Hannah Arendt gab einmal die einzig mögliche Methode an, die Zukunft vorherzusagen: «Gib ein Versprechen ab und halte es.»
Vor einigen Wochen, am Anfang der Kolumnenserie, versprach ich die Story, wie ich die Stelle bei der «WoZ» bekam, weil man vermutete, dass ich mit jemandem aus der Chefetage des Tamedia-Konzerns geschlafen hätte.
Zuvor war ich in der «WoZ» drei Mal bei Bewerbungsverfahren gescheitert. Mein Glück war, dass meine Freundin blond war. Und ich mit ihr nach dem Theater im Schauspielhaus-Restaurant essen ging.
Das Essen war kein Vergnügen. Denn direkt hinter meinem Rücken stritt ein Ex-Ehepaar. Der Ex-Mann hatte eine Opernsängerstimme und begann lange Monologe gerne mit der Einleitung: «MAAAAADELAAIIIIINE, ICH WILL DIR GAAAAR NICHTS SAAAAGEN, AAAAABER…»
Was folgte, war auf Meter hinaus unüberhörbar. Schon nach der Vorspeise hätte ich gern gezischt: «Madelaine, wehr dich!» Beim Kaffee stand ich auf, um einen Aschenbecher zu holen. Und mir den Saftsack einmal von vorn anzusehen.
Zu meiner Überraschung kannte ich ihn. Es war ein angesehener Kritiker und er schrieb regelmässig in der «WoZ». Ausserdem mochte er meine Texte: Er hatte mir eine Woche zuvor einen freundlichen Brief geschrieben. Nun sah er mich mit den erwartungsvollen Augen an, die Hunde, Kinder, Alkoholiker, Künstler und Lobspender haben.
Ich stammelte etwas Verwirrtes und setzte mich.
In dieser Nacht erhielten, wie ich später hörte, mehrere Mitglieder der «WoZ» denselben Anruf: «COOONSTANTIN IST NUN VÖLLIG ARROGANT GEWORDEN, SEIT ER FÜR DEN ‹TAGES-ANZEIGER› SCHREIBT. ER HAT KAUM DREI WORTE MIT MIR GEWECHSELT! UND WISST IHR, MIT WEM ICH IHN GESEHEN HABE – UND ER HAT SOGAR IHREN ARM GESTREICHELT!! MIT DER CHEFREDAKTORIN DES ‹TAGES-ANZEIGERS› – ESTHER GIRSBERGER!!!»
Eigentlich stimmte davon nichts: Die Aufträge des «Tages-Anzeigers» waren kaum der Rede wert – nicht mehr als zwei Kleinstartikel im Kulturteil; die Chefredaktorin Esther Girsberger hatte ich nicht nur nicht gestreichelt, ich hatte sie nicht einmal kennengelernt. Und ausser, dass beide blond waren, sah meine Freundin ihr auch nicht ähnlich.
Aber das war letztlich egal. Als ich zwei Tage später in der «WoZ» meine Kolumne abgab, empfing mich ein Redaktor mit den Worten: «Komm mal runter in den Keller!» Dort, im Sitzungszimmer, sassen bereits vier weitere Redaktionsleute, alle mit verschränkten Armen. Sie waren offensichtlich übelster Laune.
«Setz dich!», sagte jemand.
Ich tat es und noch jemand sagte: «Machen wir es kurz. Wir stellen dich im Fall ein. Aber du wirst nie bei uns in ein Gremium gewählt werden! Du wirst nie Verantwortung tragen! Und du musst dir ein Handy kaufen!»
Ich brauchte etwas Zeit, um durch den Schleier der Beleidigung hindurch zu begreifen, dass ich es geschafft hatte. Ich hatte den Job. Meine Jahre im freien Journalismus waren zu Ende.
Im Teppichhandel-Geschäft
Freier Journalist zu sein ist mehrfach unangenehm. Wegen der Hygiene: Die Aktenstapel wuchern nicht im Büro, sondern Richtung Bett. Wegen der Disziplin: Die Versuchung steigt, sich vor dem Schreiben zu drücken – TV, Bücher, Bett. Wegen des Geldes: Die Honorare werden seit Jahren schlechter und fliessen je nach Auftragsglück unregelmässig. Dazu fehlt einem der Redaktionsklatsch: die täglichen kleinen Skandale, Pannen und Wutausbrüche. Und schliesslich hat man das Erfolgsgefühl an der falschen Stelle: nach dem An-Land-Ziehen des Auftrags. Danach fühlt sich das Schreiben an wie Schulden abzahlen.
Das Gute am freien Journalismus ist: Man lernt, wie man seine Ware verkauft.
Beim Verkauf von Artikeln gibt es zwei, drei Grundregeln. Die wichtigste davon ist die Kenntnis des Redaktors. Erstens natürlich dessen persönliche Vorlieben. Aber vor allem die Kenntnis seiner Situation: Der Redaktor muss die Zeitung füllen. Und er muss gegenüber seinen Kollegen und Chefs den Einkauf rechtfertigen können. Und er hat fast nie Zeit. Kurz: Er schätzt Reibungslosigkeit in all ihren Facetten.
Das heisst: Man muss am Telefon gut vorbereitet sein und knapp bleiben. Was zählt, ist:
- ein netter Einleitungssatz (über das Wetter, das Befinden des Redaktors oder den letzten Journalistenskandal)
- die knappe Skizze des geplanten Artikels samt möglicher Längenangabe plus Abgabezeit
- die Begründung, mit der er es seiner Redaktion etwas verkaufen kann. Diese Begründung braucht höchstens zwei, drei gute, aber möglichst grelle Argumente. (Mehr merkt sich niemand.) Sehr gut macht sich irgendeine Statistik. Sagen wir, Sie wollen, weil Sie seltsamerweise Orientteppiche mögen, ihren nächsten Bettvorleger mit einem Artikel finanzieren. Dann sagen Sie (je nach Recherche): Der Teppichhandel in der Schweiz (in der USA, weltweit) ist um 50 Prozent gestiegen (oder geschrumpft). Daraus konstruieren Sie dann einen Trend: Orientteppiche sind der letzte Schrei unter den oberen Zehntausend (Studenten, den Normalverbrauchern, etc.) Oder Sie ziehen irgendeine aktuelle Parallele: Die türkisch-schweizerischen Beziehungen sind nach der Minarett-Initiative stark belastet und nun bricht auch noch der Teppichhandel ein. (Oder er floriert trotzdem.) Sehr wirksam für den Verkauf eines Themas ist auch ein möglicher Skandal: Es besteht der Verdacht, dass der unlukrative Teppichhandel nur Geldwäsche für die Mafia (al-Qaida, etc.) betreibt. Oder Sie setzen auf die Anekdote: Alle fragen sich, warum in Teppichgeschäften dauernd Ausverkauf ist. Ich erzähle, warum. Und vergessen Sie keinesfalls den Superlativ: Verkaufsprofis sagen, dass Teppichhändler die besten Feilscher unter allen Verkäufern sind. Ich erzähle Ihren Lesern, wieso.
Das Zweitwichtigste dabei ist, dass die Verkaufsargumente auch mehr oder weniger stimmen. Alles andere wäre Betrug an Ihrem ersten Kunden, der Redaktion. Aber noch wichtiger ist, dass Sie selbst nicht daran glauben. Alles andere wäre Betrug an Ihrem zweiten Kunden, dem Leser.
Denn mit den Argumenten, mit denen Sie Ihren Artikelvorschlag verkaufen, verhält es sich so wie mit dem Wurm, den man über den Angelhaken zieht. Ohne ihn kann man nicht fischen. Aber am Ende grilliert man den Fisch, nicht den Wurm.
Ziemlich viele Artikel werden dadurch ruiniert, indem die offensichtlichen Verkaufsargumente (also die Umfrage, die Einzelstatistik, den angeblichen Trend, der Geldwäscheverdacht) lang und breit getreten werden. Also der Wurm grilliert wird. Statt das man das erzählt, was einen an der Sache wirklich interessiert hat: etwa die faszinierende Lebensgeschichte eines Teppichhändlers, die Verarbeitung, die Orientromantik im Westen, die knallharten Arbeitsbedingungen, die Märchen der fliegenden Teppiche (oder was immer). Und den vorgeblichen Anlass, falls uninteressant, nur dezent irgendwo im zweiten Abschnitt erwähnt.
Die wenigsten Redaktoren werden darüber unglücklich sein. Denn erstens ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass das genaue Verkaufsgespräch längst vergessen ist, begraben unter Dutzenden anderen. Und zweitens hat kaum ein Redaktor etwas gegen einen abweichenden Text, solange er interessant ist. Und da ihr Redaktor wie fast alle anderen vor allem an Reibungslosigkeit interessiert ist, wird er selten einen Aufstand machen.
Die weiche Flanke von Zeitungen
Es gibt einen alten Broadway-Witz:
Schauspieler 1: Frag mich, was das Wichtigste an Schauspielerei ist!
Schauspieler 2: Also gut, was ist das Wichtigste an Schau…
Schauspieler 1 (unterbricht ihn): Timing!
Und so ist es auch beim Artikel-Verkauf. Ein Redaktor, der gerade volle Seiten hat, wird ein anderer sein, als der freundliche Mensch, der gerade leere Seiten hat. Zum Teil ist Timing Glücksfrage. Sie können Pech haben, und irgendwer hat zu Ihrem Thema in der Woche davor etwas geschrieben. Und die Tür ist zu. Sie können Glück haben, und dem Redaktor ist gerade etwas Grösseres abgestürzt. Dann werden Sie bekniet, doch aus Ihrem Teppich-Artikel eine ganze Seite zu machen, aber bitte bis heute Abend.
Ein wenig kann man sein Glück auch steuern. So etwa herrscht in Wochenzeitungen gern am Montag Verzweiflung. Die Diensthabenden haben die Wochenendleere im Kopf und die halbleere Zeitung vor Augen. In Tageszeitungen sind der Freitag und der Montag die grossen Kaufrauschtage: Freitags müssen gleich zwei Nummern geplant werden, Samstag und Montag. Und am Montag herrscht dann Sorge und Ebbe.
Und die im Titel versprochenen Sex, Eifersucht, Jugend?
Der Sex mit der Chefetage steht als Wurm im Titel, damit Sie das hier gelesen haben, Fisch.
Eifersucht hingegen ist ein fast unschlagbares Verkaufsargument. Sagen Sie am Telefon etwas wie: «Ich habe gehört, dass die ‹NZZ› (die ‹Weltwoche›, die ‹Zeit›, wer auch immer) etwas Grosses über Teppichhandel bringen will…» Und Ihr Artikel ist so gut wie gekauft. Denn Redaktionen sind fast lächerlich eifersüchtig aufeinander. Alle wollen die Ersten sein. Obwohl die Kunden das fast nie merken. (Die wenigsten Leute abonnieren mehrere Blätter – und das sind meist rettungslose Junkies.)
Das Argument der Jugend hat mir bis etwa zu meinem 35. Lebensjahr viele Artikel verkauft. Es geht so: «Alle meine Kollegen interessieren sich für Orientteppiche…», sagen Sie. Und falls der Redaktor nicht versteht, werden Sie deutlicher: «Alle Jungen interessieren sich für Orientteppiche!» In diesem Moment wird der Redaktor auf seinen Jahrgang schauen, auf seine grauen Schläfen, auf die wachsende undefinierte Zone um seine Hüften, er wird denken «Orientteppiche – was für ein Scheiss», er wird vielleicht sogar den Verdacht haben, dass Orientteppiche mitnichten die Jugend interessieren, sondern nur Sie Schnösel hier, aber dann wird er sich seines Jahrgangs schämen, denn er ist alt geworden, verbringt viel Zeit auf einem Bürostuhl und hat keine Ahnung mehr, was die Jugend alles treibt, vielleicht sind es wirklich Orientteppiche… Und er wird Ihnen Platz und Honorar verschaffen und einen unhörbaren Seufzer als Zugabe. Denn alt zu sein im Neuigkeitsgeschäft ist eine grosse Sünde, und eines Tages wird sie von seinem Arbeitgeber mit Frühpensionierung bestraft werden so wie im Märchen:
Schau, sagte der Verleger zu seinem Human-Ressources-Manager, der Redaktor hier hat immer brav unsere Zeitung gefüllt, aber jetzt ist er alt und zahnlos geworden und ich fürchte, wir müssen ihn in den Wald führen und schlachten…
Jung sein hingegen ist ein Killerargument beim Verkauf. Nur seien Sie gewarnt beim Schreiben: Veranstalten Sie dann im Artikel kein grosses Tam-Tam um dieses Thema, indem Sie einen Trend herbeikonstruieren oder so was.
Denn Verkaufsgespräch ist Verkaufsgespräch. Und Artikelschreiben ist Artikelschreiben. Und die beiden haben nur wenig miteinander zu tun. So wenig wie der Wurm und der Fisch.
Sehr interessanter, unterhaltsamer Text!
Ich habe den Wurm mit Genuss verschlungen.
Der Sex-im-Titel-Wurm bricht auch alle Rekorde. 3000 Leser vor 10 Uhr, das gabs noch nie. Leser, Leser!
sex sells!
In dem Fall handelt es sich ja um Nicht-Sex, der verkauft.
Willkommen in der Online-Welt! 😉
Und aber auch die Verlinkung vom Bildblog hilft.
liegt wahrscheinlich am Bildblog 😉
Auf Medienspiegel.ch ist der weitaus meistgelesene Artikel übrigens “Sex mit Tier” von Daniel Weber: http://www.medienspiegel.ch/archives/001900.html Just saying …
..und ein schon Wochen vorher angekündigter Wurm ist natürlich noch besser.
Ich hab’s gern verschlungen, Merci – und das logo statt brav für superwenig Kohle zu Tippen sic! Mein Wurm war…he, was der, der hat womöglich Sex mit Esther…? Schön gut gelungen auch die Passage “… nach dem An-Land-Ziehen des Auftrags. Danach fühlt sich das Schreiben an wie Schulden abzahlen” – Primatrost für freelancers…
Der erwischte Fisch grinst amüsiert an der Angel. Cooler Artikel
Aber Rechtschreibung und auch mal ein “ß” verwenden, wäre bei einem Journalisten auch nicht soo schlecht
Scharfes S gibts nicht in der Schweiz. Finden Sie in keiner Zeitung. Aber schön, dass (!) auch Deutsche mitlesen.
Gemeint sind wohl Sätze wie: «Statt das man das erzählt, was einen an der Sache wirklich interessiert hat.» Hier wäre ein Doppel-S nicht fehl am Platz.
Ach, Rechtschreibung ist was für’s gemeine Fussvolk….. 😉
Jep. Der Profi hat sie nicht mehr notwendig. Der hat ein Korrektorat.
Grosses Kino!
Ich war dann mal weg – mein wohl “veralteter” Text auch…
Dennoch, Respekt vor Konstantin Seibt,
der sich wie der letzte Mohikaner gegen die Aenderungen im Tagesjournalismus stemmt…
(Etwas in anderer Sache: Koennte man nicht die Textgroesse im Eingabebereich vergroessern; denn manchmal kann ich mein eigenes Geschreibsel nicht mehr lesen; oder dann erst zu spaet, also bitte Nachsicht bei ev. Vertppern – habe dicke Brillenglaeser).
Ein köstlicher Artikel – lang lebe das kreative Schreiben!
was für coole insights. daumen hoch, herr seibt.
Ich muss zugeben, dass mich der Titel auf die Seite gelockt hat. Ich habe das aber nicht bereut. Guter Artikel.
Pah. Lieber 20 Seibtsche Vertipper und ordentlich Fleisch dran, als 1 fehlerfreier Wackelpeter.
Ichb hoffe, Sie haben nicht nur mit dem “Meister” Nachsicht, chèére Vera…
Wenn ich, der die Zornesröte im Gesicht meines FDP-Vaters erlebte, als er anfangs der 80er Jahre eine Ausgabe des WOZ auf meinem Nachttisch entdeckte, damals gewusst hätte, dass hinter dem handgestrickt anmutenden “Kommunistenblatt” nicht bärtige Kerle mit Che Guevara Mützen und John Lennon Brillen, sondern ganz gewöhnliche Journalisten standen, die für Geld gar bereits waren, Auträge der NZZ an Land zu ziehen – ich hätte wohl das Blättchen beschämt in den Abfall geschmissen und mein idealistisch geprägtes Weltbild gleich mit. Heute ist die WOZ so moderat, dass es keine Würmer mehrr braucht.
Wer mit einem dicken Wurm wedelt, sollte auch liefern….:-) das heisst, es gab auch Fleisch am Knochen, nämlich gute, handfeste Infos zum harten Verkaufen im Journalistenleben. Aber es war natürlich nicht der Wurm, den man erwartet hatte…trotzdem Merci!
nennen wir es “Mogelpackung” mit einem Überraschungs-Ei drin. Gefällt mir besser als der Gedanke an den Wurm!
Amüsant – zum Heulen und Aufheitern gleichermassen geeignet! Viel Wahrheit steckt drin über die Karrieren von jungen und jung gebliebenen Journalisten…
Dem kann ich aus meiner Erfahrung beistimmen. Wobei sich das Interesse der Redaktion und das der Leser nicht zu selten überschneidet. Schliesslich sind Redakteure auch nur Menschen.
Respektlos? Bestens platziert sind die Namen “homegate.ch”, “Tages-Anzeiger” und “Constantin Seibt”. Weshalb ist das gross publizierte Bild namenlos … oder habe ich etwas übersehen?
Reichlich spät eine Nachfrage zu einem Randaspekt beim Verkaufsgespräch: Sie gehen – offenbar selbstverständlich – davon aus, dass dieses per Telefon geführt wird. Wäre eine E-Mail aus Redaktorensicht nicht weit vorzugswürdig, so dass Zeit bleibt, ggf. selbst kurz zu dem Thema zu recherchieren, die vorgetragenen Verkaufsargumente wirken zu lassen, abzugleichen, was man dazu evtl schon veröffentlicht hat, etc? Oder soll genau dies vermieden werden?
Ich glaube beides klappt, bzw. klappt nicht nicht. Ich glaube allerdings, dass es besser ist, direkt zu sprechen, in der E-Mail-Flut eines Redakteurs hat das mehr Intensität. Und ist etwas verpflichtender.