Eine der scheusslichsten Erfindungen der Menschheit heisst das Ungemach. Das Ungemach basierte auf einer sehr einfachen Idee. Es war in mittelalterlichen Kerkern eine Zelle von speziellem Ausmass: etwa so gross wie ein schlecht gezimmerter Sarg. Nicht lang genug, um ausgestreckt zu liegen, und zu niedrig zum Stehen. Wer dort eingesperrt war, konnte nur kauern. Oft für den Rest seines Lebens.
Das Ungemach ist im Tagesjournalismus eine sehr verbreitete Form: der Dreispalter. Der Dreispalter, ein Nachrichtengefäss zwischen 3000 und 4500 Zeichen, ist fast unmöglich zu schreiben. Hat man nichts zu sagen, ist es eine quälend lange Strecke. Aber sobald man etwas recherchiert, krümmt sich der Stoff hinten und vorn.
Der Dreispalter ist dadurch das Gefäss der Haltung, von dem sich der heutige Journalismus verabschieden muss: von Unentschlossenheit und Halbdistanz. Im Grund gestattet seine Form nur drei Dinge:
- Man schwafelt redundant herum, um eine Notiz aufzublähen.
- Man schreibt so dicht wie eine Presswurst, um alles hinein zu bekommen – nur bleibt dann der Swing auf der Strecke. Und damit meist auch die Verständlichkeit.
- Man praktiziert die erbärmlichste Form von veredelter Nachricht: Man referiert ein Ereignis, eine Politdebatte, was auch immer und holt noch zwei oder drei kurze Statements dazu ein. Diese Statements sind dann fast immer langweilig, dumm oder beides: Denn entweder haben die Akteure kaum Zeit darüber, nachzudenken. Oder wenn doch, dann haben Sie keinen Platz, ihr Nachdenken auch zu erklären. Ihnen bleibt meist nur ein notwendig aggressiver oder banaler Satz.
Das Scheussliche am Dreispalter ist, dass er wie das Ungemach oft lebenslänglichen Kerker bedeutet. Generationen von Tagesjournalisten waren und sind dazu verurteilt, tagtäglich ihren Dreispalter abzuliefern – eine Form, mit der sie keine Chance auf Ruhm haben. Und auch keine Chance auf Wahrheit.
Die klügste Idee, die wir je hatten
Man soll die eigenen Bosse nicht öffentlich loben, aber warum nicht eine Ausnahme? Nach einem brutalen Schnitt in der Redaktion im Sommer 2009 und einem gleichzeitigen Relaunch sagten erstaunlich viel Leute, die Zeitung sei – nach der Entlassung von mehreren Dutzend Redaktoren – besser geworden. Einige schoben es sogar auf weniger Personal. (Die Haltung, nur ein toter Journalist ist ein guter Journalist, ist erstaunlich populär.) Sie irrten. Die wirklich wirksame Massnahme der neuen Chefs Strehle & Eisenhut war eine andere: Der zuvor im «Tages-Anzeiger» grossflächig verbreitete Dreispalter wurde radikal zurückgeschnitten. Seitdem versucht unsere Redaktion, die Artikel entweder lang oder kurz zu machen. Also ein echtes Statement zu liefern oder eine Notiz. (Oder im besten Fall: ein Konzentrat.)
Klar ist nicht jeder lange Artikel eine Offenbarung. Klar hätten einige Notizen sogar die Titelseite verdient. Darüber kann man streiten. Nur über den Weg nicht: Auf Geschichten entweder voll zu setzen. Oder es zu lassen.
Denn nur mit energischen Strecken hat man die Chancen, die Welt am Schwanz und die Leser hinter ihrem Kaffee zu packen. Gelingen auch nur zwei oder drei lange Geschichten pro Ausgabe, war die Zeitung ein Gewinn.
Der «Tages-Anzeiger» verliess dadurch mitten in einer finsteren Zeit zumindest in einer entscheidenden strategischen Frage das journalistische Mittelalter.
Gewagt finde ich die Aussage, dass nun bereits so etwas wie Morgenröte am Horizont zu leuchten beginnt. Ein Beispiel dazu gefällig, Hr. Seibt? Stand nicht gerade gestern in einem bekannten, von vielen Benutzern des OEV gelesenen Gratisblatt, dass Griechenland nun aus der EU austreten wird, weil man daselbst den Euro eventuell nicht weiter als Zahluingsmittel verwenden will (kann)? Wenn ein Journalist so einen Mist schreibt – und erst noch als Headline auf der zweiten Seite, ist doch auch ein Dreizeiler noch verschwendete Druckerschwärze. Oder etwa nicht. Und nein, wir sind nicht selbstgefällig
Geehrter Beat, nein, bei Kommentaren wie Ihren sehe ich keine Morgenröte, sondern tiefe Nacht. Ich schreibe hier über die strategische Entscheidung der einen Zeitung, Sie kontntern mit einem einzelnen Artikel einer andern. So wie Sie einfach Kraut und Rüben in einen Topf werfen und daraus eine Suppe kochen, als wäre ihr Schädel ein Topf… Sagen wir es so höflich wie möglich: Würde ich Ihre Meinung über die Presse teilen, würde ich Ihre sofortige Anstellung bei derselben empfehlen.
Lieber Hr. Seibt. Ich führe das Florett und Sie kommen bereits mit dem Zweihänder. Schaue ich in Ihren Kopf? Kommentiere ich Ihre Einlassungen im Tagi in dieser Form? Sie haben doch den Dreizeiler verdammt mit dem Argument, dass damit die Qualität der Beiträge verbessert werden kann? Alles was dazu zu sagen ist: Es liegt immer auch an der Qualität der Schreibenden, nicht nur an der gedruckten Form. So behält z.B. eine andere grosse Zeitung auf dem Platz Zürich diese Form z.T. bei und gilt doch gemeinhin als Qualitätszeitung. Damit ist dem Dreizeiler aber noch kein Kränzchen gewunden.
Geehrter Beat, vielleicht habe ich Sie zu scharf angegriffen, aber das stellvetretend für einige Kommentatoren. Da ich nicht glaube, dass Sie das Florett ausgepackt haben, sondern den Mixer. Und nein, ich glaube nicht, dass alles an der Qualität des Schreibenden liegt, sondern dass es auch unmögliche Missionen gibt. Und die NZZ hat zwar viele Dreispalter, aber das hat ihr sicher nicht ihren Ruf eingetragen. Denn diese sind dort so scheusslich wie überall sonst.
Ui Hr. Seibt. Das gibt mir aber jetzt zu denken. Sie poltern hier herum und erklären es mit einer Art weissem Ritter, welcher sich heldenhaft stellvertretend vor “einige andere Kommentatoren” (welche?) stellt. Super. Vielleicht bekommen Sie am Ende auch noch die Sache mit dem Mixer etwas aus dem Kopf. Sparen Sie doch die Kräfte für den angekündigten Beitrag am nächsten Freitag. Viel Erfolg beim Griff in die Tasten. Beat
Amüsant, denn letztlich zeigt es, dass auch ein Herr Seibt einfach manipulierbar ist und auf dem eigenen Narzissmus ausgerutscht ist.
Ich würde nochmals das Fremdwörterbuch konsultieren.
Allenfalls provozierbar, oder vielleicht obstruierend gegenüber kumulativer Zusammenhanglosigkeit in Kommentaren?
Ich lese den Bund/Tagi an sich jeden Tag mit Genuss – eine Leseleidenschaft, die ich um 6 Uhr morgens mit einigen Pendlern teile. Schade nur, dass die grossen Geschichten meist den Wissen-, Kultur- oder Reise-Redaktoren vorbehalten sind. Im Wirtschaftsressort muss man dagegen fast durchwegs mit Dreispaltern vorlieb nehmen. Ich jammere nicht primär, weil ich letzte Woche als Sprecher der Baubranche dem Tagi Auskunft gab und mich mit ganzen 2 Sätzen in einem 4000-Zeichen-Text wiederfand. Aber ja, ich hätte dem Journalisten mehr Platz für die Ergebnisse seiner Lehrstellen-Recherche gegönnt.
Diese Offenheit ist ein kleines Novum. Und ja: “im besten Fall: ein Konzentrat”! Überhaupt ist das Pressen von Gedanken und Fakten in ein Gefäß von vorgeschriebener Größe nicht mehr zeitgemäß – insbesondere online. Es war mutig vom «Tages-Anzeiger», den Blick aufs Wesentliche zu lenken. Manches braucht Raum, manches muss nicht aufgebläht werden. Sehr typisch wäre die Haltung gewesen “Der Dreispalter hat sich bewährt”. In Wahrheit ist er eine Angewohnheit, eine oft schlechte, die auf Lust- und Mutlosigkeit und mangelndem Reformwillen fußt.
zeichen inkl. leerzeichen: 3318. der blog ist also ein ungemach. kein wunder les ich keine mehr. diesen hab ich nur geschaut, weil mir das logo ‘deadline’ gefiel. und ich finde es bemerkenswert, dass in einem blog genau das beschrieben wird, was das problem all dieser hundertausend blogs ist. zumindest ein problem. das zweite problem sind dann all die antworten die sang und klanglos in den tiefen des internets verschwinden. schall und rauch. oder halt nur noch rauch. vielleicht nicht einmal mehr das…
Tja, Herr Müller, die Wahrscheinlichkeit ist zwar, wenn man Sie ernst nimmt, quasi Null, dass Sie hier je wieder etwas lesen weden, aber wenn doch, dann diese Antwort: Sie irren sich. Das Problem ist nicht eine gewisse Länge, sondern ein gewisser Stoff auf einer gewissen Länge. Nähere Erleuterungen, die Sie nicht lesen werden, folgen nächsten Freitag, 6:00 und rauschen dann direkt in die Tiefen des Internets ohne nicht einmal Rauch zu hinterlassen.
meiner eitelkeit folgend hab ich natürlich wissen müssen, ob jemand auf meinen allerwichtigsten beitrag geantwortet hat! wissen sie, das problem heuzutage (ich hasse dieses wort, aber es passt wie der braune schlirp in die unterhose) ist, dass jeder schreibt und niemand mehr gelesen wird. so alles in allem mein ich. von ausnahmen abgesehen. ausnahmen wie zb. journalisten die information lecker verpacken. die gabs früher aber auch. über die sag ich nix. aber all die abertausenden von blogs… ich war ja auch eine zeit lang dabei. aber es ist echt für die katz, wie ich meine. zeitvertreib.
Gut gebrüllt, Herr Kollege. Das Dreispaltenelend ist weit verbreitet, seine kleinen Schwestern heissen Fünfzeiler oder Füller. Immer noch wollen viele Zeitungen und Fachpublikationen dem Leser möglichst alles erzählen. Das ist weder nötig noch sinnvoll. Aber der Mut zum grossen Wurf fehlt halt oft auch bei den Vorgesetzten. Die verlangen Telefon- statt Realinterviews, Googlen statt Recherche, Quantität statt Qualität. Schade. Dafür fallen die seltenen Perlen dann umso mehr auf.
Ob der Dreispalter die Quelle allen Übels ist, kann ich nicht beurteilen, da ich mich nicht zur schreibenden Zunft zähle. Was mir vielmehr auffällt, ist die mangelnde Qualität der Texte als solches. Teilw. Schreibfehler und Wortverdreher in jedem Absatz. Ich spreche jetzt nicht vom gedruckten Tagi oder der NZZ (obwohl es dort auch vorkommt). Nein, ich rede eher vom Online-Journalismus als solches (und da zähle ich dann Tagi und NZZ dazu). Kommen dann noch die ganzen Blogs der vielen Möchtegern-Schreiber hinzu … Brrr!. Doch hier schliesst sich der Kreis: Qualität zählt scheinbar nicht (mehr).
Das ist einer der besten Blog’s, die ich je gelesen habe! Herr Seibt hätte es nicht treffender formulieren können. Gratulation! Erfreuen tue ich mich aber auch über die wenigen, nicht unbedingt weisen, aber dafür sehr intelligent geschriebenen Leserkommentaren. Ich würde wetten, dass mindestens zwei Leser ausgesprochene Sympathisanten der SVP sind. Bitte verzeihen Sie mir diesen Zusatz, aber der musste einfach sein! :-)))
etwas kritisch sein bedeutet sofort SVP Sympathisant? Ist das die Schweizer Version von Godwin’s Gesetz? Ist Harmoniesucht schon dermassen akut?
Glauben Sie bloss nicht, dass SVP Menschen kritisch sind. Dass Sie meinen Kommentar mit Godwin’s law vergleichen, empfinde ich jedoch als geschmacklos. Aber eben, wenn Argumente fehlen und man trotzdem seinen Senf dazu geben möchte…
… also ich bin nicht SVP-Sympathisant. Ich bin SVP-Mitglied. Und als solches qualifiziere ich natürlich auch nicht für “intelligent geschriebene Leserkommentare”. Weil SVP-Mitglieder ja bekanntlich (hier darf man ausnahmsweise auch als links-liberaler offenbar verallgemeinern) dumpf sind und die Intelligenz und das Raffinement eines Hofhundes besitzen. “Lieber mit Sartre irren als mit DeGaulle recht haben”, gell? ;-).
Gut, auch mal über Form im Journalismus zu reden. War es Benn, der gesagt hat, die Form sei die eigentliche Message (in anderen Worten natürlich)? Ich teile die Meinung, dass der Tagi viel besser geworden ist, obwohl ich einige Entlassungen schlimm fand und daraufhin das Abbo abbestellt habe. Es sind die lang fällig gewesenen Elemente: Vertiefung, Priorisierung, Setzen eigener Themen, welche mir positiv aufgefallen sind. Nun müsste man noch etwas kritischer gegenüber der Zürcher Stadtregierung werden (auch schon besser), dann könnte man den Tagi ohne Ungemach wieder abbonieren.
Präzisierung meines durch mangelnde Zeit unschönen Stils: Wenn der Tages-Anzeiger sich noch mehr von seiner früheren Rolle als ausgelagerte PR-Abteilung des Zürcher Stadtrates emanzipieren und annähernd so frech mit diesem umgehen würde wie Kilian mit Washington, Seibt mit der Hochfinanz und Büttner mit Bern, dann wäre er wieder eine richtig gute Zeitung.
Zeilen-Zu-Texter oder Zeilen-Sklave, das ist hier die Frage?
Und unerbittlich ist der Redaktionsschluss, noch unerbittlicher die Reaktion des Herrn Chef-Redakteurs an der Sitzung am nächsten Morgen, wenn das Chefliche Gewitter sich über Zeilenschinder ergiesst. Und die anderen Zeilensklaven ducken sich vor der Knute der Kritik.
Hoffnungsvoll beginnt die Karriere als unbezahlter, gut ausgebildeter, mit wenig Aussicht als späterer angesehener Redaktur! Schreiben ist Kunst, doch von der Schreibkunst kann heute kaum jemand/In Leben als gestresster Zeilenschreiber.
Herr Seibt, hiermit möchte ich mich nochmals für diesen fantastischen, wirklich sehr klugen Blog, bedanken!
@Ika Nakre: Dankesschreiben werden vom Reporter Seibt gewiss immer wieder gerne angenommen 🙂
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Und Sie, was haben Sie denn zu Journalisten-Entlassungen, ausgemerzten Dreispaltern und Sätzen wie diesem “Denn nur mit energischen Strecken hat man die Chancen, die Welt am Schwanz und die Leser hinter ihrem Kaffee zu packen” etwas zu sagen..?
Dass der Dreispalter (bzw. die Textlänge 3000-4500 Z.) im Tagi verschwunden sein soll, halte ich dann doch für eine etwas gewagte Behauptung, Herr Seibt. Jedenfalls wäre mir das in den letzten Tagen nicht aufgefallen 😉 Ein Dreispalter kann natürlich langeweilig, belanglos, in Schreibroutine erstarrt oder was auch immer sein – aber auch in dieser Länge lassen sich gute, spannende und relevante Geschichten erzählen. Davon abgesehen brauchen die längeren Stücke ja auch mehr Lesezeit, das kann ich mir unter der Woche so schnell beim Morgenkaffee ja gar nicht alles reinziehen…
Wunderbar dies zu Lesen. Doch was auch immer Geschrieben steht dem Leser im Hirn die Windungen verdreht. Egal wie lang das Jornal auch ist, kommte es doch auf den Korrekten Inhalt an. Leider wird vermehrt Versucht den Leser zu Manipulieren mit allen möglichen Inhaltlichen und Typographischen Tricks. Mein Spezialgebiet der AUFMERKSAMKEITERREGUNG liegt in der Form der Unkorrektheit in der Rechtschreibung und der Satzgestalltung, dass Sätze noch fertig gedacht werden müssen und so bleibt die Manipulation beim Leser. >Korrektheit ist Durchnschnitt >>Unkorrektheit stolpert und hinterlässt Spuren.