In der letzten Folge ging es darum, wie man aus Wolken ein Einkommen und aus halben Ideen ganze Kolumnen macht.
Was ausgelassen wurde, waren konkrete Beispiele, wie ein effizienter Kolumnenmotor funktioniert. Doch es wurde versprochen, dass welche folgen – und zwar mehr, als einem lieb sein würde.
Das war keine leere Drohung.
Hier also ohne Gnade die Konstruktionsprinzipien einiger Kolumnenserien, die mich zehn Jahre lang ernährten.
1. Familie Monster (WoZ)
Wie also peppt man halbe Ideen zu ganzen Kolumnen auf? Hier ein Beispiel aus dem fernen 1995. Damals hatte der Bischof von Chur, Wolfgang Haas, gerade Ärger, weil er sich selbst einen Doktortitel zugelegt hatte.
Auf den ersten Blick sieht die Kolumne dazu täuschend nach Inspiration aus.
Können Sie zu meinem angemassten Doktortitel etwas Positives schreiben?
Dr. lic. theol. Wolfgang HaasGellende Schreie drangen aus dem Dschungelspital. Eine junge Frau lag in den Wehen. Krämpfe schüttelten sie. Mutter Theresa blickte ernst auf. «Sie ist noch Jungfrau.» Schon die fünfte jungfräuliche Geburt in diesem Monat. Und die komplizierteste. Bischof Wolfgang setzte das Stethoskop ab und schauderte. Ein Stück der Niere hatte sich in der Gebärmutter verklemmt. Herz und Lymphflüssigkeit gaben pfeifende Geräusche von sich. «Sofort Operation vorbereiten! Hier hilft nur noch die Methode von Dr. Engelmacher!» Mutter Theresa wurde bleich: «Von Dr. oec. publ. Engelmacher?» – «Ja», antwortete der Bischof ernst, «der grosse Sinologe. Ihm verdanke ich alles, was ich über Misogynie weiss.» Einen Moment glitt der Schatten der Erinnerung über das Gesicht von Bischof Wolfgang: Glückliche Zeiten, als man noch ein brillanter Prälat war, der mühelos Dissertationen in Chemie, Marienforschung und Testikelkunde bei Ministranten abgeschlossen hatte.
Aber hier und jetzt, im Dschungelspital, galt es ernst! Der Bischof riss sich in die Wirklichkeit zurück. Mit primitivsten Mitteln kämpften er, Mutter Theresa und Schwester Monika mitten im Dschungel gegen Unglauben, Seuchen und eine Serie von jungfräulichen Geburten! Der Bischof griff zum Hostienmesser. Jetzt oder nie! Die angstvollen Augen Schwester Monikas weiteten sich, als der Bischof zu einem komplizierten Rundschnitt ansetzte, der gleichzeitig die mit der Kniekehle verstopfte Lunge, den Nabelschnurkortex und das lebensbedrohende Krebsgeschwür an der Ferse entfernte. Minuten später krabbelte ein neugeborener Erdensohn in den Händen Mutter Theresas.
Die Patientin errötete schüchtern. «Bischof», flüsterte sie schwach, «sie haben mein Leben und das meines Kindes gerettet. Ich will es nach Ihnen nennen.» Bischof Wolfgang nickte gerührt: «Dann also wird es Doktor heissen!»
Klingt nach Einfällen, oder? Doch mit Inspiration hat ein derartiger Text wenig zu tun. Dafür umso mehr mit kühler Ingenieurs-Logik. Denn betrachtet man den Bauplan der Monster-Kolumne, brauchte es zum Start beim Schreiben exakt nur eine einzige halbe Idee. Und danach ein paar wenige, eher mechanische Assoziationen.
Der Bauplan der wöchentlichen Monster-Kolumne sah so aus:
Thema: Opfer ist jede Woche ein Dummkopf aus Politik, Gesellschafts- oder Wirtschaftsleben.
Form: Die Grundidee der Serie war, reale Würdenträger mit vollem Namen in eine fiktionale Umgebung zu reissen: in ein Groschenroman-Universum aus Science Fiction, Kino-Drehbüchern, Detektivromanen, TV-Debatten, Horrornovellen, Bibelkapiteln, Bahnhofserotik. In solcher Pappmaché-Umgebung musste man sich um Bösartigkeit nicht kümmern. Die Würde des Helden oder der Heldin geht automatisch flöten. Die Hauptentscheidung vor dem Schreiben war: Welche Umgebung für wen? Und sie war fast immer einfach. Denn Satire funktioniert nach dem uralten Prinzip der Blutrache: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Je nach Unfug des Opfers wurde seine Roman-Umgebung ausgesucht: Als Christoph Blocher etwa bemerkte, die Boykottdrohungen jüdischer Organisationen erinnerten an die Nazi-Boykotte, lieferte die Monster-Kolumne konsequent die Vision einer jüdischen Diktatur in der Schweiz. Das Einknicken der bürgerlichen FDP gegenüber den SVP-Parvenues führte zu einer Mini-Buddenbrocks-Version. Und als der Ständerat der Pro Helvetia einer Million aus dem Budget strich, weil man diese für eine leicht unanständige Installation des Künstlers Hirschhorn strafen wollte, erschien ein wirklich unanständigeres Gedicht über den Ständerat.
Haltung: Nicht ohne Grund erschien die Kolumne die ersten fünf Jahre anonym. Ich fürchtete um meinen Ruf. Denn die Haltung war sehr von den Punk-CDs inspiriert, die ich damals hörte: Keine Rücksicht auf nichts zu nehmen, nicht auf das Opfer, nicht auf die Leser, den Geschmack, den Presserat und im Zweifel nicht einmal auf die Verständlichkeit. Es war eine Rache-Kolumne: weniger an den wöchentlichen Opfern als ganz allgemein von der Literatur an der Wirklichkeit. Eine Jugend lang war ich ein schüchternes Milchgesicht gewesen, das sich von Büchern ernährt hatte. Jetzt war ich von dieser Nahrung gross geworden und auch meine Zeit war gekommen, auf dem Papier böse zu sein.
Sieht man sich die Bischof-Haas-Kolumne also nach Kenntnis des Bauplans noch einmal an, so war kaum Inspiration nötig. Im Kern besteht sie aus der Antwort auf eine einzige Frage: Falscher Doktortitel – welche literarische Form ist das? Die Antwort lag auf der Hand: ein Arztroman! Alle anderen Entscheidungen sind daraus abgeleitet: Das dramatischste Spital? Ein Dschungelspital. Die katholischste aller Krankheiten? Eine jungfräuliche Geburt – oder besser noch: eine Serie von jungfräulichen Geburten. Die katholischste aller Assistentinnen? Mutter Theresa. Die Qualifikationen von Dr. Haas? Massenweise Pseudotitel.
Das ganze Mittelstück war geklaut: Die Art von idiotisch komplexer Operation hatte ich beim Meister der Parodie, Robert Neumann, gelesen und sehr bewundert. Und auch die Schlusspointe ist ebenfalls Diebstahl, bei einem anderen Meister: Lichtenberg. Dieser schrieb: «Könnten nicht die Titel Magister, Doktor pp zu Taufnamen erhoben werden?» Was ich mir merkte, weil ich dachte, dass sobald ich mal ein Kindchen hätte, ich diesem den Vornamen «Doktor» geben würde, weil es ihm die Universität ersparen würde. (Als ich dann eins hatte, scheiterte dies leider.)
Der entscheidende Punkt an obiger Kolumne ist aber, dass ich weder die Schlusspointe, noch sämtliche Details im Kopf zu haben brauchte, als ich die Kolumne anfing. Denn der Motor «Reale Person» -> «Groschenroman» war stark genug, um zu wissen, dass sich beim Bischof im Arztroman schon Pointen auf dem Weg ergeben würden. Ich konnte also schnell zu schreiben anfangen.
So schrieb ich das Ding über neun Jahre lang, fast immer zwischendurch und ohne Schmerzen.
Und hier, da dieses Stück schon erstaunlich lang ist, und die übrigen sechs, sieben Beispiele noch weit länger, lasse ich Gnade vor Ankündigung ergehen. Und breche fürs Erste ab. Gutes Wochende!
« Zur Übersicht
nun. um wahrhaftig in die menschlichen abgründe einzutauchen, bedarf es keinerlei skrupel; man darf der dunklen seite nicht widerstehen und muss stetig mit seinem schicksal hadern. des weiteren leidet die menschlichkeit im weitesten sinne. es gibt nur schwarz und weiss. die guten müssen durch das dunkle tal geleitet werden und die schlechten drakonisch bestraft werden. abgerundet wird der ganze verachtenswürdige mix mit einer gesunden prise verachtung allen andersdenkenden gegenüber. nur wenn der hass dein ständiger begleiter ist, ist man fähig wirklich – und ich meine wirklich böse zu sein.
Ich glaube nicht, wenn ich mich richtig erinnere, dass diese Kolumne nennenswert oft aus Hass geschrieben wurde. Eher aus Spieltrieb: Was man so alles anrichten kann. (Siehe unten Herr Kernhaus.)
wie auch immer. hauptsache man verkauft seine seele nicht.
Eine Frage: Wo stossen sich begabte junge Journalisten heute die Hörner ab? Die allgemeine Verbünzlisierung (nicht der Presse, sondern der Gesellschaft, einschl. der Justiz) ist ja so weit fortgeschritten, dass man sich derartige Texte nirgends mehr vorstellen kann — auch nicht in der WOZ.
Zur Gefahr des “Überbeissens”: Ich habe mich bei den Texten halb totgelacht. Aber, es ist halt Punk. Und Punk gröhlt, aber er berührt nicht. Hätte man 20% der übertriebenen Schärfe z.B. aus dem Mann-Text entfernt, er wäre vernichtend “gesessen”. “Überbeissen” als häufiger stilistischer Jugend-Fehler.
Da haben Sie Recht. Im Prinzip geht es mit solchen Texten, wie den unglaublich sexy Mädchen, die ins Tram kommen und einen riesen Ausschnitt und fast keinen Rock anhaben – und dann machen sie den Mund auf und sind 13. Sie entdecken, was wirkt und setzen dann das volle Arsenal ein. Später lässt man sich nur noch eine einzige Strähne in die Stirn fallen wie die Lady oder hebst die Augenbraue wie der Lord (oder umgekehrt: der Lord mit der Stähne und die Lady mit der Braue), und es hat denselben Effekt. Der volle Farbkübel ist das Vorrecht der Jugend, dann folgt effiziente Melancholie.
Nichts weiter. Nur ein Kompliment.
Ich hätte keinen Moment daran gezweifel dass dieser Kolumnentext das Werk ist eines Pupertierenden. Die vermeintliche Authenitzität geht soweit, dass man bei jedem “genialen” Einfall ein textbegleitendes Gegröle wahrnehmen kann.
Deshalb überrascht es mich über alle Massen zu lesen, wieviel Gedankenarbeit der Profi dafür hat aufbringen müssen, wie viel know how da eingeflossen ist.
Endlich wird auch eingermassen klar, was Constantin Seibt meint, wenn er schreibt, wie schwierig es ist, einen Text einfach erscheinen zu lassen.
😉
Das Baukastenprinzip also. Vorgefertigte Module, die kompatibel zueinander sind und sich beliebig kombinieren lassen. Kolumnen auf Groschenroman-Basis – eklig billig! Dies war meine erste voreilige Vermutung nach der Verinnerlichung der oben angebotenen Anleitung. Dann zapfte ich ein Tässchen herrlich duftenden Espresso, gurgelte damit und stütze anschiessend meinen nun nach vorne geneigten Kopf auf die Denker-Hand. Resultat: Constantin S. ist ein notorischer Tiefstapler! Denn es funktioniert zwar die Methodik, dennoch erfordert die Fertigung der Inhalte jedesmal kreativste Denkarbeit…
ich habe nie ganz begriffen, was die monster- kolumnen sollten. aber gelesen hin und wieder schon. da war irgend was dran… zum glück haben sie sich schliesslich entpuppt. und ich bekomme in diesem blog anregungen für mein eigenes schreiben. danke! (auch wenn rezepte nur die hälfte sind, denken muss ich ja immer noch selber…)
Einziger Schönheitsfehler: die Familie Monster erschien in der WOZ.
Eigentlich gehörte (und gehört) sie in die Schweizerzeit, denn dort geht es wirklich um Monster.
Besser oder niveauvoller als Mörgelis Kolumne in der Weltwoche ist das aber auch nicht. Nur mit mehr Schreibfehlern und Obszönitäten gewürzt. Die kommen allerdings nicht schlecht – schade, dass die Rechten soviel Anstand haben und die Linken nicht ständig mit Pissen, Kacke und Anal in Verbindung bringen müssen.
Ich finde sie tun dem Ständerats-Gedicht unrecht. Meine einzige Kritik daran: Es beginnt sack-stark (no pun intended), aber nach drei, vier Versen sinkt die Qualität (Versmass, Rythmus, Sprachwitz). Gedichte sind Knochenarbeit, und man sieht, wie der junge Autor zwar schelmische Freude an seiner Idee hatte, aber dann fehlte die Durchhaltefähigkeit zur Qualität, als die Anfangsbegeisterung wich und die zähe Umsetzung begann, im Detail “weh zu tun”. Vielleicht, vielleicht ein Grund, weshalb wir hier mit einem Journalisten sprechen und (noch) nicht mit einem Schriftsteller?
Danke für den Neumann-Tipp.