Rein theoretisch bin ich ein schneller Schreiber. Die meisten Artikel, auch längere Fetzen, habe ich in wenigen Stunden herausgehauen. Nur leider so gut wie alle in den letzten Stunden vor Redaktionsschluss.
«Warum das Drama?», frage ich mich. Und die Abschlussredaktion fragt sich das Gleiche.
Klar, eine Pistole im Nacken hilft sehr beim Denken. Aber der wahre Haken sind die ersten zwei, drei Abschnitte. In guten Fällen bastle ich Stunden daran rum, in schlimmen Fällen Nächte. Dabei sieht man ihnen die Mühe nicht an. Sie lesen sich nicht sonderlich sensationell.
Was zum Teufel macht derart Ärger?
Sicher: Die ersten zwei, drei Absätze sind quasi die Säuglingszeit des Textes. (Eine Kinderpsychologin sagte mir einmal, nach den ersten drei Jahren sei die Stellung eines Kindes in der Welt fixiert; danach könne man als Eltern die Erziehung quasi einstellen. Schade, dass das Kind es nicht weiss.)
Tatsächlich setzen die ersten Absätze Thema, Tempo und vor allem den Ton des Artikels. In literarischen Texten könnte man sogar sagen: Sie legen die Naturgesetze darin fest. Ob es etwa eine lyrische Welt ist, in der die Dinge reden. Eine Gangsterwelt, in der alles lügt: Gesichter, Worte, Fakten, Orte. Eine nüchterne Welt, wo die Sätze stehen wie ein abgeerntetes Feld. Ein parfümierter Wald aus Schnörkeln und Arabesken, der Menschen und Zivilisation überwuchert wie einst der Dschungel die Städte der Mayas. Oder welche Welt auch immer.
Doch das allein erklärt das Herumseuchen nicht. Man könnte sich schneller für diesen oder jenen Ton entscheiden. Und tut das bei kürzeren Texten auch.
Meiner Theorie nach entsteht der Ärger aus folgendem Grund: Jeder komplexere Text ist ein Zusammenprall zwischen dir und einem Stück Welt. Und Letztere ist fast immer eine Überraschung.
Fast jede grössere Recherche begeht Sabotage an ihrem Ziel, dem Text. Man wird mit Material zugeflutet. Oder kommt an das Zentrale nicht heran. Die geplante Hauptfigur langweilt oder redet Papierdeutsch. Nebenfiguren werfen mit einer Anekdote nach der anderen um sich. Erklärungen fressen furchtbar viel Platz. Die zentrale These wackelt. Nie passt das Material genau.
Kurz: Man hat ein Problem. Mit der bösartigen Fremdheit dieses Planeten.
Dein Problem, dein Motor
Vertrackterweise liegt das Problem bei jedem Artikel woanders. Und vertrackterweise sieht man es vor dem Schreiben fast nie. Man spürt es nur, sobald man anfängt. Weil der innere Zensor sagt: Du schreibst Mist. Und auch beim nächsten Versuch: Mist. Und dann wieder: Mist.
Das ist der Moment für Ehrlichkeit, in dem man nachdenken muss. Denn durch das Haken hat man zwei Dinge gleichzeitig entdeckt: Erstens, das ist die schlechte Botschaft, einen zentralen Fehler in der Rechnung, meist einen blinden Fleck. Und zweitens, das ist die gute Botschaft, den geheimen Motor des Artikels. Also das Ding, das neu, aufregend, ungelöst, speziell an diesem Text ist.
Das Gefühl, im Morast zu stecken, ist das untrügliche Zeichen, dass man (zumindest für sich selbst) auf neuem Grund befindet: Man ist – fast immer unfreiwillig – Pionier. Als solcher bleiben einem nur zwei Möglichkeiten: Man stellt sich dem Abenteuer, findet Gold, Troja, eine Giftdeponie (oder was immer), wird reich und eine Legende; oder man verreckt spurlos im Sumpf.
Die dritte Möglichkeit, den Sumpf trockenzulegen, den Dschungel zu roden und dann den gewohnten Rasen anzupflanzen, ist in der realen Welt zwar erfolgreich – aber in der literarischen Welt (zu der der Journalismus als Randprovinz gehört) keine Option.
Ein Publikum wird immer die verrückten Kämpfer den routinierten Verwaltern vorziehen. Gerade, weil die Mehrzahl der Leser mit der Verwaltung von Büros und Familien beschäftigt ist.
Doch sich dem Abenteuer stellen ist leichter gesagt als getan. Besonders, weil das Problem fast immer ein neues ist. Und also auch eine massgeschneiderte Lösung braucht.
Checkliste des Ärgers
In dem Drama Mensch gegen Wirklichkeit gibt es roh kartografiert vier Grossgebiete für Treibsand:
- Die Wirklichkeit entspricht nicht den Erwartungen des Lesers. Das Material ist absurd, abstossend, unerwartet, also gegen die Intuition oder den Geschmack des Publikums. Das heisst: Es muss mit List und Zucker präsentiert werden.
- Die Wirklichkeit ist sich selbst nicht klar. Das Material ist verwickelt, undeutlich, ausfasernd, unvollständig, uferlos, kurz: objektiv komplex. Das heisst: Man muss ein Ordnungssystem erfinden.
- Die Wirklichkeit entspricht nicht den Plänen des Autors. Die zentrale These bewahrheitet sich nur halb; die vorgesehene Hauptfigur bleibt blass; der Interviewpartner spricht wie ein Aktenordner; die Nebensache ist interessanter als die Hauptsache. Das heisst: Man muss seine Pläne ändern.
- Der Autor ist nicht einig mit sich selbst. Alles ist deprimierend eindeutig. Oder von einem selbst schon mehrmals beschrieben. Jeder Satz laaaaaangweilt. Das heisst: Man muss sich selbst eine Schwierigkeit einbauen. Etwa, indem man das Genre ändert.
Klar ist nur eins: Das Problem, das man hat, muss am Anfang des Artikels angepackt werden, nicht in der Mitte, nicht am Schluss.
Wie genau? Böse Frage. Da das Problem individuell ist, ist die Lösung auch immer individuell.
Deshalb folgen in den nächsten Tagen ein paar Fallstudien.
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Jaaa, der berühmte erste Satz resp. Absatz. Blöd nur, wenn sich diese Dimension dem schlimmstenfalls selbsternannten Redakteur nicht erschließt und dieser weder etwas vom Redigieren noch vom Thema versteht. Da wird dann das ggf. mühsam errichtete Textgebäude nolens volens in Schutt und Asche gelegt – mit entstellenden Umstellungen, sachlich falschen Ergänzungen und was das geringe Repertoire sonst noch zulässt. Und all das, ohne den Autor final noch einmal gegenlesen zu lassen. Dann entsteht ein Drama der ganz anderen Art. Auch nicht schön.
Komisch. Bei mir ist es genau andersherum. Die letzte Sätze, Kapitel, Worte kommen mir einfach nicht über die Lippen bzw. aufs Papier. In Büchern les ich sie meist gar nicht erst. Wie es ausgegangen ist? Wen kümmert’s. Beim Schreiben kommt man ja schlecht drumherum. Denn die letzten Worte sind es ja auch wenn man gar nichts mehr…
Faszinierend. Sie lesen keine Schlüsse? Der Anfang genügt Ihnen?
Bei mir ist es noch schlimmer. Wenn ich den Titel nicht im Kopf habe (der danach ja oft noch geändert wird), kann ich nicht anfangen. Immer der selbe Kampf und es ist mir noch nicht gelungen, mich zu überlisten.
Er hört sich gerne reden äh schreiben…
Stimmt; das war jetzt (bei allem gebührenden Respekt) Schnatter …
Der erste Satz wird heute so überbewertet wie die erste Einstellung in den James-Bond-Filmen, die unterdessen gefühlte 10 Minuten dauern und nicht viel zum Verständnis beitragen. Bei Herrn Seibt weiss ich aber gar nicht, ob er jetzt von einem Roman, einer Anleitung zum Wände selber streichen oder einer Stellenbewerbung schreibt. Ein Beispiel für einen gelungenen Anfang: „Sweet Tooth“ von Ian McEwan (ein Profi eben).
Seufz. Der zweite Teil wird, an dem ich gerade schreibe äh schnattere äh Wände streiche, wird noch viel schlimmer. Damit wenigstens etwas für alle Erfreuliches in diesem Blog steht: Könnten Sie, Herr Knapp, den MacEwen-Anfang hier kurz zitieren?
Leider lese ich das Buch gerade im Original (englisch), es liegt gerade auf meinem Nachttisch. Kommt noch. Jedenfalls wird auf der ersten Seite schon die ganze Geschichte fertig erzählt, natürlich ein wenig “gerafft”, um es mal salopp auszudrücken.
Logisch, sind die ersten Sätze das Zugpferd und entscheiden, ob jemand weiterliest oder wegschaut. Wer seinen Leser nicht sofort fesselt, hat schon verloren. Wie beim 1. Eindruck beim Menschen – meist zieht sich diese erste Begegnung durch den restlichen gemeinsamen Weg.
Am Anfang ist immer jeder dabei, aber am Ende nicht unbedingt.