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Meere der Langweile, Orgien der Eitelkeit, Krater der Hölle

Constantin Seibt am Freitag den 25. Januar 2013

Es war heiss, stickig, irgendwann in den Neunzigerjahren. Eine Luft, um ohnmächtig zu werden. Der einzige Mann, der im Raum noch lebte, war der Redner. Seine Glatze leuchtete fahl unter einem einzigen Scheinwerfer.

Ich hatte viel von ihm gelesen. Eine Menge Aufsätze zu Schriftstellern, zwei Bände Autobiographie und sein grosses Buch «Aussenseiter». Hans Mayer war im Fach, das ich studiert hatte – Germanistik -, ein einsamer Könner: ein klarer, kühner, politischer Kopf.

Keine Ahnung, was das offizielle Thema von Professor Mayers Vortrag war. Denn das spielte keine Rolle. Er hielt eine Rede, die ausschliesslich aus zwei Elementen bestand: aus den Büchern, die er geschrieben hatte (mit Titel, Verlagsangabe, Verkaufspreis, meist auch mit Auflagezahl). Dazu erzählte er Anekdoten seiner Begegnungen mit Philosophen und Schriftstellern (Brecht, Benjamin, Thomas, aber auch Heinrich Mann). Wobei der Plural dabei hoch gegriffen war. Denn im Prinzip war es nur eine einzige Anekdote, nur mit wechselndem, aber stets grossem Namen. Professor Mayer erklärte dem Namen etwas, der Name bezweifelte es, aber Jahre später musste der Name Mayer in allen Punkten Recht geben.

Mein Hemd klebte mir am Körper, zur Hälfte vor Entsetzen. Meyers Vortrag war eine Veranstaltung meiner Redaktion, der WoZ. Und er war eine Katastrophe. Um mich herum roch ich den Schweiss der anderen Redakteure. Lauter Leute, die ich für härter, ernsthafter, erwachsener als mich hielt. Ich war nur der Entertainer.

Schliesslich war Mayer am Ende. Im Foyer, beim Rauchen, gesellte ich mich zu einer Gruppe von Redakteuren, auf der Suche nach geteiltem Leid.

«Was für ein Desaster», sagte ich.

«Wieso?», fragten die gestandenen Redakteure.

«Er hat nichts gesagt. Ausser, dass er viele Bücher geschrieben hat. Und immer Recht hatte.»

«Du weisst, wer Hans Mayer ist? Der wichtigste Literaturkritiker der Gegenwart.»

«Ich weiss. Aber der Vortrag war nichts als eine Orgie der Eitelkeit.»

Worauf der Kulturchef mich ernst ansah: «Es ist doch ein Ereignis, dass ein so grosser Mann bei uns auftritt!»

Zu meiner Verblüffung dachten fast zwei Drittel meiner Kollegen ähnlich. Die Botschaft von Hans Mayers Vortrag war die physische Anwesenheit von Hans Mayer. An diesem Abend verlor ich ein Stück meiner Jugend. Mein Bild – hier die erwachsenen, unbestechlichen Kritiker, dort ich, der jonglierende Seehund – bekam einen ersten melancholischen Riss.

Watte am WEF

Später, ebenfalls erwachsen, stellte ich fest, dass sich das Phänomen keinesfalls auf die WoZ beschränkte. Etwa bei meiner ersten Akkreditierung am World Economic Forum. Das Erstaunliche an den Diskussionen dort war, dass man beim Mitschreiben regelmässig den zweiten Teil des Satzes leer lassen musste, weil man ihn beim Aufschreiben des ersten Teils vergessen hatte. Zwar sassen dort die Chefs der grössten Konzerne des Planeten, aber ihre Sätze waren ununterscheidbar: ein Salat aus Wortformeln wie «roadmap», «reform», «leadership», «challenges» oder «opportunities».

Ich traute meinen Beobachtungen nicht. Die mächtigsten Leute der Welt veranstalteten das mieseste Entertainment der Welt.

«Kriege ich etwas nicht mit? Ist da irgendein Geheimnis dabei?», erkundigte ich mich bei einigen hartgesottenen deutschen Wirtschaftsjournalisten, mit denen ich gerade Gratissandwiches ass. (Free food, free drinks, free press.)

«Nö», sagten sie.

«Was tun wir dann hier?»

«Nirgendwo trifft man so viele wichtige Leute.»

«Aber erzählen die irgendetwas Interessantes?»

«Darum geht es hier nicht. Wo sonst kann man mit Bill Clinton, Joe Ackermann und Bill Gates in einem Raum sein?»

Eine Frage des Respekts

Oder bei der letzten Verleihung des Zürcher Journalistenpreises. Der Ex-Ringier, Ex-Tamedia, Ex-NZZ, jetzt FaZ-Verlagschef Tobias Trevisan hielt einen langen Vortrag, mit Lesebrille auf der Nase.  (Hier das Manuskript im Netz.) Er sagte in einer halben Stunde nichts, was auch nur annähernd verblüffend gewesen wäre.

«Er hat fast nichts gesagt», beschwerte ich mich.

«Aber es ist doch toll, dass ein so wichtiger Mann sich die Zeit genommen hat, von Frankfurt her nach Zürich zu kommen», antwortete man mir.

Um ehrlich zu sein, das finde ich nicht. Er hätte in Frankfurt bleiben sollen. So wie Hans Mayer in Tübingen. Oder die Top-Manager in ihren Hotels. Wozu reden, wenn es nichts zu reden gibt?

Ein schlechter Vortrag kann jedem unterlaufen. Auch furchtbare Eitelkeit ist verzeihlich: Hans Mayer ist ein grosser, kluger Autor, trotz ihr. Tobias Trevisan einer der kompetentesten Verlagsmanager. Und die WEF-Teilnehmer haben sicher andere Kompetenzen, als die Welt zu retten.

Aber, ich glaube, das darf keinem Journalisten passieren: Schwurbel kommentarlos zu schlucken oder zu drucken – nur weil ein grosser Name ihn äussert. Das heisst nicht, Prominente härter anzupacken als sonst wen. Im Gegenteil: Man sollte ihnen denselben Respekt erweisen wie jedem Dahergelaufenen auch. Also zuhören. Und dann entscheiden: Was war Quark, was nicht?

Denn bei Vorträgen, Debatten und Interviews zählt als harte Währung nur: «Was wurde gesagt?» Dreht sich die Berichterstattung um die Frage: «Wer war alles da?», so war das Ereignis Müll.

Und das sollte man auch so schreiben. Aus Respekt. Weil man den berühmten Leuten wirklich zugehört hat.

De Sade in den Presserat

Der Marquis de Sade ist zwar sonst der letzte kompetenter Ratgeber, was Höflichkeit betrifft. Aber er hat einen Satz geschrieben, der in jedes Handbuch für journalistische Ethik gehört. Es ist die Begründung, wann man einen Verriss schreiben muss. Egal, wie persönlich oder politisch nah einem der Verrissene steht oder wie glanzvoll eine Veranstaltung besetzt war. Der Satz findet sich am Ende folgender kurzer Episode aus De Sades Hauptwerk «Juliette oder die Vorteile des Lasters».

Juliette und ihre Komplizin Lady Clairwil lernen am Hof in Neapel die Prinzessin Borghese kennen. Sie freunden sich an und verbringen die Nacht miteinander, mit den üblichen Orgien.

Am nächsten Morgen besteigen sie den Vesuv. Am Gipfel fesseln Clairwil und Juliette die Prinzessin und kündigen ihr an, sie in den Vulkan zu werfen.

Die Prinzessin erkundigt sich zu Recht, womit sie diese Behandlung verdient habe.

Worauf Juliette und Clairwil den Satz sagen: «Du langweilst, das genügt.» Und die Prinzessin in den Krater werfen.

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17 Kommentare zu “Meere der Langweile, Orgien der Eitelkeit, Krater der Hölle”

  1. Zum Thema ‘Hans Mayer’ lohnt es sich, Fritz J. Raddatz’ Tagebücher zu lesen. Danach ist jeder Respekt vor diesem Mann dahin, noch nicht einmal der ‘große Literaturkritiker’ hat dann noch Bestand …

    • Constantin Seibt sagt:

      Mag sein, dass der Professor ein Ekel war und zuweilen mit Wasser gekocht hat. Denn man glaubt ja über Leute Böses immer gern so wie Kinder sich gern gruseln. (Auch, wenn Herr Raddatz vielleicht nicht der nüchternste Zeuge ist.) Trotzdem bleibt Herr Mayer bei mir hoch im Kurs. Erstens, weil er in der Wüste der Universitäts-Germanistik zeigte, dass man über Literatur so schreiben kann, dass mans freiwillig liest. Zweitens, weil “Aussenseiter” ein kluges und wichtiges Buch war. Seine Eitelkeit existierte nicht ohne Grund, ich sehe sie – wie bei allen anderen, inklusive mir – mehr als Fluch.

      • Ja – eigenartig, dass die Germanistik so wenig Leute hervorbringt, die schreiben können, obwohl diese Disziplin doch ‘Schreibkönner’ ins Zentrum stellt. Die besten Kritiken stammen aus dem außerakademischen Bereich: Eckardt Henscheid würde mir da einfallen, Arno Schmidt, Alfred Polgar, Peter Rühmkorf vielleicht … alles zugleich Leute, die keinen Kanon kannten, sondern einen höchst individuellen, meist sogar abseitigen Standpunkt einnahmen.

        Vom einem Dandy wie Raddatz sind gerade seine literaturgeschichtlichen Arbeiten heute mühsam zu lesen – die ‘Tagebücher’ dagegen sind Zeitgeschichte …

        • Constantin Seibt sagt:

          Wenn man 4000 Jahre Weltliteratur auf einen Nenner zu bringen versucht, so ist die Gemeinsamkeit wohl die: Schreibe stets so, dass wer Seite 1 liest, freiwillig umblättert, um Seite 2 zu lesen. Bei 99% aller germanistischen Arbeiten verhält es sich genau umgekeht. Das heisst: Aus lebendigem Ausgangsstoff werden trockene Akten angelegt. Ein Literaturstudium ist eine hervorragende Qualifikation, um Beamter zu werden.

          • Das Dumme an der Sache ist nur, dass 99% der Literaturkritiker Germanisten sind.

          • Diese große Regel sollte aber schon auf das jeweilige Publikum bezogen sein: Weshalb jemand nach einer Seite Prosa von Gottfried Benn oder von Heimito Doderer überhaupt noch die Seite umblättert, das ist einer Rosamunde-Pilcher-Leserin schon nicht mehr begreiflich zu machen …

  2. Marcel Oehler sagt:

    Wenn es nicht mehr um den Inhalt geht, kann man nur noch den deutschen Kabarettisten Volker Pispers zitieren: “Das einzige kritische an solchem Journalismus, ist der Geisteszustand des Journalisten.”

  3. Smilla sagt:

    Oder wie Samuel Beckett sagte: “Unsere Zeit ist so aufregend, dass man die Menschen nur noch mit Langeweile schockieren kann.”

    • Constantin Seibt sagt:

      Jep. Es ist immer wieder schockierend, dass die Leute ihre Zeit schon im Vor-Internetzeitalter als hektisch sahen. (Dazu folgender Witz: Erster Helvetier: “Jetzt bauen sie schon wieder eine Römerstrasse!” Zweiter Helvetier: “Ja, wer will denn schon in zwei Tagen von Zürich nach Winterthur laufen!”)

  4. Dorian Selz sagt:

    Danke Herr Seibt, dass jemand mal aufschreibt was über weite Strecken so ist: Die so verehrten Hochwürden (ob Kritiker, Verleger, oder Konzernmanager) sind über weite strecken einfach langweilig. Der Unterschied zum Rest von uns ist, dass sie irgendwann begonnen haben, ihre eigene PR zu glauben. Meist sind sie da wo sie sind weniger wegen Begabung (vielleicht in jungen Jahren einmal), wegen glücklichen Umständen, gutem Timing, Glück und Beziehungen.

    Klar können ihre Vorträge nur langweilig sein und die Resultate ihrer Tätigkeit in vielen Fällen mittelmässig und oft auch miserabel.

  5. Tom Kobel sagt:

    Vor Jahren habe ich als junger Praktikant Gerhard Schröder am SEF in Thun erlebt. Zurück im Foyer, war ich überzeugt, mit den Kollegen über die lauwarme Luft ablästern zu können. Aber der Chef zeigte sich höchst beeindruckt von Schröders Fähigkeit, “druckreif” (jetzt frage ich mich: ein Indikator für Vorgestanztheit?) sprechen zu können. Die Schlussfolgerung war klar: Irgendwas Wichtiges musste mir entgangen sein. Danke für die späte Genugtuung 😉

  6. clandestin sagt:

    Ich hab den Text von Tobias Trevisan grad durch den blablameter.de gepresst. Resultat: “Bullshit-Index :0.29
    Ihr Text zeigt erste Hinweise auf ‘Bullshit’-Deutsch, liegt aber noch auf akzeptablem Niveau.”
    Natürlich habe ich den von Ihnen auch eingegeben, Herr Seibt. Resultat: “Bullshit-Index :0.09
    Ihr Text zeigt keine oder nur sehr geringe Hinweise auf ‘Bullshit’-Deutsch.” Je tiefer der Wert, desto besser. Bravo, Herr Seibt!

    • Constantin Seibt sagt:

      Das ist sehr lieb vom Blabla-Meter. Trotzdem zeigt es, dass ich den Text von Herrn Trevisan vielleicht etwas zu hart abgekanzelt habe. Es ist eine Tour d’Horizon, nicht besonders tief, aber dafür umfassend und mit einem sympathischen Knicks vor dem Qualitätsjournalismus. Vor einem anderen Publikum wäre es ein braver, wenn auch nicht aufregender Vortrag gewesen. Was mich an dem Text geärgert hat: 1. Das Publikum bestand zu 90 Prozent aus Profis. Die kannten 90 Prozent von dem, was Herr Trevisan sagte, schon. 2. In der Krise erwarte ich von den Big-Bossen mehr Ideen.

  7. Hans Kernhaus sagt:

    Was hier über Menschen geschrieben wird, gilt auch für Institutionen und Zeitungen: Wann hat uns eigentlich die NZZ zum letzten mal verblüfft? Sie ärgert nicht einmal mehr. Sie geniesst nur einfach hohes Ansehen. Und sie “geniesst” es wirklich, so wie andere eine gute Zigarre geniessen.

    • Heidi Merz sagt:

      Da muss ich widersprechen! Ich mag die NZZ zwar nicht und boykottiere sie wenn möglich, aber sie liefert schon bedeutend mehr Hintergrundinfo in den einzelnen Artikeln als der durchschnittliche Tagi-Text. Und sie hat insgesamt weniger Druckfehler. Deswegen muss ich ihr zähneknirschend zugestehen, zwar politisch auf der falschen Seite, aber doch bildungsfördernd zu sein. Der Tagi ist demgegenüber Infotainment. Leider. Dafür sympathisch… 😉

  8. Hans Kernhaus sagt:

    Naja, wenn man die Anzahl Druckfehler als Massstab nimmt. Das Dienstreglement der Schweizer Armee, in deren Reihen ich für zwei Jahre die Ehre hatte zu dienen, hatte auch gar keinen einzigen Druckfehler — und las sich, was den Verblüffungseffekt anbelangt, etwa gleich spannend wie die heutige NZZ.

    Es gibt eben auch die perfekte Langeweile. Hey, was würde der De-Sad’sche Vulkan da wunderbar lodern!