Alle Jahre wieder wird allen möglichen Leuten dieselbe Frage gestellt. Gott sei Dank, bisher nicht mir. Wo waren Sie am 11. September 2001?
Ich wurde vom Telefon geweckt.
«WO IST DEIN TEXT? VERDAMMT, WIR BRAUCHEN DEINEN TEXT! IN AMERIKA PASSIERT EINE SERIE VON GIGANTISCHEN ATTENTATEN! WIR HABEN KEINE ZEIT, AUF DEINEN TEXT ZU WARTEN! WO BIST DU?»
«Zehn Meter von dir entfernt, Freddy.»
«WO?»
«Ich hab auf dem Bürosofa geschlafen.»
«DANN WACH SOFORT AUF! UND BRING DEN TEXT MIT!»
Natürlich hatte ich den Text nicht fertig. Ich hatte die Nacht durchgearbeitet, ein Trümmerfeld fabriziert und mich im Morgengrauen auf dem Sofa im Raucherraum geworfen. Ich taumelte hoch und sah mir mit dem Rest der Redaktion auf dem Fernseher an, wie die Flugzeuge in die Türme des World Trade Center flogen.
Das tat ich fast ununterbrochen bis drei Uhr nachts. Dann machte ich mich wieder an den Text. Eigentlich war es guter Stoff. Er konnte gar nicht misslingen. Er misslang.
Sabotage durch Osama Bin Laden
Ich schämte mich. Obwohl mein Versagen egal war. In den Tagen nach dem 11. September interessierte niemanden irgendein anderer Text als einer über den 11. September. Egal, was drinstand oder wie er geschrieben war.
(Später erzählte mir ein PR-Profi, dass zahlreiche Firmen das ausnutzen, um schlechte Botschaften zu kommunizieren. Einige Firmen sollen sogar systematisch den Leichenkeller geleert haben. Ebenso wie später nach dem Tsunami Ende 2004. Bei der nächsten Grosskatastrophe sollte man solche Meldungen sammeln. Das als Notiz für mich selbst.)
Wie gesagt, eigentlich hätte ich den Text nicht verhauen dürfen. Ich hatte grosszügige 15’000 Zeichen Platz und eine kinoreife Vorlage: die Memoiren des V-Mannes Fausto Cattaneo, «Deckname Tato». Ich hatte neben dem Buch noch zwei Stunden mit Cattaneo gesprochen zum Thema Drogenkartelle, Verrat unter Polizisten und Geldwäsche. Ich hatte tonnenweise gute Details. Etwa, dass Kriminelle nicht deshalb so viel Goldschmuck tragen, weil ihr Geschmack miserabel ist. Sondern damit sie jederzeit schnell zu Bargeld kommen, falls sie untertauchen müssen.
Trotzdem eierte der Text herum und blieb trotz seiner Länge erstaunlich informationslos. Damals schob ich mein Scheitern auf Osama Bin Laden. Wie später viele andere Leute auch.
Das Platz-Paradox
Und wie bei einigen anderen Leuten entpuppte sich das als Lüge.
Denn ich vermasselte diese Sorte Artikel reihenweise. Es blieb ein Genre, das ich nie unter Kontrolle bekam: die Ausschlachtung eines Sachbuchs. Ich versuchte es mit schwachen Büchern – etwa den PR-sprachigen Memoiren der Ex-Bundesrätin Ruth Metzler. Mit Abenteuerbüchern wie Domscheit-Bergs Wikileaks-Erinnerungen oder Wohlwendts Biographie des Hochstaplers Heinrich Kieber. Mit poetischen Sachbüchern wie Spuffords wunderschönem Sowjetunion-Buch «Rote Zukunft». Oder kürzlich mit den Memoiren des Bankiers und Propheten Felix Somary.
Alle diese Texte wurden bestenfalls okay. Keiner hob ab. Weder gedanklich, noch beim Publikum. Mit viel Aufwand erreichten sie null Echo.
Das, was mich bei der Arbeit daran jeweils verzweifeln liess, ist ein altes Phänomen beim Schreiben: Es gibt Artikel, bei denen man auf ein wenig Platz verblüffend viel sagen kann. Und andere, wo man auf viel Platz fast nichts unterbringt.
Zu Letzterem gehört das Referieren eines Sachbuchs: Informationen und Anekdoten fressen deprimierend viel Platz. Im Gegensatz dazu, wenn man eine Geschichte mit einem Kaleidoskop von Quellen, also aus einem Chaos von Interviews und Artikeln zusammensetzt: Dann bringt man mit etwas Glück oft eine halbe Welt auf einer Zeitungsseite unter.
Unter fremder Regie
Warum das? Meiner These nach bricht das Tempo in einem Artikel immer dann zusammen, wenn man einer fremden Dramaturgie folgt, also:
- Wenn man der Standard-Dramaturgie des eigenen Blatts folgt. Etwa mit dem szenischen Einstieg bei Magazin-Texten oder der Informationsballung von allem Wichtigen am Anfang in Zeitungsartikeln.
- Wenn man der Dramaturgie des Geplanten folgt statt des Geschehenen. Also wenn man etwa die ereignislose Pressekonferenz plus den Eklat am Buffet beschreibt statt nur den Eklat am Buffet. (Zu diesem Fehler siehe auch: Der 360-Grad-Blick.)
- Wenn man der Dramaturgie eines Buchs folgt, egal ob eines schlechten oder brillanten.
Das Problem bei der Ausschlachtung eines Buchs zu einem Artikel ist, als müsse man aus den Stücken eines Pottwals einen Delfin zusammenbauen. Die Knochenstruktur des Buchs ist eine völlig andere. Die Anekdoten, falls man sie zitiert, sind zu lang. Die Zahlenreihen zu vollständig. Die eigenen Gedanken, die man dazu hat, sind oft nur Nebenbemerkungen zu den naheliegenderen des Buchs: Will man seine Leser nicht verwirren, muss man sie wieder streichen.
Plagiate, selbst gemacht
Eigentlich gelang mir in meiner Karriere nur zweimal eine befriedigende Verarbeitung eines Buchs in einen 10’000-Zeichen-Artikel. Beide Male bei mitreissenden, chronologisch gegliederten Sachbüchern: 1994 James Gleicks «Chaos»: die Geschichte der Chaostheorie. Und 2011 bei Roman Schürmanns «Helvetische Jäger»: die Geschichte der Schweizer Luftwaffe. (Der Artikel: hier.)
Beide Male konnte man die Anekdoten, Fakten, Zahlen des Buchs in hohem Tempo hintereinander jagen – die chronologische Abfolge gab dem Leser problemlos Orientierung. Und machte zeitraubende Übergänge überflüssig.
Im zweiten Fall schrieb mir die Verlegerin ein Mail. Sie beschuldigte mich des Plagiats. Ich las nach und hörte mein Blut in den Ohren: Sie hatte weitgehend Recht. Gleich serienweise hatte ich Formulierungen, Urteile, Ton und Zahlen des Autors Schürmann übernommen.
Das, wie ich schwöre, nicht aus Faulheit. Sondern aus Verantwortung. Denn jedes Mal wenn ich beim Schreiben über eine Formulierung nachdachte, leuchtete mir Schürmanns Version mehr ein als meine. Kein Wunder, er hatte auch nachgedacht und die knappsten, präzisesten Worte gewählt. Ich konnte mich nicht überwinden, die Passagen zu verschlechtern.
Ich mailte zurück, dass ich ja das Buch am Anfang wie zu Ende erwähnt hatte. Und es für die Leser ein informativer Artikel geworden war. Und hoffentlich verkaufsfördernd für das Buch. Und dass die Kopie die ehrlichste Form der Anerkennung sei.
Aber ich wusste, dass meine Verteidigung Schwurbel war. Ich hatte eine Grenze überschritten.
Die Gefahr des Korans
Was tun? Die beste Strategie, falls man ein Sachbuch in einen Hintergrundstext verwurstet, besteht darin, zumindest Angst zu haben. Und in höchstmöglichem Tempo ohne Schnörkel zu schreiben, da man so gut wie immer in Platznot gerät. Und wenigstens einen Hinweis mit Bild auf das Buch zu machen, das man plündert.
Eine Menge klüger jedoch ist der Versuch, die Souveränität wieder an sich zu reissen:
- Also statt einer Nacherzählung eine Rezension zu schreiben. Bei einer solchen packt man energischer sowie mit eigenen Worten und Gedanken zu. Denn man bringt etwas Zusätzliches ein: den eigenen Blick.
- Weit interessanter ist, ein Buch oder ein Essay mit der aktuellen Wirklichkeit zu schneiden. Also etwa das Verhalten von Konzernchefs mit Machiavellis «Der Fürst». Oder die Lügen des US-Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney mit Hannah Arendts Essay «Lüge und Politik». Aus dem Zusammenprall von Aktualität und Buch entsteht etwas Drittes: ein echtes Abenteuer.
Bücher lesen ist das Doping für Journalisten. Wie oft im Spitzensport ist es unverzichtbar, wenn man vorn dabei sein will. Aber auch heikel für Ruf und Gesundheit. Besonders, wenn man das Buch danach fast unverdaut wiedergibt. So schrieb etwa Schopenhauer:
Wann wir lesen, denkt ein anderer für uns: Wir wiederholen bloss seinen mentalen Prozess. (…) Eben daher kommt es auch, dass wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmählich verliert, – wie einer, der immer reitet, zuletzt das Gehen verlernt. Solches aber ist der Fall bei sehr vielen Gelehrten: Sie haben sich dumm gelesen.
Damit zurück zum 11. September. In einer Talkshow zu irgendeinem Jahrestag dazu sah ich einen Mann mit Kranzbart, der einen Koran in die Kamera hielt. Und behauptete: «Der Koran ist ein gefährliches Buch.»
Und ich weiss noch, wie ich knurrte: «Du Amateur! Jedes Buch ist ein gefährliches Buch.»
PS: Weit ungefährlicher als Bücher zu lesen, ist, sie nur zu kaufen. Ich empfehle aus nahe liegenden Gründen dafür dieses Buch hier.
Wie sieht es mit einem E-Book aus? Bücher les ich leider nicht. Sind so schlecht für die Augen.
Um Ihre Augen wird sich gekümmert. Hier können Sie das Elektrobuch lesen, so wie es Ihnen der Optiker und der Adler empfehlen: http://www.amazon.de/Deadline-Über-täglichen-Kampf-ebook/dp/B00FOI4PBI/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1382444969&sr=8-1&keywords=Deadline
Der beste Text über den 11. September stammt von Max Goldt. Punkt.
(in der ZEIT und dann in einem seiner Bücher).