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Wie man das Unbekannte im Bekannten entdeckt

Constantin Seibt am Freitag den 7. Dezember 2012

Früher, auf den ersten Landkarten der Neuzeit, gab es weisse Flecken. Auf diesen stand: Hic sunt leones – Hier gibt es Löwen. Und auf die Seekarten schrieb man: Hier gibt es Drachen.

Heute gibt es Satelliten, GPS und Google Earth. Die Welt ist bis zum letzten Zentimeter vermessen. Wikipedia, Zeitungsarchive, Bibliotheken bersten vor Wissen. Alles ist gesehen, gesagt, kommentiert. Und fast alles mehrmals. Die Entdeckerarbeit ist getan.

Ist sie?

Das Problem vor dem Kaffee

Wie in der letzten Folge beschrieben, gibt es zwei fundamentale Richtungen der Recherche: Die, das Neue im Verborgenen zu finden. Und die, dasselbe im Offensichtlichen zu tun, durch einen neuen Blick.

Es ist diese Sorte Journalismus, die mich fasziniert. Die Schwierigkeit ist hier, zunächst den weissen Flecken im besiedelten Gebiet zu entdecken. Bevor man überhaupt die Arbeit starten und ihn kartographieren kann. Die Frage ist: Wie kommt man aus all dem Wust des Bekannten, des Selbstverständlichen, der Routine wieder ins Unbekannte?

Genauer: Wie schafft man es, wieder zu staunen, morgens um 10, im Büro, als der schon etwas zerschlissene Angestellte, der man ist?

Denn das ist der Tretmühlen-Job jedes Qualitätsjournalisten. Es werden viele Definitionen von Qualität im Journalismus gegeben: Aktualität, Faktenkenntnis, Fairness, Relevanz. Alle haben den Nachteil, nach Pflichtprogramm zu klingen. Und manchmal lesen die Resultate sich auch so.

Qualität, das ist vor allem eine Haltung. Und ohne den Zauber des Staunens vor der Welt ist Journalismus vor allem Wiederholung. Keinem Menschen von Verstand kann man vorwerfen, dafür nicht zu bezahlen.

Okay, aber wie kommt man als Routinemensch dazu, erst halb wach, viel zu gut informiert, beim zweiten Kaffee?

Nun, es gelingt nicht immer. Aber es gibt ein paar Faustregeln:

1. Suchen Sie Geheimnisse, wo sich alle tummeln

Sucht man das Exotische, ist das Exotische die falsche Adresse. Über die Uranmine in Afrika, den verrückten Astronauten oder den Hund mit drei Köpfen genügt ein nüchterner Bericht.

Der Ort, wo es sich zu suchen lohnt, ist das, was alle sehen, alle tun, worüber alle schreiben, was fest steht. Denn die meisten Menschen bewegen sich durch den Alltag wie Blinde. Sie tun das erstaunlich geschickt. Aber sie sehen nichts.

Und Sie? Sie natürlich auch nicht. Sie sitzen auch nur in einem Büro. Um trotzdem ein Geheimnis zu entdecken, lohnt es sich folgende Liste zu machen:

  • Was sind im Moment die grossen Stories? Damit kommen Sie auf Dinge wie: die Finanzkrise, die US-Verhandlungen, Weihnachten, die Immobilienblase, die schwangere Prinzessin, der Zeitungstod, etc.
  • Was tun alle? Hart arbeiten, US-Serien sehen, Twittern, Kinder erziehen, etc.
  • Was glauben alle? Etwa: Beamten sind bürokratisch, Politiker lügen, Weihnachten wird es grässlich, etc.

Es wird eine Liste voller Banalitäten sein. Und das ist wunderbar. Denn je banaler, desto besser. Nun müssen Sie nur noch anfangen, die Liste mit ein paar Fragen zu bombardieren.

2. Stellen Sie die klassische Kinderfrage: Warum?

Kinder sind unverschämt. Sie gehen gern nackt. Gute Journalisten auch.

Denn Unverschämtheit ist mehr als Frechheit. Es bedeutet vor allem, Tabus nicht zu kennen. Genauer: Sie nicht anzuerkennen. Und ihre Gültigkeit – wie die verfluchten Kindchen – Tag für Tag erneut zu testen.

Das grösste Tabu in Redaktionen ist, keine Ahnung zu haben. Das lohnt sich zu brechen. Obwohl die Versuchung gross ist, sein Nichtwissen zu überspielen, um seine Inkompetenz nicht zu entblössen.

Doch das wäre ein Fehler. Denn dadurch verpassen Sie die eigene Verblüffung, die besten Fragen und gute Stories.

Die erste Frage, mit der Sie Ihre Kollegen oder zumindest die obige Liste foltern sollten, ist die klassische Kinderfrage: Warum?

Sie führt fast immer von einer bekannten Tatsache in eine faszinierende Landschaft. Etwa bei folgenden Dingen.

  • Die Deutschen sind für Sparpolitik. Wie man liest, wegen des Traumas mit der Inflation. Nur: Warum? Gibt es so etwas wie Nationaltraumas? Und wenn, warum ist es die Inflation von 1920? Und nicht die Sparpolitik von 1930, mit den Folgen von Massenarbeitlosigkeit und Hitlers Wahl? Oder betreibt Deutschland nur Interessenpolitik? Und warum glauben die Deutschen, mehr als andere zu arbeiten? Tun sie es überhaupt? Und wenn, wer profitiert eigentlich davon? Etc.
  • Im US-Wahlkampf wird viel gelogen. Nur: Warum? Warum werden andauernd Politiker gewählt, die lügen? Schätzen die Wähler das vielleicht? Ist es vielleicht eine Qualität von Politikern, zu lügen? Weil es auch eine Form ihres Job ist, Dinge zu verändern? Wo darf die Politik lügen, wo wird’s gefährlich? Für den Politiker selbst, für das Land? Und welche Rolle spielen die Medien? Und warum lügt der eine -Romney – mehr als der andere?
  • Weihnachten ist oft schlauchend. Nur: Warum? Warum strengen einen Verwandte an, selbst wenn man sie liebt? Sind Eltern anstrengend, weil ihnen alle Versionen von einem – vom Kind bis heute – bekannt sind? Oder weil sie einen nicht kennen? Verabscheut man gewisse Familienmitglieder wegen ihrer Fremdheit oder ihrer Ähnlichkeit? Und geht es der Mutter, dem Vater und den Tanten eigentlich gleich: Dass sie einen auch als anstrengend, aber unvermeidlich sehen?

Die drei Beispiele zeigen: Mit der einfachen Frage «Warum?» gelangt man innert Minuten von einer asphaltierten Tatsache mitten in uferlosen Morast. Und das ist das Ziel. Denn der Morast ist frisch, er ist das Neue. Das üble Gefühl der Verwirrung im Kopf ist das Zeichen, auf der richtigen Fährte zu sein. Niemand hat je gehört, dass Entdecker ein bequemes Leben führen.

3. Stellen Sie die zweite Kinderfrage: Wie genau?

Diese Frage führt Sie seltener in den Sumpf, dafür aber auf direktem Weg in die Tiefe des Themas. Und damit fast immer sofort an die Grenzen ihres sicher geglaubten Wissens.

Fast jedes Mal verwandelt sich eine Banalität in eine Recherche. Bis sie es wirklich wissen.

  • Exotische Finanzderivate haben das Finanzsystem destabilisiert. Nur: Wie genau? Also: Welche? Wer hat sie entworfen? Und mit welchem Plan? Und was passierte, dass das Zeug toxisch wurde?
  • Viele verstecken Schwarzgeld. Nur: Wie genau? Also: Wer? Wo? Wieviel? Mit welchen Konstruktionen? Mit wessen Hilfe? Und welchen Motiven?
  • Alle sehen US-Serien. Sie sind unglaublich gut geworden. Nur: Wie genau ist das passiert? Also: Wer dreht, wer entwirft sie? Was macht ihre Grossartigkeit aus? Und warum finanziert jemand Kunst?

Zugegeben: Die «Wie genau?»-Frage ist weniger unordentlich als das «Warum?». Aber als Startrampe für zwei, drei Tage nicht unkomplizierte Recherche reicht sie fast immer.

4. Drehen Sie Klischees um wie Steine

Klischees sind im Alltag praktisch für schnelle Orientierung. Aber selten die ganze Wahrheit. Es lohnt sich immer, über sie nachzudenken. Etwa:

  • Der Staat ist bürokratisch, die Wirtschaft nicht. Wirklich? Wenn Sie hinsehen, werden gerade die grossen Konzerne riesige Bürokratien unterhalten. Und einige Ämter erstaunlich effizient arbeiten. Und das manchmal sogar wegen ihrer Langsamkeit.
  • Abzocker-Manager sind gierige Egoisten. Wirklich? Agieren sie nicht eher als Herde? Und ist Gier das zutreffende Motiv? Ist es nicht eher: Konvention oder Statusangst? Eigentlich: Phantasielosigkeit? Und ist ihr Zugreifen ein Zeichen der Macht? Oder eine Kompensation der Ohnmacht, an der Spitze zu stehen und so wenig steuern zu können?
  • Sozialarbeiter sind Gutmenschen. Wirklich? Die meisten, die mir über den Weg liefen, sind ziemlich klare, illusionsfreie Leute, die ihre Kundschaft gut kennen.
  • Unternehmen gehen pleite, weil gepfuscht wurde. Wirklich? Wird nicht in jedem Unternehmen, das man gut kennt (etwa das eigene), schrecklich gewurstelt? Ohne klare Strategie? Dafür mit Widersprüchen und schrecklichen Personalentscheiden? Und wenn das so ist: Warum ist dann die Welt so erstaunlich pfuschresistent? Und warum gehen trotzdem welche unter?

Das Wichtige beim Umdrehen von Klischees ist: Man sollte es nicht mechanisch tun. Zwar ist es reizvoll zu behaupten: Das Gegenteil ist die Wahrheit. Beweise werden sich dafür schnell finden. Nur besagt das nichts. Denn jede noch so absurde These saugt automatisch Indizien an. (Nicht zuletzt, wenn man alles ihr Widersprechendes weglässt.)

Widerstehen Sie also dieser Versuchung. Denn meistens ist das Gegenteil von Unfug ebenfalls Unfug. Man sollte Klischees umdrehen, aber nicht wie der Zauber eine Spielkarte, sondern wie das Kind einen Stein. Um auf der Rückseite die Maden, Würmer und Ameisen zu betrachten, also das Leben darunter.

Profis sind Profis im Nicht-Profi sein 

Aber natürlich stimmen Umkehrungen von Klischees verblüffend oft. Am häufigsten in unserem Job, dem Journalismus.

  • Denn nicht das Wissen ist die wahre Ressource. Sondern das Nichtwissen.
  • Echte Profis erkennt man nicht an ihrer Abgebrühtheit. Sondern an ihrer Naivität.
  • Guter  Journalismus erklärt die Welt, sicher. Aber wirklich guter Journalismus tut auch immer das Gegenteil: Er verzaubert sie wieder.

So. Und jetzt brauchen Sie und ich, wir schon etwas zerschlissenen Angestellten, einen weiteren Kaffee.

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15 Kommentare zu “Wie man das Unbekannte im Bekannten entdeckt”

  1. Severin Meier sagt:

    Inspirierend! Vielen Dank, das hat mir den Tag gerettet.

  2. Philipp Ritterfeintrinkermann sagt:

    ich habe den artikel nicht gelesen, dafür habe ich ein damenräuschen von der chlausfeier gestern. ich kann also nichts zum artikel sagen. ausser vielleicht “schulz” oder “jörg”. es gibt aber keinen guten journalismus. journalismus ist dazu da, die leute über dinge aufzuklären, die sie schon wissen; und um vorurteile zu bestärken. eigentlich ist der journalismus der vorhof zur hölle.

  3. Jonas Manser sagt:

    Schön gesagt. Die Frage nach dem “warum” ist wirklich eine der zentralsten überhaupt, und es ist erschreckend, wie wenig sie angewandt wird. Beispiel 9/11: Das “was, wann, wo, wie” wurde bis zum Erbrechen durchgekaut. Die Frage, woher der Hass einiger Menschen kommt, eine solche Tat minutiös zu planen und auszuführen, wurde kaum gestellt. Wenn, dann genügte die einfache Erklärung: Islamisten, hassen Amerika sowieso. Frage beantwortet. Kein Wunder kam George W. Bush mit so stupid-simplen Wortkonstruktionen wie “Achse des Bösen” durch.

  4. Ich lese die Texte von Ihnen, Herr Seibt seit einigen Jahren (sei es in der WoZ, in der Weltwoche oder im Tagi) und ich bin erfreut, dass sie immer differenzierter und lesbarer werden. Ich hoffe nun, dass Se die hier beschriebenen Prinzipien auch für sich anwenden. Eine Frage ist nämlich immer auch: Wie wäre es, wenn der Andersdenkende recht hätte? Dieser Seitenwechsel führt zu neuen Gedanken und löst Clichées und Voruteile auf (Siehe: Dynamische Urteilsbildung). Ich glaube, dass Sie, wie viele andere Journalisten viel vom hervorragenden Weltwoche-Journalismus gelernt haben.

    • Viktoria Steiner sagt:

      Wo hat der “hervorragende Weltwoche-Journalismus” je gefragt, “was, wenn die anderen recht hätten”?
      Dort geht man doch normalerweise nach dem Muster “wir sind die anderen.” “Wir haben recht.” vor. Wenn sie Ihren Rat (den ich durchaus interessant finde), beherzigen würden, dann müsste sich die Weltwoche fragen – was, wenn es der Schweiz doch genützt hätte, dem EWR beizutreten? Was, wenn die freie Marktwirtschaft doch nicht immer geeigneter wäre, um einen Dienst bereitzustellen? etc.

      • Immerhin ist in der Weltwoche eine gut dokumentierte, gut recherchierte andere Meinung zu lesen. Welchen Schluss ich daraus ziehe, ist mir als Leserin freigestellt. Gerade heute lese ich ja in allen anderen Zeitungen, dass ein EWR-Beitritt der CH genützt hätte, was ich aufgrund der desolaten heutigen Situation in der EU nicht so sehe. Warum sollte es denn der CH noch besser gehen? Es geht ihr doch gut. Dass die Planwirtschaft besser sei als die Marktwirtschaft habe ich vor 30 Jahren auch noch geglaubt. Der traurige real existierende Sozialismus hat mich schon lange eines Besseren belehrt

  5. Panama Lodge sagt:

    In Punkt 3 fehlt im ersten Satz ein Verb. Vielleicht könnte jemand nach dem Kaffee mal eins einfügen: «Fast jedes Mal […] sich eine Banalität in eine Recherche. Bis sie es wirklich wissen.»

  6. Unterwegs sein mit offenen Augen und Ohren und dem Gespür für Menschliches und Allzumenschliches und einer Spur Humor für die eigenen Schwächen war und ist mein Rezept! Die schlimmste Fallgrube: Sich zu ernst und zu wichtig zu nehmen und im Büro zu sitzen.

  7. Warum fragen wir uns nicht öfters, was das Leben lebenswert macht? Warum leben wir in einer Zeit, wo jeder am selben Tropf hängt, sich bis zur Selbstaufgabe durchwurstelt und sich noch einbildet, ein besonderes Unikum zu sein? Warum nehmen die Lügen der Politiker und Wirtschaftsbosse kein Ende? Warum ertragen wir sie, ohne mit der Wimper zu zucken? Warum sind wir so mutlos geworden und glauben allen Ernstes irgendwie davonzukommen? Warum haben wir Angst davor, in einem anderen Leben etwas zu entdecken, dass uns keine Ruhe mehr lässt? Warum rieselt der Schnee und rundum wird’s still.

  8. Stefan sagt:

    Warum kann man eigentlich einen so guten Artikel kostenlos lesen?

  9. Cornelis Bockemühl sagt:

    Recherche “ins Grosse” – nicht nur “ins Detail”: wirklich interessanter Vorschlag! Und, wenn wirklich offen betrieben, nicht weniger arbeitsintensiv.

    Leicht wird das mit dem Gegenteil vermischt – auch hier in den Kommentaren: mit billigen Meinungs-Journalismus. Man deklariert die eigene Meinung einfach als per se “originell” – und giesst sie dann überall gleichermassen drüber. Ich muss kaum sagen wovon ich spreche…

    Man erkennt das leicht: BEVOR man einen solchen Artikel liest überlege man schon mal was da wohl stehen wird. Wenn man dann durch die Lektüre NICHT überrascht wird ist’s klar!

  10. Irène Dietschi sagt:

    Wenn die Kindchen grösser werden und in die Pubertät reinwachsen, mutieren sie im Hui zu abgebrühten Besserwissern. Und -wisserinnen. Dann gehört ihnen die Welt, ohne weisse Flecken! Wenn Sie sich in so einem Umfeld Ihre journalistische Unschuld bewahren wollen, lieber Herr Seibt, müssen Sie sich noch wärmer anziehen als im Tagi. Ich sitze hier Schreibtisch und trinke Glühwein. Wissen Sie warum und wie genau;-)?