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Shitdetector Reloaded: Thesen zu Thesen

Constantin Seibt am Freitag den 4. Januar 2013

 

Letzten Monat stand hier die These, man müsse in einem Text nur allen Unfug streichen. Der Rest habe automatisch Stil.

Ein ungelöstes Problem, das etwa bei Thesen-Artikeln bleibt, ist der Selbstbetrug. Thesen sind quasi die Schaben des Geistes: fruchtbar, gefrässig und fast unzerstörbar. Ihr Überlebensinstinkt ist erstaunlich: Einmal im Haus finden sie überall Indizien, Beispiele und Statistiken. Und sind praktisch immun gegenüber Gegenindizien, Gegenbeispielen und Gegenstatistiken.

Das passiert auch aufgeräumten Köpfen. «Eine gefasste Hypothese gibt uns Luchsaugen für alles sie Bestätigende, und macht uns blind für alles ihr Widersprechende», schrieb Schopenhauer.

Dazu müssen Thesen produzierende Journalisten Blamagen nicht fürchten. Denn sie haben einen mächtigen Verbündeten: die Altpapierabfuhr. Kaum jemand liest ihre Artikel eine Woche später, geschweige denn einen Monat oder ein Jahr. Auch nicht im Netz. Die Flut des Neuen deckt das Alte.

Und die Sofortkritik der Leser liefert keine klare Erkenntnis, was Quark war und was nicht. Test 1 (für Opportunisten) ist: Wird diese These allgemein geteilt? Nur irrt das Publikum manchmal, manchmal aber auch nicht. Test 2 (für Wirkungs-Opportunisten): Regt die These möglichst viele Leute auf? Doch auch der klappt nicht. Thesen sollten scharf sein, sicher. Nur besagt die Schärfe einer These noch nichts über ihre Qualität. Scharfe Gewürze tarnen gern verdorbenes Fleisch.

Unfug im eigenen Kopf

Wie also kommt man sich auf die Schliche? Dringender Verdacht auf minderwertige Ware besteht bei folgenden Genres:

  • Generalthesen: Die Schweiz verfettet, die Welt ist durchökonomisiert, die Männer müssen/wollen/sollen Machos/Softies/Metros/Asexuelle sein, das Internet befreit/verblödet.
  • Totenschein-Thesen: Das Theater, die Geschichte, die SP, CVP, FDP, SVP, der Feminismus, Europa, die USA, der Kapitalismus sind am Ende, out, schon seit langem tot.
  • Messias-Thesen: Doris Leuthard rettet die CVP; Shareholder-Value rettet Aktionärsrechte; Mario Corti rettet die Swissair, Oswald Grübel rettet die UBS.
  • Mainstream-Empörung: Die Manager, die Beamten, die Politiker, die SVP und die Weiber: alle eine Bande von Parasiten, Versagern, Schurken.
  • Anti-Mainstream-Thesen: Böser Umweltmulti verfolgt guten Gentech-Professor; Frauen verhindern Karrieren qualifizierter Männer; die Sozialhilfeempfänger sind die echten Abzocker.

Thesen obiger Art stimmen meist so wie jene der Astrologin Teissier: alle irgendwie halb und im Rückblick eigentlich nie. Blödsinn schreibt man meist in folgenden Fällen: 1. Wenn das Sample zu gross ist. (Also wenn man über die Frauen, die Männer, die Schweizer, den Staat, den Markt etc. schreibt.) 2. Bei Endgültigkeit: Fallbeil und Heiligsprechung klappen fast nie. Manager des Monats sind häufig die Gefeuerten im nächsten Jahr; Tote stehen mit Zombiefilm-Regelmässigkeit wieder auf; Trends sind gedruckt fast immer die Trends von gestern.

Das Gegengift

Was also tun? Mit Schweigen sind Sie auf der sicheren Seite; aber das ist keine Option. Schon, weil die gesellschaftliche Debatte sich nicht in Wahrheiten, sondern in Windungen bewegt: Echte Themen kommen wieder und wieder. Und verändern sich von Runde zu Runde. Es ist okay, mit seinem Stand des Irrtums dabei zu sein.

Meine Faustregeln wären folgende:

  1. Die mechanische Methode bei einer Thesenrecherche ist, die stärksten Gegenargumente zu recherchieren. Das passiert aber zugegeben meistens, um diesen am Anfang des Artikels den Hals umzudrehen. WARNUNG: Dies ist eher ein Versicherungsinstrument als eines der Wahrheitsfindung.
  2. Weit inspirierender ist es, seine These einfach so in der Gegend mäandrieren zu lassen. In Gesprächen mit Fachleuten, Praktikern, Journalistenkollegen, mit Freundin oder Freund, der eigenen Mutter. Ziel dieser Recherche ist vor allem eines: zu prüfen, ob man nicht einen riesigen Gorilla im Raum übersehen hat. So wie etwa die Wirtschaftsjournalisten die anrollende Finanzkrise übersahen. Die Details ihrer Artikel stimmten alle, nur die Artikel nicht. (Hier ein Einstieg zu Unaufmerksamkeitsblindheit und hier das Video eines unsichtbaren Gorillas.)
  3. Schlechte Redaktionen verlangen vor der Recherche eine These; gute eine Frage. Es ist immer klüger, nicht mit einem Ergebnis einzusteigen, sondern mit einem Fragezeichen. Perfekt, wenn die Frage so offen wie möglich ist. Aber selbst wenn Sie bedauerlicherweise von etwas überzeugt sind, ist die Frage fruchtbarer als die Behauptung. Also nicht: «Die Orks sind Schurken.» Sondern: «Warum sind die Orks Schurken?» Oder: «Warum sind die Orks so unerfolgreiche Schurken?»
  4. Im Zweifel gilt: Bei einem wirklich guten Thesen-Artikel muss sich die Lektüre lohnen, selbst wenn die These falsch ist. Wegen der Anekdoten. Der Formulierungen. Der Eleganz der falschen Argumentation. Wenn man schon Irrtümer verbreitet, dann wenigstens funkelnde.
  5. Eine auch im Irrtum lohnende These entsteht fast immer durch die richtige Distanz. Sie gehen ganz nah ran und schildern, wie eine Sache konkret ablief: Sie liefern eine Fallstudie. Oder Sie fragen sich, was das Ganze unter dem Spiegel des Universums bedeutet. Und sehen die Sache mit einem langen Blick wie vom Mars an. Platte Thesen sind fast immer auf Halbdistanz gedacht. Denken ist Bewegung.
  6. Im zweiten Zweifel gilt: Irrtümer, die bereits weit verbreitet sind, sollte man nicht wiederholen. Irrtümer, die keine Lobby haben, sind einen Versuch wert. Sie bringen die Kundschaft zum Denken. Und das gefahrlos. Denn dass Leser wegen eines Artikels die Meinung wechseln, müssen Sie nicht fürchten. Das Publikum hat auch nur Schaben im Kopf.

Ich gebe zu: Das ist nicht gerade viel. Aber Sauberkeit ist in einem Beruf, der sich mit der Welt beschäftigt, nicht gegeben. Ihr Job ist schlicht, den gröbsten Unfug nicht zu schreiben. Das genügt.

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37 Kommentare zu “Shitdetector Reloaded: Thesen zu Thesen”

  1. Endlich steht wieder einmal etwas wirklich Gescheites im Tagi.

  2. Don Kleti sagt:

    Steht da tatsächlich etwas Gescheites im TA?

    • Constantin Seibt sagt:

      Sehr eleganter Meta-Kommentar im Duett: Herr Hebeisen: Eine These. Herr Kleti: Eine Frage.

      • Selma Wyss sagt:

        …und Sie, Herr Seibt, haben den Gorilla in Szene gesetzt: Wie Ihr Hirn H.R. auf “Herr” ergänzt, erstaunlich, erstaunlich. Erstaunlich?

        • Constantin Seibt sagt:

          Nope, Frau Wyss, erstaunlich ist es nicht, sondern zu 99% plausibel! HR Hebeisen verlinkt (wenn Sie im Kommentar oben seinen Namen klcken) auf ein gleichnamiges Fischerei-Fachgeschäft. Und dort ist er laut Rubrik “Wir über uns” a) ein Mann, b) der Chef.

  3. Mark O. Vischer sagt:

    Es gibt schliesslich einen Grund, warum man Zeitungen spätestens nach einer Woche zusammenbindet und zum Altpapier wirft.

    • Constantin Seibt sagt:

      Welchen: Verspieltheit? Verschwendungssucht? Ordnungsinn? Platzprobleme? Bündeltrieb? Schlechtes Gewissen den Bäumen gegenüber, die für die eigene Morgenzerstreuung gestorben sind? Jedenfalls, dank dieser schönen Gewohnheit, können wir die Zeitung immer wieder neu denselben Artikel mehrmals bringen. Auf die Vergesslichkeit der Kundschaft ist Verlass.

      • Mark O. Vischer sagt:

        Manchmal bereue ich es sogar, einige Artikel nicht ausgeschnitten und aufbewahrt zu haben, mit denen es ein Leichtes wäre, den ephemeren, meerschaumartigen Charakter der Zeitungsartikelschreiberei zu belegen. Was kein Vorwurf an die SchreiberInnen ist – bloss an diejenigen, deren Selbsterkenntnis so weit nicht reicht.

        • Frank Ruben sagt:

          Bin 19 Jahre alt und staune immer über diese Zeitungsverliebtheit vieler Menschen. Dabei sehe ich wenig gutes in der Zeitung: Sie aktualisiert oder korrigiert sich nicht (ich erinnere mich an einen groben Namens-Patzer im Sommer von C.Seibt), die Bilder sehen auf dem Zeitungspapier gedruckt richtig schlecht aus und sie verursacht nur Arbeit bei Entsorgung und Recycling. Trennen wir uns von der Zeitung und akzeptieren wir das Tablet. Wer jetzt mit dem Argument der journalistischen Qualität kommt, hat nichts verstanden. Dann würde uns alter Kaffe auch nicht mehr als was neues verkauf werden.

          • Constantin Seibt sagt:

            @ Herr Vischer: Meerschaum kann doch so oder so sein, manchmal wie der Aussatz des Wassers und manchmal hypnotisch schön. @ Herr Ruben: Klar, Zeitungslesen ist eine Gewohnheit älterer Leute: Es war ihr Fenster zur Welt. Aber das Papier wird noch ein Zeit lang lang bleiben, denn das echte Geschäft wird selbst heute noch mit Anzeigen und Abonnenten auf dem Papier gemacht. In Zukunft allerdings… Hier ist allerdings nur Eins sicher: Dass Sie einst als graumelierter Herr von jüngeren Leuten auch mit Staunen betrachtet werden. PS: Welchen meiner Patzer meinten Sie?

          • Alexander Roski sagt:

            Herr Ruben, auf dem Tablet einen Kommentar wie diesen hier schreiben zu müssen, ist ein Akt der Grausamkeit; sowas wie chinesische Wasserfolter.
            Die Zeitung hat dem Tablett und dem Computer immer noch was voraus: man kann so schön vor und zurück navigieren ohne die Orientierung zu verlieren und dabei mehrere Seiten überspringen. Und es raschelt so schön.

          • Frank Ruben sagt:

            @Seibt: Ich meinte den AWD-Patzer vor paar Monaten. Hat online im Artikel übrigens niemand korrigiert! Bewusst? Ich hoffe es nicht! @Roski: Dann diktieren sie den Kommentar doch mit Siri! Interpunktion auch diktieren und bei ganz komplizierten Begriffen einfach buchstabieren!

  4. Jo Köppel sagt:

    Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den Journalisten!

    • Constantin Seibt sagt:

      Sie haben ein ungewöhnlich positives Bild der Presse. Ich dachte, es hiesse: Keinen Gedanken haben und ihn nicht ausdrücken können, das sei unser Beruf.

      • Jaka sagt:

        Nicht korrekt, es sollte heissen: Viele Gedanken, einige Thesen und einen Praktikanten der der Rechtschreibung unfähig ist, machen den Journalisten, welcher gerade ausser Haus dringendes zu recherchieren hat (evt. im nächsten Café oder so…).

        • Constantin Seibt sagt:

          Herr Jaka! Die Flüchtigkeit heutigen Journalismus entsteht weit öfter durch zu viel Arbeit als durch zu viel Faulheit. Die Presse wäre um Klassen besser, wenn alle Journalisten pro Tag eine Stunde im Café herumträumen müssten. Und die Praktikanten würden auch korrekter schreiben, wenn sie weniger würden. Effizienz ist das Gegenteil von effektiv.

      • Hansueli Koch sagt:

        jetzt, wo-Sies säged: So isches!

      • Jo Köppel sagt:

        In diesem Beruf reicht auch Ausquetschen, wenn man nichts ausdrücken kann.

        Wilhelm Busch:
        “Oft ist das Denken schwer, indes
        Das Schreiben geht auch ohne es.”

        • Stephan Michel sagt:

          Auch Wilhelm Busch:
          «Gedanken sind nicht stets parat,
          man schreibt auch, wenn man keine hat.»

  5. Fritz Iversen sagt:

    Sehr schön systematische Darstellung. Thesen lassen sich tatsächlich am Fließband fabrizieren, weil man mit ein bisschen Formulierungsgabe jeden Unsinn plausibel begründen kann. Trotzdem können “Thesen-Artikel” nützlich sein, nämlich wenn sie nur einen Blickwinkel in eine Debatte einbringen wollen. Im Journalismus machen sich allerdings immer mehr die getarnten Thesen breit, damit meine ich “Berichte”, die die Leser überzeugen oder sogar überreden wollen, etwas bestimmtes zu glauben. Wobei die Leser immer ihre eigenen Thesen haben und sowieso nur “Ja!” denken, wo sie Zustimmung finden.

  6. Constantin Seibt sagt:

    Tatsächlich. Leserbriefe lassen sich zu 95% in folgende zwei Kategorien einteilen: Ganz meine Meinung – grossartiger Artikel. Nicht meine Meinung – warum hat Sie Ihr Chefredaktor noch nicht gefeuert?

  7. Hansueli Koch sagt:

    “unerfolgreich” statt erfolglos (bei den Orks): Aha, jetzt hab ich Sie erwischt; wahrscheinlich vor lauter Wald (äh Thesenhaftigkeit) die Bäume (äh Wörter) nicht mehr gesehen …
    😉

    • Constantin Seibt sagt:

      Nö. Es ist der bewusste Versuch, durch etwas bürokratisch klingende Biegung der deutschen Sprache einen Mini-Akzent auf wie ich finde, sehr komische Tatsache zu legen, dass die Orks trotz ihrer Fokussierung unter dem Strich alles verhaun, was sie vorhaben. Sie sind ungelenke Schurken, deshalb ein ungelenkes Wort.

  8. Hansueli Koch sagt:

    Und grad noch einer: Was um alles in der Welt meint wohl “unter dem Spiegel des Universums”? Wie ichs dreh und wende, es entsteht keine Perspektive/Fokussierung/Blickwinkel oder -richtung daraus, auch keine grosse oder kleine Distanz, aber was sonst?

    • arnold gasser sagt:

      Das ist gut, so halten Sie sich in diesem Nebel auf statt von aussen zu erkennen, dass gerade die Nebelpetarde losgegangen ist. Bis Sie kapiert haben, was geschehen ist, sind schon wieder 3 neue Artikel erschienen, welche Sie in den Bann ziehen. Hehehe!

    • Alexander Roski sagt:

      Ich denke, der “Spiegel des Universums” setzt sich aus der Assoziation von “etwas im Spiegel betrachten” (genau betrachten) und dem Universum als dem alles Umfassenden zusammen. Also sinngemäss etwas sehr genau und sehr umfassend betrachten. Semantisch ergibt das natürlich keinen Sinn. Klingt aber für Herrn Seibt wohl sehr schön.

      • Constantin Seibt sagt:

        Ja, genau. Es ist ein Privatausdruck für: Wenn wir jetzt diese Sache betrachten, angesichts der Existenz von Milliarden Sternen, Milliarden Jahren, der Ausdehnung von Miliarden Lichtjahren, der Tatsache, dass es sehr viele verschieden Tiere gibt und gab sowie Menschen, dass Bibliotheken bereits über alles geschrieben wurden und noch geschrieben werden, dann komme ich in dieser speziellen Sache zum Resultat, dass… Ich mag ihn, ätsch.

        • Stephan Michel sagt:

          Vielleicht ist es ja auch eine Privatumformulierung von «sub specie aeternitatis», wer weiss?

  9. Hugo Stemmler sagt:

    Zeitpunktbezogene Behauptungen im Bereich des Überweltlichen wie z.B. der angekündigte Weltuntergang per 21. Dezember 2012 sind die beliebtesten aller Thesen, denn es fehlt jegliche Grundlage für eine Beweisführung und sie erzeugen Spannung, Diskussionen, Spässe, Hamsterkäufe, Wetten und ganz viele Ängste. Zum Schluss folgt wie das Amen in der Kirche jeweils die Erleichterung über das Happy End oder zumindest die erfreuliche Gewissheit, dass man selbst – rational wie man ist – bei der Einschätzung der nicht pünktlich eingetretenen Katastrophe einmal mehr den richtigen Riecher hatte!

  10. Hannes Müller sagt:

    Die beste Methode gegen Thesen ist Schweigen.

  11. Hannes Müller sagt:

    Im übrigen: Der Artikel ist sehr vergnüglich zu lesen.

  12. Werner Obrecht sagt:

    Die Thesen-These ist interessant, aber noch undifferenziert: Wie wäre es, wenn Sie versuchen würden, Arten von Thesen zu unterscheiden, z.B.: die Existenzbehauptung (es gibt eine Verschwörung X, eine Interessengruppe Y, die..); die Verallgemeinerung von Fakten (alle Männer sind…), die Prognose (am 21.12. wird die Welt untergehen; die Mechanismusthese X war das Ergebniss eines Prozesses Y, ausgelöst durch Z etc. Anschliessen kann man Fragen dazu stellen: welche Argumentations-, Recherchen od. andere Probleme sind für einzelne Thesen spezifisch etc. Hinweis: Literatur zu Wissenschaftstheorie.

  13. Sven E. sagt:

    Wenn DIE Frauen aber nicht mehr die politischen Retterinnen der Schweiz sein dürfen, DIE SVPler nicht mehr ewiggestrige Blockierer und DIE Banker nicht mehr alles Abzocker, wird es eng mit der Berichterstattung für den Tagi.

  14. John Pasta sagt:

    Brillant und großartig! Danke!