Fakten sind nur die Hälfte der Botschaft. Die andere ist der Stil. Wobei der Stil meist – mehr oder weniger elegant – zum seriösen Transport des Inhalts dient. Wie jeder Vertreter trägt der Text also einen Business-Anzug von der Stange. Was aber passiert, wenn man den Fakten einen echten Massanzug verpasst?
Immer dann, wenn Aufbau und Stil zu keinen anderen Fakten hätten geschrieben werden können, entsteht der Dandy unter allen Artikeln. Ein Stück Irritation.
Ein Massanzugsartikel ist das coolste, was ein Journalist aufs Papier bringen kann. Zum ersten zeigt er, dass jemand in der Form denken kann, nicht nur im Inhalt. Zum zweiten ist er eine grosszügige Geste der Verschwendung: Er ist, weil einzigartig, nur ein einziges Mal zu gebrauchen, so wie ein Hochzeitskleid.
1. In der Form über die Form
Die erste Methode, wie man zu einem Massanzugsartikel – meistens als Konfekt – kommt, ist, die Form seines Gegenstandes als Form selbst zu nutzen. Was kompliziert klingt, wird durch folgendes Beispiel klar – vielleicht den perfektesten Massanzugsartikel der Pressegeschichte. Es ist ein Essay von Heinrich Heine, das knapper und eleganter nicht denkbar ist. Hier die gekürzte Fassung:
Die deutschen Zensoren – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — –– — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – Dummköpfe — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — – — –
Die Chance, einen Massanzugsartikel zu schreiben, bietet sich immer, wenn eine literarische oder sonstige Form direkt oder indirekt das Thema ist. Also Haikus, Telegramme, Sonette, Memos, Reden, Listen, Fragen, Twitter, Dialekt, Kreuzworträtsel, Memoranden, was immer.
Dann sollte man seine Chance wittern. Und voll auf die Form setzen. Etwa in folgendem Beitrag, dem Contra in einem Pro-Contra zur südafrikanischen Tröte, der Vuvuzela, während der WM in Südafrika:
In diesem Blog schon zitiert wurde Robert Gernhardts Sonett über Sonette; Annette Müller schrieb ein sehr schönes Feature über die amerikanische Mode der Sechs-Wort-Sätze in Sechs-Wort-Sätzen. Und einer meiner unerfüllten Pläne ist ein Beitrag zur Homöopathie-Debatte. Dort liesse sich sehr effektvoll die Frage stellen: “Gewinnt eine Substanz durch Verdünnung an Wirksamkeit?” Und zwar dadurch, dass man nach diesem Satz den Rest des Artikels weiss lässt.
2. Die Kritik im Stil der Kritisierten
«Wo steht das? Wo steht das?», fragte mein Deutschlehrer, der es liebte, bei Ärger jeden Satz zu verdoppeln. Dabei zeigte er auf den Satz «Ein Gedicht lässt sich nur durch ein Gedicht beantworten», den ich an den Anfang meines Schulaufsatzes über irgendein Goethe-Gedicht geschrieben hatte. Und darunter ein Gedicht hingehauen hatte. «Wo? Wo?», fragte mein Deutschlehrer. Ich zuckte die Schultern. Und er schrie: «Die Aufgabe ist nicht erfüllt! Nicht erfüllt! Ungenügend! Ungenügend!».
Jahre später, als ich selbst Germanistik studierte, hätte ich es ihm sagen können: Bei den Romantikern war das Mode. (Aber die hatte Goethe auch gehasst.)
Und da man im Erwachsenenalter seltsamerweise alle verlorenen Kämpfe seiner Jugend erneut kämpft (und deshalb ist glücklich, wer viele Kämpfe verliert, denn die Sehnsucht ist es, die einen antreibt, nicht die Siege), bin ich ein Anhänger dieser Methode geblieben.
Also: Bei der Kritik von Kunstwerken mit einem auffällig starken Stil oder Aufbau ist es keine schlechte Idee, Form und Ton des Originals zu übernehmen. Mal, um die Sache direkt zu zeigen, mal als Parodie, mal um das Thema weiterzudenken.
Meistens ergeben sich dadurch ziemlich schillernde, kontroverse, also interessante Mischformen. Hier ein paar Beispiele:
- Die Rezension zum (leider ziemlich schwachen) Raumschiff-Enterprise-Film «Generations». Hier begegnen sich laut Filmplakat «die beiden grössten Kapitäne des Universums»: Kirk und Picard. Interessanter, als sich über den schwachen Film zu beklagen, war, ihn weiterzudenken. Also das Drehbuch zum Treffen der beiden wirklich grössten Kapitäne des Universums zu schreiben: Kirk und Gott. Das sah nach einer kurzen Einleitung dann so aus:
Captains Logbuch. Sternzeit 666.6. USS-Enterprise auf Mission zum Spiralnebel Armaggedon 17. Leichte Erschütterungen im Warp-Antrieb.
Lt. Uhura: «Die Erschütterungen im Warp-Antrieb verstärken sich.»
Kpt. Kirk: «Warp-Wobble-Faktor?»
Lt. Uhura: «Warp-Wobble-Faktor Sieben!»
Kirk: «Warp-Wobble-Faktor Sieben! Spocky, was ist los?»
Lt. Spock: «Sir, wir haben heute wieder den Tag des verlorenen Commanders. An diesen Tagen steigt die irrationale Fluktuation im ganzen Universum auf Heidegger 5. Das bringt den Warp-Antrieb durcheinander.»
Kirk: «Spocky, das Dossier!»
Lt. Spock (bedient den Dossier-Computer): «Der verlorene Commander, B. Jehova – Klingone und Konstrukteur von Planeten im Adam-Smith-System. Genial, aber geistesgestört. Baute das Murphy-Syndrom ins Universum ein: die Katastrophen-Konstante.»
Uhura: «Warp-Wobble-Faktor Neun!»
Lt. Spock: «Der-Warp-Antrieb! Er geht zurück! Warp 12. Warp 11. Warp 10,2.»
Kirk: «Der Status, Mr. Spock!»
Spock: «Irrational-Faktor Heidegger 17! Laut Dossier-Computer befindet sich der Warp-Antrieb in einer negativen Schleife! Bei Warp-Wobble-Faktor 12 wird der Warp-Antrieb in den negativen Bereich kippen!»
Kirk: «Negativ? Roter Alarm! Mr. Spock, was bedeutet ein negativer Warp-Faktor?»
Spock (kühl): «Ein negativer Warp-Faktor bedeutet, dass sich das Raum-Zeit-Kontinuum in Negativ-Energie stülpt und sich die Enterprise in Anti-Materie verwandelt und per Kettenreaktion das ganze Universum. Kurz: Ein negativer Warp bedeutet das Ende des bekannten Universums.»
Uhura: «Warp-Wobble-Faktor elf!»
Spock: «Irrational-Detektor meldet Heidegger 19!»
Uhura: «Warp 4. Warp 1. Warp Wurzel 3.»
Kirk: «Warp Wurzel 3? O Gott!»
Explosion. Bei Warp – 0,000025 verwandelt sich erst die Enterprise, dann das ganze Universum mit Klingonen, Paramount-Pictures und sämtlichen Drehbuchschreibern in Antimaterie. Die Leinwand wird schwarz; Stille. Dann fliegt Käptain James T. Kirk auf seinem Kommandantensessel vorbei.
Kirk: «Irgendwie muss das Raum-Zeit-Kontinuum meines Sessels den negativen Warp überstanden haben.»
Stimme: «Nichts übersteht Warp-Wobble-Faktor 23! Das Eintauchen hinter die irrationale Raum-Zeit-Barriere hat Sie gerettet.»
Kirk: «Wer sind Sie?»
Stimme: «Mein Name ist Walter B. Jehova – der verlorene Commander. Zur Strafe für die eingebaute Katastrophen-Konstante im Universum musste ich Jahrmilliarden hinter der Raum-Zeit-Barriere in konzentrierter Irrealität auf Schlegel 38 verbringen. Jetzt endlich ist das Universum in Antimaterie zerfallen – und damit die Katastrophen-Konstante… und Schlegel 38.»
Kirk: «Und ich?»
Walter B. Jehova: «Du wirst es besser machen. Ein besseres Universum. Ohne Klingonen. Ohne 2.-Klass-Planeten. Ohne Krieg und Leid.»
Kirk: «Und ohne Warp-Wobble!»
Musik.
Einblendung:
Am ersten Tag schuf James T. Kirk, vormals Captain der Enterprise, Himmel und Erde.
- Oder hier die Kritik am Steeruwitz-Roman «Lisa’s Liebe». Dieser war im Bastei-Lübbe-Heftchen-Stil geschrieben, nur trostlos und feministisch. Die Rezension «Das Leben ist melancholische Scheisse» arbeitete in Stil und Haltung gleich.
- Oder die Besprechung von Art Spiegelmans Holocaust-Comic-Ausstellung. Die «Maus»-Comics bezogen ihre Direktheit paradoxerweise darin, dass Spiegelmann mehrere Ebenen mischte: Die Konzentrationslager, dann Spiegelmanns Vater, der sie überlebt hatte, und Spiegelman selbst, der vor dem Schreibtisch mit dem ganzen Wahnsinn klarkommen muss. Um diese Direktheit auch in der Kritik aufs Papier zu bringen, lag die Idee nahe, die Komplexität noch zu erweitern. Um den Kritiker. Und seine Familiengeschichte: aus dem Lager der Täter.
Die Übernahme von Sprache und Bauprinzip aus einer Vorlage ist auch deshalb faszinierend, weil man in fremdem Stil quasi mit fremdem Kopf denkt; oft überrascht einen das Resultat selbst.
Was mir an den letzten zwei Beispielen – zwei ziemlich alten Texte – gefällt, ist gerade das Schmutzige daran: der Mix zwischen Kapern des Stils, Reflexion darüber und der Peinlichkeit, Privates als Material hineinzumischen. Es ist keine distanzierte Besprechung. Sondern eine, in der sich sich der Kritiker mit vollem Einsatz ins besprochene Werk wirft. Eine Technik, mit der, fürchte ich, mehr über die Sache herauskommt, als bei vielen kontrollierten Kritiken, die ich später schrieb.
So weit für heute. Den zweiten Teil dieses Artikels beginnen wir mit etwas Sauberem: einem Skelett. Dann, wenn die Woche noch frisch ist, und Sie und Ihre Hemden gestärkt sind. Bis Montag, also.
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Sehr lesenswerter Artikel, so gut war der TaGi früher auch in der täglichen Berichterstattung, bevor er in die neue schweizerische klein-reaktionäre ‘Beliebigkeit’ verfiel. (Früherer Sympathisant Zürcher Verhältnisse aus Bonn).
Wo kann man diese Droge kaufen?
@Ruckes:
Dem schliesse ich mich gerne an – aus Frankreich.
Und so warte ich gerne – auf den homöopathischen Massanzug…
Ein weiterer selbstverliebter Artikel. Sucht Seibt vielleicht einen Job ;-)? Der Artikel als “Dandy” bleibt einfach eine effizientere Art der versuchten Manipulation des Lesers, also eine unehrliche, respektlose unfaire Form des Dialogs mittels Weglassung nicht genehmer Seiten des jeweiligen Themas. Bringt den Kommentar, wenn ihr so freiheitlich seid, wie ihr glaubt.
Wichtig ist doch allein, dass dieser Artikel ganz einfach unterhaltend war.
Seibt sucht keinen Job. Er ist bloss genauso schwul wie Wilde.
Hach, Herr Schneider. Wenn Sie Ihr Licht leuchten lassen, verwandelt sich die Welt seltsamerweise immer in einen Darkroom.
Trennscharf sind Form und Inhalt ja nicht wirklich auseinander zu halten. Dennoch: Wenn beides massgenau aufeinander abgestimmt ist, so kann man wohl von Kunst sprechen. Im Zweifelsfall ziehe ich aber originelle Inhalte in biederer Form dem umgekehrten vor.