissen, was mir daran am meisten gefiel.
    Rechts unten war eine grosse weisse Fläche, welche sich im Aufbau befand, erkenntlich an den schwarzen Konstruktionsstrichen in ihrem Innern. Und darin war auch eine schwarze Skulptur gemalt, welche beinahe schon fertig war.
    Wenn ich mich versuche daran zu erinnern, was die Skulptur darstellte, dann taucht vor meinem geistigen Auge eine schwarze Fruchtbarkeitsgöttin mit riesigen Brüsten auf – Stil Venus von Willendorf-, welche sich im Sekundentakt abwechselt mit Chandlers Malteser Falken aus dem Humphrey Bogart Film. Aber ich bin mir sicher, es war weder noch.
    Die weisse Fläche erinnerte mich jedenfalls an die YANG Hälfte des YIN und YANG Symboles, und das gefiel mir .
    Die Hausherrin erklärte mir, das Bild sei nicht fertig, der Künstler beharre darauf, das Bild sei nicht fertig.
    Ich weiss nicht mehr, was ich geantwortet habe, aber die Frau war ganz begeistert.
    Und sie sagte strahlend: Ja! Ja!! Ja!!! Dieser Maler sei sehr bekannt in ihrer Heimat. Aber er sei auch bekannt dafür, dass er seine Bilder kaputt male.
    Die Kunden würden in sein Atelier gehen und zuschauen, wie das Bild entsteht und irgendwann sei der Moment da, wo es ihnen-aus ihrer Sicht- schön genug ist, und dann müssen sie mit jedem weiteren Besuch mit ansehen, wie das Bild immer mehr an Schönheit verliert, bis der Künstler endlich ein Erbarmen zeigt und sein Zerstörungswerk beendet, sprich, das Werk für vollendet erklärt.
    Die Frau erklärte, Sammler dieses Malers wollten von ihnen vorallem wissen, wie es ihnen gelungen ist, dieses Bild in seiner so völlig untypischen Unzerstörtheit zu bekommen:
    Ihr Gemahl, ein grosser, athletischer Mann, sei ins Atelier gegangen, sah dieses Bild auf der Staffelei und entschied: Das Bild nehme ich jetzt mit.
    Der Maler sagte, er könne es in zwei Wochen abholen, der Mann sagte, jetzt.
    Der Maler, der sich nicht vorstellen konnte, dass jemand ein unfertiges Bild kaufen will, kam ihm entgegen in der Zeit, er hob an zu feilschen um den Zeitpunkt für die Deadline- um in der Terminologie dieses Blogs zu schreiben .
    Aber der Mann wollte es jetzt.
    Mit Chandlerscher Brachialität hob er das Bild von der Staffelei und trug es davon
    unter dem Zetern des Künstlers. Für den Künstler war der Gedanke schier unerträglich, dass irgendwo in der Welt ausserhalb seines Atelier ein unfertiges Bild von ihm hängt.
    Und was würden jetzt wohl die Leute denken von ihm,
    als einem Künstler, der unfertige Bilder verkauft.
    Und so ist eine alte verstaubte Geschichte dank Herrn Seibt in neuem, nie gekannten Glanz aus der Rumpelkammer meiner Erinnerungen entstiegen.

    • Konrad Walser sagt:

      Wunderbar … wie wahr … und es gilt auch: Si non e vero e ben trovato!

      Eine Wonne, diese Kommentare in der Rückschau zu lesen … selten dankbar für sowas in der Schweizer Presselandschaft …

  11. Martha Meister sagt:

    Der 2/ 3 Trick, und dann ist ein 1/ 3 Stilleben abgebildet. Dieses 2/ 3 sticht aus dem Text heraus wie ein Initial in den alten Handschriften der Klosterbrüder, ist aber im Gegensatz dazu potthässlich. Aber da muss die sensible Leserin wohl durch. Vielleicht die mathematische Formulierung einer Deadline. 2 als Symbol für das Diesseitige, die Spannung zwischen zwei Polen, dann kommt die Deadline, und dann kommt das Jenseitige, die 3.;-)

  12. Richard Stretto sagt:

    Wie heisst es doch so schön – Planung ist das Ersetzen des Zufalls durch den Irrtum…

  13. Martha Meister sagt:

    Erratum, der Malteser Falke ist von Dashiell Hammet.

  14. Yasha Bostic sagt:

    Die WOZ hat in Ihrer Online-Ausgabe die Möglichkeit eingeführt, per Handyabrechnung einen Beitrag für gelesenes zu entrichten. Finde ich toll, würde auch gern für diesen Blog etwas löhnen. Qualitätsjournalismus muss sich lohnen.

    • Hans Kernhaus sagt:

      … da würde ich auch mein Scherflein entrichten. Aber nur als “Autorentrinkgeld” für Herrn Seibt. Ich möchte ja nicht die Erben Coninx noch reicher machen. Autorentrinkgeld wäre ohnehin keine schlechte Idee — allerdings vielleicht fast noch heikler als Parteienfinanzierung, wenn man sie zu Ende denkt.

      • Constantin Seibt sagt:

        Ja, hau, es wäre schon eine scharmante Idee, so su schreiben, dass man nachher auffn Kostn vomm Leser einen heben kann. Oder swei. Otter trei! Das einzige Problem dabei, man würde vom Leser abhängig werden. Und der ist zwar geschätzter Kunde, aber nicht König. Man muss auch von Zeit zu Zeit dem Leser auf den Latz gehen können, falls notwendig. (So wie es umgekehrt auch vorkommen soll.)

        • Hans Kernhaus sagt:

          Naja, wenn man vom Trinkgeld abhängig ist, stimmt das. Es wirft aber Fragen der Einstellung auf. Der Einstellung zum Geld oder zum Trinken.
          Ein ernsteres Thema: Mich deucht — gemessen an den Leserreaktionen — dass dieser Blog noch nicht die ihm gebührende überragende Beachtung gefunden hat. Ein bisschen Promotion würde gut tun. Vielleicht sollte (wie bei der “FAZ”) gleich auf der Startseite eine Rubrik “Blogs” zur Verfügung stehen. Die Gemeinschaft der Blogger könnte hier mal ein wenig lobbyieren. Die Alternative wäre, im Titel jeweils unabhängig vom Thema das Wort “SVP” zu benutzen.

  15. Hans Kernhaus sagt:

    Nach Literatur und Malerei noch der gleiche Gedanke im Film: Fellini war es, glaube ich, der sinngemäss gesagt hat: “Wenn die Amerikaner eine Szene drehen müssen, bei welcher ein Panzer in eine Stadt fährt, und es springt bei der Aufnahme auf dem Set ein Hund dazwischen, dann drehen sie die Szene noch einmal. Bei mir wird sie zur “Hunde-Szene””.
    Die Kunst ist, zu begreifen, dass der Hund “passt” (im Gegensatz etwa zu einer Blondine), bzw. der Geschichte etwas gibt — vielleicht sogar eine leicht andere Richtung. Hier liegt auch der Unterschied zum liederlichen Handwerker und seinem Tisch.