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Wenn du im Büro stolz sein willst, iss Kuchen, nicht Zwieback!

Constantin Seibt am Freitag den 3. August 2012

In der letzten Folge stand in diesem Blog eine harte Attacke gegen den Dreispalter. Also den mittellangen Nachrichtentext. Der Vorwurf war: Diese Form gelingt fast nie.

Das in Gegensatz zu einer eng verwandten Textsorte: dem täglichen Portrait. Dieses ist gleich lang wie der Dreispalter. Und braucht gleich viel Arbeit: ein Tageswerk. Nur verlässt der Journalist danach die Redaktion meist mit Stolz. Denn das Tagesportrait gelingt fast immer.

Warum das? Warum ein so krasser Unterschied bei gleicher Länge und gleicher Arbeit?

 Dramaturgie des Dreispalters

Auf den ersten Blick wirkt der Dreispalter völlig legitim. Er behandelt ein aktuelles Ereignis, leicht aufgepeppt durch etwas Recherche: etwa eine Parlamentsdebatte, eine Firmenfusion oder einen grösseren Verkehrsunfall.

Doch sieht man sich die Sache von der Dramaturgie her an, stösst man auf mehrere Probleme:

  1. Im Kern liefert der Dreispalter zwar etwas Brauchbares: eine Nachricht. Doch diese hat ein gravierendes Problem: Sie ist fast immer nur ein Teil, ein Bruchstück einer Geschichte. Egal, ob die Politdebatte, die Fusion, der Unfall: Man kann aus Platzgründen höchstens etwas Kurzes über die Vorgeschichte sagen – und gar nichts über die Wirkung der Sache, die ja noch nicht eingetreten ist: für das Land, die Firma oder jene, die den Unfall erlitten. Das einzige, was lieferbar ist, sind kurze Statements einiger Akteure – also nur die erste Aufregung nach dem Ereignis.
  2. Der Stoff des Dreispalters lässt kaum Auswahl zu. Die Debatte, die Fusion, der Unfall läuft so und so ab. Der Journalist kann vielleicht am Rande ein paar beschreibende Schnörkel setzen. Oder er kann ein paar Schnitte machen. Aber das wars schon. Das heisst: Er ist auf Gnade oder Ungnade der abrollenden Wirklichkeit ausgeliefert. Und das kommt selten gut. Denn die Wirklichkeit ist als Regisseur ihrer selbst meist ein Stümper: langfädig, nebensächlich, wirr. Und so geht es dann auch dem Reporter, der ihrer Inszenierung meist mehr oder weniger folgt: aus Zeit-, Stoff- und Distanzmangel. Selbst im schlimmsten Fall, wenn sich ein Ereignis als Nicht-Ereignis herausstellt, hat der Journalist oft nicht einmal die Chance, die einzig brauchbare Wahrheit zu schreiben: nämlich nichts. Denn in der Zeitung wäre sonst ein Loch. Er muss es füllen.
  3. Der Dreispalter, weil Nachrichtenstoff, liefert Fakten ohne viel Interpretation. Das klingt auf den ersten Blick nach seriösem Handwerk. Und nach Objektivität. Nur wird es der Sache oft nicht gerecht. Denn spannender als das Ereignis selbst ist oft der Hintergrund: Nicht nur was, sondern warum etwas gespielt wird. Gerade bei inszenierten Ereignissen wie Parlamentsdebatte oder der Pressekonferenz zur Firmenpolitik dominiert die Rhetorik: Was daran ist wirklich wahr, neu, interessant? Das klärt dann frühestens der Folgeartikel.  «Dass Dinge geschehen, ist nichts; dass sie gewusst werden, ist alles», schrieb Egon Fridell.
  4. Sogar wenn der Journalist viel weiss: Etwa um die Tücke des Gesetzes, die Komplexität der Fusion, die technischen Bedingungen des Unfalls – im Dreispalter wird er kaum etwas davon unterbringen können. Denn er steckt in einem doppelten Korsett: Erstens hat er kaum Platz. Und zweitens gestattet der Nachrichtenton wenig Variation: Einsprengsel von Analyse, Anekdoten, Ironie wirken als Fremdkörper.

Fazit: Der Dreispalter gestattet es fast nie, eine echte Geschichte zu erzählen: mit Anfang, Mitte, Schluss. Er lässt keine Wahl: Man muss nehmen, was auf den Tisch kommt. Dazu verhindert er die Wertung komplexer Tatsachen. Und die Variation des Tons.

Aus all diesen Gründen scheitert der Dreispalter als ästhetisches Produkt fast immer. Egal, wie hart man arbeitet.

Dramaturgie des Routineportraits

Nur, warum gelingt das Tagesportrait so oft? Denn es ist ja wie der Dreispalter ein Routineprodukt: irgendeine Person, die gerade aktuell ist, wird auf  knappen Platz portraitiert. (Im «Tages-Anzeiger» etwa an der Spitze der Analyse-Seite.) Warum ist das Produkt fast immer ein Vergnügen – beim Schreiben wie beim Lesen?

Deshalb:

  1.  Das Portrait hat zwar einen aktuellen Anlass. Aber dieser ist je nach Interessantheit variabel  gross. Der Grund für das Portrait kann also ein, zwei Sätze betragen (Etwa: Ein Sänger tritt in Zürich auf) oder den ganzen Text einnehmen. (Etwa bei der Schilderung der Methoden, mit denen ein Betrüger arbeitete.) Man ist der Aktualität verpflichtet, aber nicht ihr ausgeliefert.
  2. Ein Leben bietet eine Fülle von Stoff. Und daraus kann man fast ausschliesslich die Höhepunkte auswählen. Egal, ob aus der Kindheit, dem Job, den Beziehungen, irgendwelchen Skandalen: Man kann so weit in die Vergangenheit tauchen, wie man will. Und wenn die Person langweilig, blass oder unbekannt ist, aber das Milieu spannend (etwa bei einem Funktionär), dann kann man das Milieu schildern.
  3. Das heisst auch: Man kann Unmengen Material weglassen. Und Weglassen, nicht Vollständigkeit steht am Anfang jedes ernstzunehmenden Kunstwerks. Auch wenn es nur ein Gebrauchskunstwerk zur Zerstreuung vor dem Morgenkaffee ist. Wie Egon Fridell es sagt: «Wir können die Welt immer nur unvollständig sehen; sie mit Willen unvollständig zu sehen, macht den künstlerischen Aspekt. Kunst ist subjektive Bevorzugung gewisser Wirklichkeitselemente vor anderen, ist Auswahl und Umstellung, Schatten- und Lichtverteilung, Auslassung und Unterstreichung. Oft wird ein ganzer Mensch durch eine einzige Handbewegung, ein ganzes Ereignis durch ein einziges Detail schärfer, einprägsamer, wesentlicher charakterisiert als durch die ausführlichste Schilderung.»
  4. Das heisst auch: Indem man das beste Material, also das Allerwesentlichste plus das Allerschillerndste, wählt, hat man fast immer eine Geschichte. Das schon automatisch dadurch, dass man auswählt.
  5. Bei gutem Material spart man Platz. Denn das typische Element einer Personenbeschreibung – eine Anekdote – ist fast immer wesentlich schlanker als das typische Element einer Nachricht: das statische Referat eines Sachverhalts. Und dazu noch ungleich effizienter. «Aus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben», schrieb Friedrich Nietzsche.
  6. Der Stil ist fast frei wählbar. Je nach Person kann der der Ton des Portraits nüchtern, ironisch, verschnörkelt, lakonisch, dramatisch, was immer sein.

Das alles ist der Grund, warum das Routineportrait trotz seiner Kürze so viel Weite ausstrahlt.

Zwieback oder Kuchen?

Natürlich ist es unfair, die tägliche Pflicht des Nachrichtendreispalters mit der täglichen Kür des Kurzportraits zu vergleichen. So als würde man Schiffszwieback mit Kuchen vergleichen. Nur: Bei der entscheidenden Instanz, den Lesern, spielen die Arbeit, die Sie gehabt haben, keine Rolle. Sie werten einen Text nicht nach den Produktionsbedingungen, sondern als künstlerisches Produkt. Er bezaubert oder langweilt sie.

Und selbst bei den Profis innerhalb der Redaktion läuft das nicht anders. Für Nachrichtenpflicht gibt es selten Blumen. Für Kür aber schon.

Nein, es gibt keine Gerechtigkeit. Und deshalb soll man seine Aufträge klug wählen. Meide tendenziell alle Geschichten, in denen du keine Auswahl hast, nur Bruchstücke erzählst, nichts weglassen darfst und keine stilistischen Freiheiten hast. Und suche die Stoffe, wo du der Wirklichkeit nicht ausgeliefert bist. Sondern wo du die Freiheit der Wahl, des Stils und des Weglassens hast.

Iss im Büro nicht dauernd Zwieback, sondern so oft wie möglich Kuchen. Und du wirst es mit Stolz verlassen.


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11 Kommentare zu “Wenn du im Büro stolz sein willst, iss Kuchen, nicht Zwieback!”

  1. Adriano Granello sagt:

    Und worin unterscheidet sich dieser für einmal langatmige und weitgehend nur bereits Bekanntes aus der Vorwoche wiedergebende Blog-Beitrag vom Schiffszwieback? Sollte sich der Verfasser auf Paros befinden, wie dies die Schweizer Ehefrau des griechischen Wirtes in Parikia behauptete (“die Seibts kommen oft hier vorbei, gestern waren sie gerade hier” – wobei ich es unterliess, sie mit Fragen zu durchbohren, schliesslich könnten “die Seibts” auch in anderer Zusammensetzung gemeint gewesen sein), dann gehe er zum HIBISCUS und bestelle statt Kuchen ein wunderbares Stiffado mit lieblichem Wein 🙂

  2. Marc sagt:

    Dreispalter und Tagesporträt sind also tagesfüllende Aufgaben. Wie lange hat den dieser Artikel gebraucht? Tolle Texte übrigens.

  3. un journaliste sagt:

    Good points. Zur inoffiziellen «Erklärung der Recht der Journalisten» gehört IMHO auch:
    – Für langweilige Artikel muss keine Begeisterung eingebracht werden, diese spare man sich für die selbst gewählten Highlights.
    – Jeder noch so fadenscheinige Aufhänger ist Anlass, endlich mal Heli zu fliegen, Rattenfänger zu interviewen oder andere Verrücktheiten zu unternehmen.
    – Recherchenaufwand, Kreativität, Marathon-Lesen und anderes verteile man streng nach eigenen Interessen. Lieber eine einzige saubere Geschichte als zehn Larifari-Textli.

  4. Ein Leser sagt:

    Ja, Journalismus ist auch Arbeit. Was als Leser sehr ermüdend ist, ist dass alle von einander abschreiben und das Kurzzeitgedächtnis einer Schnecke zu haben scheinen. In allen Zeitungen liest man immer das gleiche! Und schwubs sind die Themen von Gestern alle vergessen…

  5. ruedi ballmer sagt:

    In diesem Kuchen steckt zuviel Brot der letzten Woche, das der Bäcker besser weggelassen hätte. Der Anteil Tagesportrait hätte frischer geschmeckt. Auch dann aber hätte mich die Aufzählung von 1 bis 6 noch etwas an Zwieback erinnert.

    • Adriano Granello sagt:

      …aus dieser Zwieback-Wahrnehmung könnte Herr Seibt gegebenenfalls das Posting dieser Woche entwickeln.
      .
      Mein Vorschlag: DIE KUNST DES WEGLASSENS
      .
      Interessant wäre zu wissen, wann und wie er und andere erfahrene Journalisten ihre Artikel auf das Wesentliche komprimieren.

      • Ruedi Ballmer sagt:

        Die Kunst des Weglassens gilt im Übrigen auch für den Kuchen. Wie uns obiges Bild zeigt, macht zuviel davon auch nicht glücklich. Noch bevor man weiss, wieviel altes Brot drin ist.

        (Da Herr Seibt sich auf Paros befindet, müssen wir uns hier wohl selbst amüsieren.)

  6. Spitze_Feder sagt:

    Doch, man kann in einem Dreispalter “eine Geschichte erzählen.” Wenn man denn KANN! Das allerdings setzt eine Menge ziemlich harter Gedankenarbeit voraus. Darüber, was das eigentliche Thema der Geschichte sein sollte. Es funktioniert nicht immer. Die Kunst ist halt zu erkennen, wann es funktionieren könnte. Und dass man dann sowohl von der Kenntnis der notwendigen Fakten her als auch sprachlich in der Lage ist, es auf den Punkt (der zu erzählenden Geschichte) zu bringen.

  7. Tinu Kobel sagt:

    Herr Seibt, wie stehen Sie zum Thema “Pflichtstoff”? Die von der Tagesaktualität diktierten Themen, die offenbar einfach ins Blatt müssen? Ist es eine Option, ganz darauf zu verzichten? Kann das funktionieren, als Geschäftsmodell und innerhalb der Redaktion?
    Oder anders gefragt: Es können ja nicht alle immer nur die Kekse auswählen (oder?). Sie scheinen in der Redaktion dieses Privileg zu haben. Mit Erfolg, Ihr Name ist eine Marke, die mich zum Lesen bringt. Aber wie gehen die fleissigen Zwiebackarbeiter damit um? Die dann in Ihrem Blog noch lesen, dass sie stolzer wären wenn wählerischer?