Neulich, bei USA Today: Die Chefetage teilte der Redaktion mit, dass diese eine Kleinigkeit ändern sollte. Man habe seit 30 Jahren ja neutral geschrieben. Ab sofort solle man bitte persönlich schreiben, kantig und kontrovers. Die Damen und Herren Redaktoren sollten in Zukunft bitte zur unverwechselbaren Marke werden.
Ebenfalls neulich, beim Reporterforum im «Spiegel»-Gebäude in Hamburg: In einer Debatte sagten die anwesenden Journalisten, dass das Wort «ich» in ihren Redaktionen so verboten sei wie Drogen oder Bürodiebstahl.
Beides ist absurd. Sowohl der Befehl, ab sofort charismatisch zu sein. Wie auch die freiwillige Selbstkastration.
Die Zeitung als Irrenanstalt
Zwar ist der Gedanke von USA Today im Kern richtig. Die Exklusivität der Nachrichten ist für immer Geschichte. Gerade spektakuläre Scoops besitzt man nur wenige Minuten. Dann steht die Story auf allen Websiten der Konkurrenz. Das einzig Unkopierbare ist heute die Art, wie eine Geschichte erzählt wird.
Trotzdem ist der Ansatz «schreibt ab heute was Provokatives» so unbrauchbar wie «geht raus und gewinnt Jünger» oder auch das ruhigere «in Zukunft liefern wir Orientierung». Denn all das ist vom Marketing und nicht vom Machen her gedacht.
Wirkungsvoller Journalismus geht von Fall zu Fall, also vom Stoff aus. Der Stil – welcher auch immer – ist die Reaktion darauf. Das handwerkliche Kernproblem im Journalismus ist, dass die Zeitung wenig Varianten kennt. Im Grundriss gleichen heutige Zeitungen noch immer den Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts. Die seriöseren Stories werden fast alle in die Zwangsjacke des Nachrichtenstils gesteckt. Und dazu gibt es die Gummizellen der Kolumnen oder des Feuilletons. Hier kann getobt werden.
Dieses Modell gilt als Garant für Seriosität. In Wahrheit ist es vor allem perfekt für die Bedürfnisse der Anstaltsleitung konstruiert – zwecks effizienter Organisation. (Eine Zeitung ist im Kern ja eine Organisationsform.) Das System dient der Bändigung der Redaktion, aber vor allem des Wahnsinns der Welt. Es hat nur einen Nachteil: Es ist nicht nur berechenbar – es liest sich auch so. Denn es reagiert auf alles in etwa gleich.
Willkommen, liebes kleines Stück Welt, sagt das Zeitungssytem zu jedem eintrudelnden Ereignis: Hier ist deine Zwangsjacke.
Graue Business-Anzüge
Aus drei Gründen ist es deshalb ein grober Fehler, die Ich-Form kategorisch aus dem Repertoire auszuschliessen:
- Mit dem Einkerkern des Subjektiven in die Gitterstäbe von Kommentar und Kolumne versperrt sich eine Zeitung ein ganzes Feld von Möglichkeiten, auf Ereignisse zu reagieren.
- Sie fördert damit auch amateurhaftes Denken. Denn ein wirklicher Profi recherchiert auch bei Texten, in denen kein einziges Mal das Wort “ich” vorkommt, immer in zwei Richtungen: Nach aussen, was die Fakten sind. Und nach innen, ins eigene Herz, was die Fakten bedeuten. (Siehe hier: Journalismus ist ein Existentialismus.)
- Und vom Handwerk her ist der Verzicht unlogisch. Immerhin ist Schreiben eine geradezu absurd subjektive Angelegenheit: ein Mensch, eine Tastatur.
Vielleicht gerade wegen des letzten Punkts kämpfen Redaktionen so hart um Glaubwürdigkeit. Und hoffen, diese in ihrem Kerngeschäft durch Anonymität, Normierung, Neutralität zu erreichen. Die Furcht dahinter ist, dass die Leser beim ersten subjektiven Wort merken, dass hier ja nur einer ist, der schreibt. Und dass einer gar nicht alles wissen kann. Folglich versucht der Journalismus den gleichen Trick wie Beamte und Businessleute: Seriosität durch graue Anzüge zu erreichen.
Nur denkt diese Strategie viel zu kurz: Denn seit jeher war der Augenzeugenbericht eine glaubwürdige Währung. Wenig ist so vertrauenswürdig wie eine identifizierbare Stimme. Zwar zweifelt das Publikum uniforme Texte fast nie an. Aber das aus Gleichgültigkeit. Denn glauben tut es ihnen auch nicht.
Die einzige Frage, wo ich in der Zeitung auftreten soll, ist nicht das ob, sondern das das wie.
Anwendung 1: Stunts
Die Antwort ist einfach: Das Ich ist in Texten dann eine Möglichkeit, wenn mit demselben bei der Recherche wirklich etwas passiert. Also nie, wenn alles okay ist. Sondern wenn einem die Sache an den Leib oder an die Seele geht.
Das erste grosse Feld, wo ich eine starke Form ist, ist der Stunt. Diese können geplant oder ungeplant sein. Bei meinem ersten World Economic Forum im Jahr 2000 etwa stand ich trotz Anzug drei Mal mit den Händen in der Luft vor der Mündung einer Maschinenpistole, während ich durchsucht wurde. In den Konferenz-Hotels die Sicherheitsbeamten, um Journalisten ohne Akkreditierung wieder hinauszuwerfen. Ich war offensichtlich unerwünscht. Also war die richtige Form das Ich: Das Beschreiben der doppelten Schwierigkeit, physisch an die Sache heranzukommen. Und intellektuell zu begreifen, was hier überhaupt gespielt wurde..
Das Ich ist immer eine gute Option, wenn es unangenehm wird. Etwa als die Journalistin Laura Himmelreich vom betrunkenen FDP-Wahlkampfchef Rainer Brüderle angemacht wurde. Und die Szene später aufschrieb: Mit der Analyse, dass Herr Brüderle als Figur von heute nicht sehr glaubhaft sei. Aus einem naheliegenden wurde so ein starker Text. Mit den bekannten Folgen: Sie wurde von Polit-Milieu als Verräterin angegriffen. Aber gleichzeitig erkannten Tausende die gleichen Mechanismen wieder: #aufschrei.
Geplante Stunts sind ein wenig weniger edel. Aber dafür planbar. Also etwa eine Nordpolarfahrt, wo die Kälte einem an die Knochen dringt. Das Dating mit einem Suggardaddy aus der Internet-Vermittlungsagentur, wo die eigene Würde auf dem Spiel bleibt. Eine Wagner-Oper. Zur Beichte gehen. In Neonazi-Kneipen herumlungern. Seine Busse im Gefängnis absitzen. Bei Schweizer Banken Schwarzgeld anlegen.
Stunts können auch sehr ruhige Dinge sein, wenn man bereit ist, das Experiment ernst zu nehmen. Mein Lieblingsvortrag am Reporterforum war der von Alex Rühle, der Dinge tat wie: eine Nacht in einem vollkommen leeren Stadion zu verbringen, ein Wettwandern durch Deutschland oder den Selbstversuch, ein halbes Jahr ohne Netz zu leben.
Kurz: Als Leser kann man Stunts zwar für eitel halten. (Und deshalb muss man sehr aufpassen, diese trocken zu schreiben.) Aber lesen tut man sie trotzdem. Garantiert.
Anwendung 2: Niederlagen
Ein eisernes dramaturgisches Gesetz sagt: Deine Niederlagen sind interessant. Deine Triumphe wollen nur deine Eltern hören.
Tatsächlich sind Niederlagen der ideale Stoff für Ich-Geschichten – so lange es ernsthafte Niederlagen sind. Ich-Geschichten gehorchen naturgemäss noch stärker literarischen Gesetzen als der restliche Journalismus: Weil die Nachricht darin nach Nachrichtenkriterien irrelevant ist. Und für literarisches Schreiben gibt es eine Faustregel – bei schweren, aber auch bei Zuckerguss-Texten: Schreib über das, was dich schmerzt. Über Peinlichkeiten, Scheitern, Angst. Und über nichts anderes.
Eine erste, sehr erfreuliche Folge ist, dass gescheiterte Recherchen nicht mehr in den Papierkorb geworfen werden müssen: So erlebten mein Kollege H. und ich einmal eine grosse Blamage, als der Böögg (ein riesiger Schneemann der hiesigen Zünftler) sensastionell von Anarchisten entführt wurde. Und ein Informant sein Versteck verraten wollte. Darauf wurden wir von diesem durch die halbe Schweiz gejagt. Ab Abend standen wir dann vor einem besetzten Haus, dem angeblichen Versteck. Zwei sehr junge Punkerinnen öffneten. Und dann lachten sie uns aus: Laut ihnen waren nach «Blick» und NZZ die dritten, die den Parcours bewältigt hatten.
«Blick» und NZZ schwiegen; wir machten aus der Blamage ein Feuilleton.
Oder das katastrophale Interview mit Daniel Cohn-Bendit, der während vier gemeinsamen Stunden Zugfahrt nur am Telefon hing, wo er wichtigeren Journalisten Interviews gab: Daraus liess sich ein passables Porträt kochen. Oder das intellektuelle Scheitern am oben genannten WEF – im Jahr 2003, diesmal mit Akkreditierung –, wo man in einer Woche Konferenz-Talk die Orientierung verlor, worum es ging: als Story des Scheiterns war sie wieder interessant.
Das Erfreuliche am Journalismus ist: Sobald es im Leben Ärger gibt, hat man im Berufsleben Stoff. Eigentlich lässt sich aus jeder Peinlichkeit, Blamage, allem Scheitern – mit einigen Jahren Abstand – ein Text machen. Aus dem jahrelangen Scheitern bei den Mädchen: eine Seite Feuilleton. Aus der Art, wie ich einen Kaktus, die einzige Pflanze, die ich je liebte, tötete: indem ich sie goss – eine Anekdote. Dem paranoiden Wochenende unter Kokain – ein Abschnitt in einem Artikel über Verschwörungstheretiker. Das Verpassen einer Informatikerkarriere: Noch eine Kolumne. Der Kleinherzigkeit in der Liebe: zwei Short Stories. Langjährige chronische Unpünktlichkeit: ein Artikel unter Pseudonym.
Denn Makel und Niederlagen sind in Zukunft gutes Geld. Den gescheiterten Versuch, in einem Berliner Bordell meine Unschuld zu verlieren, verkaufte ich später gleich mehrmals: erst als Feuilleton, dann in einer Kolumne, dann in einer Short Story. Als ich das getan hatte, rechnete ich das Honorar aus und kam darauf: Ich hatte damit etwa das Zehnfache verdient als ich im Bordell gezahlt hatte. Und dachte sehr zufrieden: Du bist noch die begabtere Nutte.
Lese ich den letzten Abschnitt, finde ich ihn nicht sehr sympathisch. Kein Wunder: Triumphe sind das nicht. Das Beschreiben von Erfolgen ist öde – selbst im Film oder in der Literatur interessiert eigentlich nur der Kampf davor. Die Geschichte wird zwar von den Siegern geschrieben, aber die Stoffe liefern die Verlierer.
Deshalb nur noch ein Gedanke. Vielleicht war es ein Fehler, dass ich fast immer nur vergangene Zweifel, Blamagen, Niederlagen waren, die ich als Thema nahm.
Ich schrieb über meine Narben, nicht über meine Wunden.
Hier könnte man radikaler werden. Das Bekenntnis ist ein Genre, an das sich im Journalismus fast noch niemand getraut hat. Ein dunkles Land, ein weisser Fleck. Man könnte dem Leser den Atem rauben.
Ein Schreiber kann doch immer nur “persönlich” schreiben – oder aber “für andere persönlich” schreiben. Letzteres nennt sich dann Public Relations oder Werbetext. Manchmal auch ‘moderner Qualitätsjournalismus’. Wobei ich hinzufügen möchte, dass eine ganze Menge Empathie dazugehört, sich so zu verbiegen und zum Schlangenmenschen zu machen. Trotzdem bemerkt der Leser diese Lohnschreiberei und wendet sich ab. Das Publikum mag zwar verlogen sein – nämlich Objektivität fordern, und auf Tratsch und Skandal hoffen – aber blöd ist es nicht. Zumindest dort, wo es mehr als den ‘Blick’ überblickt …
je höher in der hierarchie, desto mehr gültikgeit hat das “ich”. so einfach ist das.
Natürlich die Narben und nicht die Wunden. Ein “Held” muss etwas gelernt haben aus seinen Niederlagen, dafür bracht es im realen Leben eben etwas Zeit. Sonst macht er die gleichen Fehler weiterhin. Und das ist todlangweilig
Mit jedem ich wird der Schreiber ein bisschen mehr vom Journalisten zum Autoren. Wenn er sein Selbst einführt und das Interesse der Leser genügend kitzelt, wollen die mehr über den Menschen erfahren – was ist das für ein Typ, dass er gerade so und nicht anders geschrieben oder gar reagiert hat. Der Journalist wird selbst zur öffentlichen Person. Das muss man aushalten wollen – oder sogar inszenieren. Das Sternstück über Brüderle – ja, süffig und damit dem Porträtierten angemessen. Nur: Für die wenigsten von uns ist es immer leicht, unser Alter, unseren Beruf und unseren Sexus zu haben.
super beitrag, vielen dank auch für den hinweis auf das lesenswerte porträt cohn-bendits.
Mir gefällt die englische Version des Ichs gut: ME, MYSELF and I
Ich, ich selbst und ihhhh!
Zur Verwendung des Ich:
es gibt diese unsägliche Gesellschaftskolumne in der WELTWOCHE (die inzwischen auch unsäglich wurde). Dort wird der Gebrauch von ich, mir, mein, meine, unser, wir zu einer unerträglichen melange der Selbstdarstellung. Laut Eigenangaben soll diese ‘satirische’ Berichterstattung zu mehr Attraktivität für Leser sorgen. Es sorgt wohl vor allem für Kündigungen der Abos bzw. Verzicht des Erwerbs am Kiosk…
Geehrter Herr Özkan, ich fürchte, dass Weltwoche-Abos noch wegen ganz anderer Gründe gekündet werden. Doch ging es oben gar nicht um Kolumnen in Ich-Form, sondern um die Befreiung der Ich-Form aus den Kolumnen heraus: In den Fällen, wo das Ich eine Rolle in anderen Artikeln spielt.
ich journalismus und redaktion stehen im widerspruch, also lohnschreiber bleiben oder nach einem anderen einkommen ausschau halten. mit der aktuellen form des internets hat jeder westlicher bürger seine möglichkeit seine mitbürger zu informieren, vorausgestzt der verfasser hat auch wirklich was zu sagen.
So sehr ich dem auch zustimmen kann: in meinem Volontariat bei der Stuttgarter Zeitung brachte man mir eine gesunde Skepsis gegen das ICH bei. Ich schlug vor, ein Wochenende lang nur Ego-Shooter zu spielen, Pizza zu futtern und Cola in mich reinzuschütten, um zu sehen, was das mit mir macht, ob ich als Pazifist gar aggressiv werde. Aus heutiger Sicht ein völlig blödsinniger Versuchsaufbau, der keinerlei Erkenntniswert bringt. Sprich: Wenn man zum Ich greift, sollte man sich gut überlegen, warum es gerechtfertigt ist und wer was daraus lernen kann. Und sich selbst keineswegs zu wichtig nehmen.
Was ist denn das bitte für eine Redaktion, in der Drogen und Diebstahl verboten sind? Das sind für meine Begriffe Eckpfeiler modernen Journalismus’!
Yep. Geistiger Diebstahl und Nikotin sind der Rohstoff der demokratiefördernden Informationsindustrie.
ICH spiele überhaupt keine Rolle. Wichtig ist nur das, was man berichtet: die Fakten.
In dem Moment, wo man sich in den Vordergrund spielt, entzieht man den Fakten die Grundlage.
Der Knackpunkt ist, daß man als Person für den Gegner angreifbar wird. Fakten sind nicht angreifbar. In dem Moment, wo das Ich in den Vordergrund kommt, wird der Gegner die Person angreifen und die Fakten spielen keine Rolle mehr, weil sie doch von “dieser Person da” kommen, also gefärbt sind, und damit wertlos.
Das ist ein ganz einfacher Mechanismus. Den darf man seinem Gegner nicht als Waffe in die Hände geben.
Geehrter Herr Özkan, ich fürchte, dass Weltwoche-Abos noch wegen ganz anderer Gründe gekündet werden. Doch ging es oben gar nicht um Kolumnen in Ich-Form, sondern um die Befreiung der Ich-Form aus den Kolumnen heraus: In den Fällen, wo das Ich eine Rolle in anderen Artikeln spielt.