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Eine Konstruktion, so stabil und elegant wie ein Stahlträger

Constantin Seibt am Mittwoch den 10. Oktober 2012

Das Telefon klingelte. Ich nahm ab.

«Wie konntest du nur?», fragte meine Grossmutter.

«Was?», fragte ich.

«Wie konntest du das nur schreiben?», fragte sie.

«Äh, welchen Artikel meinst du?»

«Den über unsere Familie. Erstens stimmt höchstens die Hälfte. Und zweitens unter diesem schrecklichen Titel!»

Plötzlich wusste ich, was sie meinte. Mein Familienartikel hatte es bis nach Deutschland geschafft. Etwa zwei Jahre nach seinem Erscheinen. Irgendein böser Mensch hatte ihn meiner Grossmutter gegeben.

«Wie konntest du nur diesen Titel darüber setzen?», sagte sie.

Ja, wie konnte ich nur?

Das Problem der Übergänge

Ich weiss noch, wie glücklich ich war, als ich auf die Idee dafür kam. Es war die perfekte Lösung für ein vertracktes technisches Problem: das Problem der Übergänge in einem unstrukturierten Stoff.

Mein Auftrag war, eine Seite in der WOZ-Familienbeilage zu füllen. Ich wusste sofort, was ich schreiben wollte: die besten Familienanekdoten.

Ich hatte sicher fast 100 davon im Ohr. Es war das Erbe einer langen Kindheit, in der ich lange zuhörte: Meiner Mutter, meinen Grosseltern. Es waren fast alles Geschichten, die sich um Katastrophen drehten: um Politik, Krieg und Flucht.

Und deshalb fiel das Schreiben auch leicht. Wegen ihrer Dramatik konnte man die einzelnen Anekdoten kaum verhauen. Doch dann stiess ich auf ein ernsthaftes Problem: die Übergange dazwischen. Sie liefen etwa so:

«20 Jahre vor dieser Geschichte, diesmal in Österreich, hatte eine andere Tante von mir ein anderes Problem.»

Oder:

«Der Bruder der Tante aus der vorherigen Geschichte war 15 Jahre später …»

Egal wie lang man daran feilte, die Zwischenpassagen blieben umständlich. Sie machten den Text teigig und verwirrend. Ich verzweifelte eine halbe Nacht, bis ich auf die richtige Konstruktion kam. Sie schien mir so kühn, so schlank wie die ersten Häuser aus Stahl und Glas.

Ich gab dem Text den Titel «Die sieben Todsünden», strich alle Übergänge komplett und verwendete stattdessen die einzelnen Sünden als Zwischentitel.

Der Text sah in der Struktur dann so aus (hier in der kürzesten Zusammenfassung):

Die sieben Todsünden

Einiges über die Sünden meiner Grossonkel und Grosstanten – über Liebe, Verrat, Militär, Pornographie und den Umgang mit Hitler.

1. Neid

Mein Urgrossonkel Ferdinand verkaufte 1918 für 1,5 Millionen Reichsmark seine Luxusvilla in Hamburg. Ein Vermögen, dass ihm ein Bohemienleben auf immer garantierte. Fünf Jahre später, auf dem Höhepunkt der Inflation 1923, konnte er sich gerade noch ein Brötchen dafür kaufen. Er lebte dann arm und verbittert in einer Mansarde, bis… Bis bis bei einem Flugzeugangriff 1944 die Villa samt der Familie des Käufers zerbombt wurde. Worauf Ferdinand, als vielleicht einziger unter den Millionen Toten damals, mit einem Lächeln auf dem Gesicht starb.

2. Zorn

Die Geschichte meines Grossonkels Kurt, der im ersten Weltkrieg ein Flieger-As gewesen war. Und als Offizier später noch im Freikorps aktiv war. Der Profi-Soldat heirate eine Bankdirektorstochter. Und wurde von der neuen Familie gezwungen, in der Bank ganz unten am Schalter anzufangen. Seine Kollegen hassten ihn, weil er der Schwiegersohn des Chefs war und als Offizier privat nicht mit ihnen sprach. Schliesslich klagten sie ihn der Unterschlagung von 10 Pfennig an. Kurt ging nach Hause und erschoss sich. Das war 1932. Ein Jahr später hätte man einen Mann wie ihn wieder gebraucht.

3. Wollust

1948, an der Zonengrenze, rettete Pornographie meiner Grossmutter das Leben. Sie hatte ihren Hausrat aus Jena herausbekommen und sass in einem offenen Eisenbahnwagon. Die Russen durchsuchten die Kisten. In der dritten fanden sie die Aktzeichnungen meines Opas aus der Kunstakademie. Sie zeigten sie sich aufgeregt (mein Grossvater war ein sehr präziser Zeichner) und meine Grossmutter sagte: «Nehmt!» Darauf schlugen sich die Russen damit in die Büsche. Was meine Grossmutter nicht wusste: In der Kiste, die die Russen als nächstes durchsucht hätten, war noch das alte Seitengewehr meines Grossvaters verpackt. Damals stand auf Waffenschmuggel Todesstrafe.

4. Geiz

Der Bauernhof meiner Vorfahren stand genau auf der Zonengrenze. Deshalb lebte dort ein DDR-Grenzer. Er wurde mit den besten Fleischstücken gefüttert, er war der erste dicke Mann, den meine Mutter nach dem Krieg sah. Die Bäurin, Nellie, die Schwester meines Grossvaters. Als dieser sie nachts – heimlich aus dem Westsektor kommend – besuchte, versuchte sie, ihn dem Grenzer auszuliefern, um noch bessere Karten bei den Behörden zu bekommen. Sie öffnete “versehentlich” die Kammer zu dem Grenzer. Doch der schlief. Und der Hof wurde kurz darauf geräumt, um dort Stacheldraht und Minenfelder für die deutsch-deutsche Grenze anzubauen.

5. Völlerei

Mein Grossonkel Karl, der verrückt wurde. Angeblich wegen eines Tritts von einem Pferd der K.u.K.-Kavallerie. Und der in sein Zimmer hinein wucherte wie eine riesige Frucht. So dass man nach seinem Tod kaum wusste, wie man ihn durch die Tür bekommen sollte.

6. Hochmut

Meine Grosstante Liesl galt als das schönste Mädchen von Linz. Und wechselte die Verehrer wie über Irland das Wetter wechselt. Als anerkannt Schönste der Stadt überreichte sie Hitler nach dem Anschluss Österreichs einen Blumenstrauss und weigerte sich daraufhin, die Hand zu waschen. Nach dem Krieg verliebte sie sich in einen US-Sergeant namens Rick, Nick oder Mick. Es war eine obsessive Liebe. Als ihr Mann nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft zurückkam, begrüsste sie ihn am Gartentor mit dem Satz: «Ach, du bist wieder da.» Und ging zu dem Sergeanten. Als dieser sie verliess, wurde sie verrückt. Sie trug riesige Hüte, zitierte seitenweise Shakespeare und sang auf dem Balkon für das Volk. Als sie starb, standen Dutzende ergraute Männer an ihrem Grab, für die sie die Liebe des Lebens gewesen war.

7. Trägheit

Selbst für eine Zusammenfassung ist das angenehme Leben meines Grossonkel Louis zu ausführlich, das er im Militär, im Antiquitätenhandel, als Dirigent der Wiener Philharmoniker und vor allem als Snob verbrachte. Hier nur die Geschichte des zweiten seiner drei Flugzeugabstürze: Als meine Urgrossmutter Geburtstag hatte, änderte Louis die Route seines Dienstflugs und kreiste im Doppeldecker über der Familienvilla. Meine Urgrossmutter ging auf den Balkon und winkte, Louis lies das Steuer los, winkte zurück, und das Geburtstagsgeschenk war ein brennendes Flugzeugwrack im Garten.

Setzkästen für Sammelsurien

Pardon, ich habe mich hinreissen lassen. Worum es ging: Im Halbfeuilleton stösst man immer wieder auf dasselbe Problem: unstrukturierter Stoff. Das kann eine Sammlung von Anekdoten, Skizzen oder Reflexionen sein. Oder eine impressionistische Reportage wie etwa eine Nacht quer durch die Bars der Stadt, in der Notfallaufnahme oder mit dem Securitaswächter. Jedenfalls ein Stoff mit vielen Einzelteilen, ohne klaren Höhepunkt und ohne klare Hierarchie.

Immer stellt sich dann das Problem der Übergänge – und die besten Übergänge sind keine. Sondern harte Schnitte. Deshalb lohnt es sich, in solchen Fällen länger über ein Konzept von Zwischentiteln zu brüten.

Dieses Korsett sollte im Idealfall dem Leser schon bekannt sein. Dadurch schafft es einen klaren Rahmen für die Bausteine in ihrem Setzkasten. Oder genauer: Es schafft den Setzkasten selbst.  Dabei tut es nichts zur Sache, wenn es leicht absurd ist.

Denkbar wäre etwa (für die Nacht in der Bar oder Reflexionen zum Lesen oder die Notfallaufnahme etc.):

Der Passionsweg: Hosianna – Judaskuss – Kreuzigung – Auferstehung

Das Fussballspiel: Ermahnung des Trainers – Ankick – Tor – Pausentee – Gegentor – Verlängerung

Der Weg der Liebe: Der Blick – Der Flirt – Die Nacht – Die Hochzeit – Das Schweigen

Das Reaktionsmuster auf Schocks: Leugnen – Wut – Verhandeln – Resignation – Akzeptanz

Ein Abzählreim, etwa: Ene, mene Tintenfass – Geh in die Schul’ und lerne was – Wenn du was gelernt hast – Komm nach Haus’ und sage was – Eins, zwei, drei – Und du bist frei!

Ein Countdown: 10 – 9 – 8 – 7 – 6 – 5 – 4 – 3 – 2 – 1 – Zündung

Oder natürlich auch Songtitel als Zwischentitel. Oder Zitate (möglichst systematisch: Also Zitate desselben Autors oder alle von Zuckerpäckchen). Oder Buchtitel etc.

Gerechtfertigt werden muss die Konstruktion fast gar nicht. Im Grund genügt ein Satz im Lead des Texts. Etwa: «Eine Nacht in den Zürcher Bars ist wie der Leidensweg Jesu» oder: «Der Weg durch die Frankfurter Buchmesse fühlt sich an wie das Reaktionsmuster auf ein schreckliches Unglück», oder, falls man Songtitelgenommen hätte: «Eine Familie ist wie eine Jukebox» etc.

Das klappt. Denn seltsamerweise wird eine strikte Ordnung fast immer akzeptiert, so verrückt sie auch ist.

Eine Tugend, aber auch die achte Todsünde: Ordnung

Damals, als ich auf die Idee mit den sieben Todsünden kam, war ich glücklich. Keinen Moment lang dachte ich darüber nach, dass ich meine geliebte Grossmutter verletzen könnte. Denn natürlich gab der Titel und die Struktur dem Text nicht nur Orientierung, sondern auch einen klaren Dreh.

Heute, Jahre nach ihrem Tod, frage ich mich manchmal, wie ich entschieden hätte, wenn ich länger über die Folgen nachgedacht hätte. Für die perfekte Konstruktion eines Zeitungstextes? Oder für den Respekt für meine Grossmutter?

Fragt mich nicht.

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3 Kommentare zu “Eine Konstruktion, so stabil und elegant wie ein Stahlträger”

  1. Herzlichen Dank für diese Inputs.
    Mit diesen unstrukturierten Schreckgespenster kämpfe ich auch immer wieder. Nun befindet sich ein weiteres Mittel im Ringen mit solchen Texten in meiner Trickkiste.

    Janosch

  2. Auch ein Jörg-Haider- oder SVP-Prinzip ließe sich verwenden: Aufstieg, Hybris, Korruption, Abstieg, Vergessen …

  3. Ruedi sagt:

    Viele Wege führen nach Rom!

    Nicht zuviel grübeln, denn Text einfach aufschreiben, und dann den Titel und die Struktur aus der Handlung (Text) heraus nehmen. Das ergibt weichere Übergänge und weniger Kopfzerbrechen. Der Text ist das Tragende Stahlgerüst. Titel und Struktur ein durchaus wichtiges Detail, die Verschweißung des Textes.

    Zum Beispiel so:

    Eine Schrecklich nette Familie – Gefangene einer wirren Zeit

    1. Urgroßonkel Ferdinand der Geprellte und Schadenfreudige Hausverkäufer

    2. Großonkel Kurt – Hochmut kommt vor dem Fall, oder die Schattenseiten einer Geldheirat

    3. Als der Lüsterne Aktmalende Opa zum Segen für die Oma und die Russen wurde

    4. Tante Nellie – Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein

    5. Kavallerie Großonkel Karl, der mit dem Pferd tanzt, oder wenn Essen nicht mehr satt macht

    6. Die schöne, Liebeshungrige und Herzverzehrende Tante Liesl

    7. Der Versnobte Großonkel Louis – Ein Musizierender Tiefflieger