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Die Nachrichten sind nichts mehr wert. Eröffnen wir einen Salon!

Constantin Seibt am Freitag den 1. November 2013

Fällt das wichtigste Produkt weg, hat jede Branche ein Problem. Etwa der Journalismus, seit sein Hauptprodukt, die Nachrichten, inflationär, also wertlos geworden ist.

Kein Wunder, wird nach Ersatz gesucht. Ziemlich oft hört man, dass der Journalismus Einordnung und Orientierung bieten müsste. Und denkt sich dann zwei Dinge:

  1. Klingt plausibel. Es gibt einen Markt dafür.
  2. Fuck.

Sicher, Orientierung ist in einer komplexen Welt ein chancenreiches Produkt. Nur muss man sie erst einmal haben. Journalisten sind zwar nicht auf den Kopf gefallen. Aber ihr Geschäft ist weniger die Produktion von Ideen als ihre Popularisierung.

In der gesamten Pressegeschichte war das kein ernsthaftes Problem. Es gab stabile Lager mit stabilen Ideen: links, rechts, liberal, gegen den Staat oder in seinen Diensten, gegen die Wirtschaftsbonzen oder in ihren Diensten. Auf verlässlichen Herdplatten konnte man täglich Orientierungssuppe kochen.

Doch das waren die fetten Zeiten. Heute ist Klarheit die Ausnahme, Unklarheit die Regel. Fast egal, in welchem politischen Lager man steht: Komplexe Monstren wie Finanzkrise, Eurokrise, Klimawandel, Überwachung, Digitalisierung sind alles andere als einfach zu fassen. Nicht in der Analyse. Und schon gar nicht als Lösung, selbst auf dem Reissbrett.

Die Krise ist eine intellektuelle Krise

Als Reporter stösst man bei jeder zweiten Recherche auf dasselbe Problem: die dramatische Konzeptlosigkeit der führenden Akteure. Ob in der Finanzwelt, der Politik, in Kultur oder Medien – es gibt erstaunlich wenig Leute, die eine Strategie haben. Und noch seltener: eine Alternative. So mächtig der Bankensektor ist, so bewusstlos hangelt er sich von Euphorie zu Skandal. Im entscheidenden Land Europas, Deutschland, drehte sich der Wahlkampf um alles Mögliche: Autobahngebühren, Vegetariertag oder Pädophile. Aber nicht um die neue Rolle als entscheidendes Land des Kontinents. Und in Branchen wie Theater, Werbung oder Kunst dominiert Dr. Frankenstein: eine Collage von Zitaten. Statt einer neuen Ästhetik liefern sie Ironie.

Ein grosses Wursteln hat sich über die Welt gelegt – man macht mangels Alternative weiter, selbst wenn die Zeichen an der Wand stehen. Der Journalismus ist hier eine führende Branche. Nach 13 Jahren Krise haben die Chefetagen der grossen Verlage nicht nur keinen Plan, sondern nicht einmal die Melancholie, keinen zu haben.

Das Köpfe-Paradox

Dabei wäre Orientierung beweisbar gefragte Ware. Liefert man sie, kann man sogar ohne organisatorische Ressourcen erstaunlich Erfolg haben. Der meistzitierte Journalist der Welt etwa betreibt diesen Beruf nur im Nebenjob. Paul Krugman, hauptberuflich Ökonomieprofessor, schaffte es – halb durch Wissen, halb durch einen unverstellten Blick – ein Jahrzehnt lang aktueller, präziser, relevanter als die Profis zu sein. (Hier eine kleine Skizze zu seinen Methoden.) Und in der Schweiz gelang es einem mittelgrossen NGO, der Erklärung von Bern, die Debatte über den gigantischen Rohstoffsektor an sich zu reissen: Sie veröffentlichte als Erste ein Buch darüber. Und hat seither das intellektuelle Monopol.

Die Nachfrage ist da, doch erstaunlicherweise fehlt das Angebot. Fragt man sich nach den aufregenden Intellektuellen des Landes, fällt einem kaum jemand ein. Das heisst nicht, dass die Leute dümmer geworden sind. Aber es gibt ein Paradox: Man kennt privat viele kluge Köpfe, aber nicht in der Öffentlichkeit.

Kurz: Hier gibt es eine Marktlücke. Die mit einem uralten journalistischen Mittel angegangen werden kann: mit Recherche.

Der Salon im 21. Jahrhundert

Es wird Zeit, dass die Zeitung etwas wieder eröffnet, was an ihrer Wiege stand: den Salon des 18. Jahrhunderts. Damals, zu Beginn der Aufklärung, zeichnete sich ein Salon dadurch aus, dass er die interessanten Köpfe sammelte, unabhängig von Titel und Stand.

Die Gastgeber der bedeutendsten Salons waren nie die Mächtigen; es waren die Aussenseiter: meist Frauen oder Juden. Gerade ihr Aussenseitertum gestattete ihnen, das zu bieten, was ein Salon bieten muss: neutralen Boden für die verschiedensten Hierarchiestufen, Professionen, Temperamente.

Zum Eröffnen eines erfolgreichen Salons muss man ein guter Gastgeber sein, nicht der beste Kopf. Jemand von Neugier und Geschmack, aber nicht von erdrückender Brillanz; von Ehrgeiz, aber nicht mit dominierender Stellung.

Zu dieser Rolle passt die Zeitung besser denn je. Denn sie gleicht einem verarmten Adligen: Mit den Verlusten an Auflage hat sie auch viel an Respekt, an Droh- und Definitionsmacht verloren. Und ihre Angestellten hatten schon immer einen zweifelhaften Status. So schrieb etwa der Philosophieprofessor und Zeitungsherausgeber Andrew Potter:

Das Wichtigste, was man über Journalisten wissen muss, ist, dass sie Intellektuelle der untersten Rangstufe sind. Also: Mitglieder der intellektuellen Klasse, aber mit dem kleinsten Ansehen. Deshalb haben sie auch traditionell die Manieren des Proletariats angenommen: das Trinken und Fluchen, die Anti-Establishment-Reflexe und den Stolz, dass Journalismus kein durch Diplome erlernbarer Beruf ist.

Kurz: Die Zeitung hätte sowohl genug wie auch genug wenig Prestige, die wirklich cleveren Köpfe der eigenen Stadt zu recherchieren, aus ihren Nischen zu ziehen, sie zusammen zu setzen und zu befragen: aus den Universitäten, den Hightech-Start-Ups, den Theatern, den Konzernen, dem Beamtenapparat, den Blogs, woher auch immer. Nach dem einfachen Selektionsprinzip, dass Titel und Position im Salon nichts zählen, nur die Lebendigkeit der Köpfe selbst.

Einsamkeit als Angelhaken

Zwar betreiben Zeitungen schon seit langem Schrumpfformen des Salons, nur unsystematisch und viel zu individualisiert. Bereits vorhanden sind:

  • Das Künstlerporträt (seltener: Wissenschaftlerporträt)
  • Das Wie-wurden-Sie-so-grossartig-Interview (Jemand Erfolgreiches erzählt, wie dieser Jemand zu seinem Erfolg kam)
  • Das Experteninterview (Wissen – oder im schlechten Fall: Meinung – wird abgemolken)
  • Das Duell (Klimaforscher vs. Klimaskeptiker; Austeritätsanhänger vs. Keynesianer, Linker vs. Rechter, etc.)

So legitim diese Gefässe sind, so ungenügend lösen sie das Hauptproblem der meisten klugen Leute – ihre Einsamkeit. Denn die meisten intelligenten Leute sind einsam: die glücklosen in ihrer Unbekanntheit, die erfolgreichen im Erfolg. Denn eine angesehene Marke zu sein, ist zwar ein Luxusgefängnis, aber dafür garantiert ausbruchssicher.

Interessante Leute zusammenzubringen, mit anderen interessanten Leuten, mit interessanten Fragen – das ist der Job, den eine Zeitung fast exklusiv leisten kann. Denn die digitale Konkurrenz kann den Job nur halb machen. Die Link-Kuratoren oder die Organisatoren von Ted-Talks feiern stets den einzelnen Wurf oder das einzelne Individuum: Deren Einsamkeit aber bleibt.

Doch Vereinzelung ist gerade das Problem. Wenn es einen Vorteil von Unklarheit und Krise gibt, dann ist es der: Es steigert das Bedürfnis der guten Köpfe mit wem auch immer zu reden, da sie die Lösung auch nicht haben.

Welche Formen?

Um einen Salon im Blatt zum Laufen zu bringen, braucht es neue Gefässe. Solche, die die traditionellen Leitplanken verlassen und das Ergebnis offen lassen. Also etwa:

  • Das Duett (Erstaunlicherweise sind die Debatten zwischen zwei Leuten fast immer spannender, wenn sich die Diskutanten im Grundsatz einig sind. Bei einem Duell werden schon aus Vorsicht meist nur die Standardkeulen ausgepackt. Sind die Leute einig, reden sie freier: über die wahren Motive, Probleme, Hoffnungen und Ängste. Ausserdem lernt man nicht zwei konträre Positionen, sondern etwas viel Interessanteres kennen: zwei konträre Denkstile.)
  • Das Triple-Interview zu umstrittenen Themen, mit drei Leuten aus völlig unterschiedlichen Berufsfeldern. (Hier als kleines Experiment ein episches Kaminfeuergespräch zum Rauchen, geführt mit einem Tabakfabrikanten (an der Zigarre), einem Soziologen (an der Zigarette) und einem Psychoanalytiker (mit Pfeife).)
  • Das verrückte Interview. Kennzeichen des verrückten Interviews ist, mit einer ganz konkreten Frage zu beginnen und dann weiss Gott wo in der Weltgeschichte zu enden. Also ein Interview zu führen, wo keiner der Beteiligten am Anfang weiss, wo es am Ende landet – weshalb es vorzugsweise spät nachts und mit Alkohol geführt wird. (Hier als Beispiel ein Interview mit Professor Imhof über Botellones, mit dem pädagogischen Titel «Jugendliche, macht Massenbesäufnisse! Ihr könntet viel Dümmeres tun.»)

Das als erste rohe, noch unsystematische Skizze.

150000 Franken Kopfgeld

Jedenfalls wäre nach dem Wegfall der Nachrichten der Betrieb eines Salons ein neues Geschäftsfeld für eine Zeitung. Und eine echte, zeitgemässe Aufgabe. Nur muss man sie nicht punktuell, sondern professionell betreiben: also mit Investition von Geld.

Denn das systematische Entdecken, Testen, Angeln, Mischen, Bemuttern, Befragen von cleveren Köpfen braucht Personal. Zwar nicht viel, nur ein, zwei Stellen. Aber diese notwendigerweise. Schon allein, weil die Aufgabe etwas schwieriger ist als im 18. Jahrhundert. Damals wimmelte es von brillanten Köpfen. Heute wimmelt es von brillanten Problemen.

Kurz: Die Eröffnung eines Salons ist ein unternehmerischer Entscheid.

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40 Kommentare zu “Die Nachrichten sind nichts mehr wert. Eröffnen wir einen Salon!”

  1. phil keller sagt:

    Die Zeitung, die Ihnen vorschwebt, gibt es, zumindest teilweise als Zeitschrift, schon. Schon mal was von der Weltwoche gehört?

  2. ralph kocher sagt:

    In der Tat, nennen wir die Krise “Mörgeli”. Ein zu dieser Einheits-Partei aufgehendes Sünneli. Falsch ist, dass ES nicht zu fassen wäre. Dumm nur, dass mit diesen von der Putsch-Lobby (Flaggenkreuzideologen) gesponserten Anwälten Spiel ohne Grenzen gemacht sein will. Ohne diesen Part wäre die Latenz keine Latenz. Sie wird aber dem Parlament zu Gesetzesänderungen verhelfen. Unsachgezielte Propaganda wird dann von der Strasse gedimmt und im Netz geahndet sein. Intellektuelle lebten immer am Rand des Existenzminimums und auch am Rande des gedungenen Politgeschehens. Deswegen ihr Blick von aussen.

  3. Leser sagt:

    Ein toller Artikel! Analytische Orientierungsarbeit leisten heute die PhilosophInnen an den Universitäten. Mundgerecht aufbereitete, kostenlose PDF Dossiers zu ausgewählten Themen gibt es auch schon: http://www.philosophie.ch/themendossiers
    Paradoxerweise sind bisher viele Privatpersonen unsere Leser, darunter aber kaum JournalistInnen.
    PS: Wer sucht der findet..

    • Markus Semm sagt:

      Eine Durchsicht der Sponsoren zeigt: Es kann sich hier nur um ‘mundgerechte’ – aber akademische! – Langweilerdiskurse (Baudrillard) handeln.

  4. Bernhard Kobel sagt:

    Brillante Analyse! Eine kleine Anmerkung erlaube ich mir: Die interessantesten Debatten entstehen, wenn sich die Teilnehmer in einem Ziel (nicht unbedingt dem Grundsatz) einig sind. Dann lässt sich trefflich streiten über die Wege, die zu diesem Ziel führen können.

  5. ralph kocher sagt:

    Die Sichtweise wäre zu befangen, wenn auf einem aufgenötigt erwartenden Standart geritten würde…

    • Markus Semm sagt:

      Standard – nicht ‘Standart’ mit *t*, bitte. Die Tasten sind auf der QWERTZ-Tastatur genügend weit auseinander.

  6. Och – was erzählen Sie uns denn da? Keine ‘stabilen Lager’ mehr? Hier haben wir zum Beispiel immer noch das Springersche Linienschiff namens ‘Welt’, wo es zumindest in der Wirtschaftsredaktion auf jede beliebige Weltfrage seit Jahren ein und dieselbe Antwort gibt: Es gilt, soziale “Wohltaten” rigoros zusammenzustreichen.

    Dass dem Journalismus die Köpfe fehlen, ist dagegen sicherlich richtig. Das liegt u.a. aber auch daran, dass jene Redaktionen, die nun mal das schreiben müssen, was dem Verleger frommt, gar keinen Bedarf an ‘Köpfen’ haben. Das gäbe doch bloß Ärger …

    • Constantin Seibt sagt:

      Natürlich, in der Glaubenskrise blühen die Sekten weiter. Auch im NZZ Wirtschaftsteil wird weiter heftig gepredigt. Und die Wirklichkeit scharf getadelt, falls sie nicht dem Lehrbuch entspricht. Der Unterschied zu früher ist, dass diese Sorte Publizistik heute einen Stich ins Unseriöse, Absurde unfreiwillig Komische hat. Weil kaum jemand an ihre Wahrheit und Dringlichkeit noch glaubt. Die Platte wird weiter gespielt, aber sie hat einen Sprung. (Am wenigsten, zugegeben, merkt das die Elite. Aber deshalb auch der Riss, dass die Funktionselite weitgehend nicht mehr die Kraft hat, auch intellektuell zu überzeugen.)
      Und die Verleger? Nope. Die machen nicht Jagd auf Köpfe. Aber sie suchen sie auch nicht. Sie jagen der Effizienz hinterher, dem Gegenteil von Nachdenken.

      • Bernard Zappli sagt:

        Nur ist es halt so, Herr Seibt, dass die NZZ eine renommierte, anspruchsvolle Zeitung ist, und das seit Jahrhunderten. Ja, ich weiss, Neoliberalismus. Dabei ist doch Neosozialismus und Reichenbashing die Lösung, n’est-ce pas?

        • Constantin Seibt sagt:

          Das Kernproblem der NZZ – einer im übrigen wirklich sympathischen Zeitung – ist, dass sie über Jahrzehnte die Prawda der Schweiz war. Als Zeitung des dominierenden Zürcher Freisinns war nicht nur wichtig, was sie schrieb. Sondern sogar, was sie nicht schrieb: Das existierte offiziell nicht. Als Zeitung der Macht konnte sich die NZZ leisten, zwischen den Zeilen zu schreiben. Denn man durfte sie nicht ignorieren. Kein Wunder entwickelte sie einen kryptischen Stil. Doch heute hat die FDP die Macht verloren, damit auch die NZZ. Sie muss – unter Schmerzen – eine normale Zeitung werden.

        • Darum geht es nicht. Das Problem ist, dass die Wirtschaftsredaktionen solcher Medien auf alle selbstverschuldeten Krisen unbeirrt die gleichen Antworten geben: noch mehr desselben. Sie können ihren ökonomischen Denkkäfig aus Neoklassik, Austerität und Hayekismus einfach nicht mehr verlassen. Ein kluger Mann (Thomas S. Kuhn) hat einmal gesagt, dass ein ‘Paradigmenwechsel’ sich in einer Gesellschaft erst dann vollzieht, wenn die vorherige Generation mit ihren alten Überzeugungen ausgestorben ist. Neues Denken in alten Köpfen sei hingegen nicht möglich. Die NZZ wird daher den Weg der FDP gehen.

          • Constantin Seibt sagt:

            Ja, das ist ein Problem. Es ist heute ziemlich schwierig, Alternativen zu denken. Ich weiss auch nie, ob meine Hauptposition (es gibt noch ein paar daneben) zur Wirtschaft, eine keynesartige, also mit einem Faible für Pathos in der Formulierung wie für improvisierte Lösungen, also eigentlich eine liberale Position (falls die Liberalen von heute nicht solche Trottel wären), nicht zu kurz greift: sie geht Richtung Reparatur, nicht Revolution. Ist das die Position gewachsener Weisheit oder intellektueller Schwäche? Dasselbe gilt für diesen Blog: Er ist radikaler gedacht als die Konvention, aber im Grund versucht er das bestehende System zu erneuern. Teufel und Hölle.

          • Das bipolare Denken in den Köpfen ist das Problem: Wo nämlich die Neoliberalen vom ‘Sozialismus’ tröten, sobald jemand mal über den Tellerrand denkt, und andererseits die Sozialisten dann über ‘Thatcherismus’ zetern. Auch ein Krugman hat manchmal ganz vernünftige Ideen – und das ‘System Abe’ in Japan funktioniert ökonomisch ebenfalls. Weshalb denn bloß? Eine Revolution aber will niemand. Es geht um die Überwindung des ‘Monetarismus’ oder der ‘schwäbischen Hausfrau’ in den Köpfen. Um mehr ökonomisches Wissen also. Aller Monetarismus aber ist interessierte Volksverblödung …

          • Constantin Seibt sagt:

            Jep. Etwas von Erstaunlichsten ist, dass alles im ökonomischen Jargon argumentiert; aber fast ohne Kenntnis. Es herrscht eine grosse, selbstverschuldete ökonomische Unmündigkeit.

      • Die Elite hat am meisten zu verlieren, darum versuchen deren Adlaten in den Schreibstuben die Fahne der Aufrechten in Wirtschaft und Politik nicht untergehen zu lassen. Die Angst geht um, dass die Elite nicht mehr investiert. Zeit für Verlage und Journalisten sich daran zu erinnern. Zeit für die Leser sich eine eigene Meinung zu machen.

        • Bernard Zappli sagt:

          Zur Elite gehört auch der Arbeitgeber von Herrn Seibt. Er verdient bestimmt das Doppelte seines WOZ-Lohns (was ihm zu gönnen ist). Trotzdem muss er sich nicht verleugnen. (Nebenbei, die böse Elite fördert auch viele junge Künstler.) Erfolg haben Zeitungen mit Meinungen. News ist Massenware, das können alle. Die Elite überlebt auch ohne Zeitung (ausser man enteignet sie mit Gewalt). Verlieren würden die Angestellten.

          • Ja, das ist ja das Schlimme. Die Elite vereinnahmt alle. Jeder Sprayer mit subversivem Potential wird gefördert, sprich an den Tropf gehängt. Und klar überlebt die Elite ohne Zeitung. Aber immerhin unternimmt sie (Elite) Anstrengungen, um gehört zu werden (Weltwoche, BAZ.

  7. Petra Russo sagt:

    Schreiben Sie nicht nur Artikel gegen den Einheitsbrei. Ihr nächster Artikel darf sich ruhig mal vom Mainstream abheben – auch in der Meinung. Viel Mut!

    • Constantin Seibt sagt:

      Welche Meinung wünschten Sie denn, dass ich sie habe?

    • ralph kocher sagt:

      Seibt ist beileibe nicht Mainstream! Auch Dani Binswanger ist Power mit ebensolch’ Unstandart. Fehlte noch, dass die Mündel der Nomenklatura bestimmen, was wir zu glauben haben.

  8. Fredi Lerch sagt:

    Zwei Gegenargumente gegen die Idee, Zeitungen zu «Salons» zu machen. 1) Salons im 18. Jahrhundert waren subkulturell. Sie bildeten (bürgerlich)-aufklärerische Nischen in einer feudalen Welt. Zeitungen unter dem heutigen ökonomischen Druck können es sich nicht leisten, solche Nischen zu sein. 2) In den Salons trafen sich Gleiche unter Gleichen, die ihre ökonomische Situation privat geregelt hatten. Auch der Zeitungssalon mit bezahlter Moderation müsste gratis kommunizierende «Gleiche» suchen. Faktisch läuft das auf eine Refeudalisierung der gedruckten Öffentlichkeit hinaus.

    • Constantin Seibt sagt:

      Wer sich refeudalisiert, ist ja die ganze Gesellschaft. Die Frage ist, wer die Nischen organisiert. Sicher, Zeitungen haben den Nachteil, kommerzielle Nebeninteressen zu haben. Aber wer sonst sollte es tun?

      • Fredi Lerch sagt:

        Ja, wer? Wir haben ja beide seinerzeit als genossenschaftliche Miteigentümer für die WochenZeitung gearbeitet in der Überzeugung, die Voraussetzung für eine Nische («Salon») sei die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel als Voraussetzung für redaktionelle Freiheit, womit wir meinten: Redefreiheit im öffentlichen Raum. Und jetzt nennst Du mir die «kommerziellen Nebeninteressen» der Zeitungen (Du meinst jene, die wir früher noch als «bürgerliche» bezeichnet hätten) als quantité négligeable einer emanzipativen Publizistik. Ich finde es schade, dass Du recht hast.

        • Constantin Seibt sagt:

          Nun, der Hauptunterschied zwischen einem Kollektiv wie der WoZ und einer traditionellen Zeitung wie dem Tages-Anzeiger ist weniger das, was man in einem Artikel schreiben kann, Da ist viel möglich. Es ist vor allem der interne Einfluss: in der WoZ ist jeder zu einem 50stel Verleger und zu einem 30stel Chefredakteur. Das heisst, man ist für allen Unfug in der Zeitung schuldig. Entweder, weil man ihn nicht verhinderte. Oder noch schlimmer, weil man ihn durchdrückte. Im Tages-Anzeiger ist man an nichts als an den eigenen Artikeln schuld. Erstaunlicherweise ist das Erstere das weit bessere Gefühl.

          • Fredi Lerch sagt:

            Du hast mit Deiner Analyse sicher recht. Arbeitsteiligkeit bewirkt Komplexitätsreduktion. Keine unternehmerische Verantwortung zu haben, lockert das Mundwerk (solang’s dem Unternehmen dient). Oder, mit Blick auf Deine Arbeit: die Dialektik der kapitalistischen Widersprüche kann gute Texte generieren (richtig schlecht hast Du allerdings auch in der WOZ nicht geschrieben). Was ich nächstens wieder einmal nachlesen werde: Was ist der Unterschied zwischen einem «clerc» (Julien Benda) und einem «organischen Intellektuellen» (Antonio Gramsci)? In der Schweiz sicher: die Höhe des Lohns. Aber sonst?

          • Constantin Seibt sagt:

            Oh, dann hab ichs missverständlich geschrieben: Ich glaub nicht, dass man in der WoZ wegen der Selbstverwaltung schlechter schreibt als im Tages-Anzeiger. Der einzige Unterschied ist: In einem oppositionellen Nischenmedium muss man einiges drastischer als im Mainstream-Blatt schreiben, um gehört zu werden. In der WoZ braucht es einen Fluch, im Tages-Anzeiger muss man für dieselbe Wirkung die Augenbraue heben.
            Was ich meinte war: Im Tagesanzeiger kann man nur einen Arm bewegen: den, um seine Artikel zum schreiben. In der WoZ zwei: um zu schreiben und um den Laden selbst durch gelungene oder weniger gelungene Projekte zu verändern. Und in diesem abgetrennten Arm spüre ich Phantomschmerz.

    • Heinrich Brenn sagt:

      Herr Lerch, was ist denn mit beispielsweise jüdischen Salons (etwa Fromet Mendelssohn) , der Haskala oder mit den schon von Herr Seibt angesprochenen Gesellschafterinnen? Diese Personenkreise waren im 18. Jahrhundert in prekärer Situation; die Familie Mendelssohn waren beispielsweise Schutzjuden, die bloß geduldet waren. Der Salon Mendelssohn war also ein Treffen von Ungleichen. Das schlug sich auch in der Theorie Moses Mendelssohns nieder, dessen Verständnis von Universalität gerade auf der Anerkennung von Partikularität fußte, die vorgängig zu dieser war; sie verwechseln Salon und Agora.

      • Fredi Lerch sagt:

        Ich kenne die Geschichte der jüdischen Salons in Berlin nicht. Ich beziehe mich auf Phänomene wie den Salon Julie Bondelis in Bern um 1760, das Pfarrhaus in Liestal um 1850 oder die subkulturellen Kreise in Bern um 1960 (für mich die Verkleinbürgerlichung der Salon-Idee). Das waren durchwegs subkulturelle Phänomene und gerade deshalb von emanzipativer Kraft (wären nicht auch die jüdischen Salons so deutbar?). Ich kritisiere Constantin Seibts Idee, Zeitungen zu Salons «von oben» machen zu wollen. Das ist eine Geschäftsidee für die kriselnde Printpublizistik, aber weder Salon noch Agora.

      • Fredi Lerch sagt:

        an Seibt: Phantomschmerz nach dem verlorenen Paradies? Die WOZ war für mich stets mehr als eine Zeitung, nämlich ein kulturpolitisches Projekt. Aber ein Paradies war sie nie. – Um auf Deinen Vorschlag der Zeitung als «Salon» zurückzukommen: Ich bin überzeugt, dass Du für die Gründung eines Salons, der im besten Fall emanzipativ wirken würde, beide Arme brauchst. Eigentlich ist es ja nicht so, dass Dir ein Arm amputiert worden ist, sondern: Du hast Dich überzeugen lassen, deinen zweiten Arm nicht mehr brauchen. Muskeln können auch weh tun, wenn man sie zu wenig braucht.

        • Constantin Seibt sagt:

          Richtig, ich erinnere mich: Für mich war die WoZ nie ein kulturpolitisches Projekt. Sie war eine Zeitung.

          • Fredi Lerch sagt:

            Ich bin irritiert: Wozu hast du denn auf der WOZ den Arm gebraucht, in dem du jetzt die Phantomschmerzen spürst?

  9. Adrian M.Kilchmann sagt:

    Verleger!
    Generell ein paar Seibtlinge mehr- dürfte nicht schaden. Der Gähnfaktor wäre sicher geringer und der Grenznutzen von Abo-Abbestellungen von Bezahllesern eher in ihrem Sinne negativ! Deal? Ein besorgter Abonnent.

  10. Marcel Zufferey sagt:

    So etwas wie einen Salon gibt doch bereits: Die Huffington Post, jetzt auch in deutsch. Oder ist das mehr so etwas wie ein Publikationsfriedhof, an den jeder, der dort etwas veröffentlicht, zwar automatisch seine Rechte abgibt, aber im Gegenzug noch nicht einmal weiss, ob das Geschriebene überhaupt jemand liest? Oder gibt es jetzt endlich auch so etwas wie verlässliche Mediadaten von dieser Platform (Reichweite, Zielgruppe und so), für die AOL vor nicht allzu langer Zeit sagenhafte 315 Mio. Dollar (also erheblich mehr, als Jeff Bezos für die marode Washington Post) hingeblättert hat?

    • Thomas sagt:

      Nicht die Huffington Post – eher das Netz als ein Palast mit vielen Salons. Und freiem Eintritt, weitestgehend. An manchen Stellen sind diese Salons demokratische Nischen in einer ansonsten den Besitzstand wahren wollenden bürgerlichen Welt. Und wenn man genauer hinschaut leider nur Oasen in einem ansonsten schier grenzenlosen Irrgarten.

  11. Adrian M. Kilchmann sagt:

    Wir brauchen keine intellektuellen Boudoirs-sondern Zeitungen -Print oder Online-welche glaubhaft keine Verblödung anstreben.Das genügt bereits.Falls wir dann noch einen Kopfsalat darin einwickeln können ist dies ein echter Zusatznutzen.

  12. drikkes sagt:

    Sie führen als Beispiele Einzelleistungen an, wo doch der Salon seinen Mehrwert gerade aus dem Zusammenspiel seiner Akteure gewinnt. Sie wissen das natürlich, viele Ihrer Links führen zu Interviews (im Idealfall auch eine Ensembleleistung), weniger zu Artikeln Einzelner. Nun ist auch deren Umfang begrenzt, ein generelles – nennen wir es mal – Problem des Internets: Immer weniger User scrollen z.B. SpiegelOnline von oben bis unten komplett durch, sondern werden auf einzelne Unterseiten in den Sozialen Medien wie Twitter oder Facebook aufmerksam. Hier ist die Printumsetzung einfacher.