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Eine Plexiglasscheibe vor der Welt: Die Halbdistanz

Constantin Seibt am Montag den 23. Juli 2012

Es gibt, gerade in den besten Zeitungen, tadellos geschriebene Texte, die einen völlig kalt lassen. Man liest sie mit Respekt, aber als wäre eine Plexiglasscheibe dazwischen.

Das Problem dahinter ist dann fast immer das gleiche: Das Tempo variiert nicht. Satz für Satz, Absatz für Absatz arbeitet sich der Text gleich sorgfältig vor.

Das liest sich ermüdend wie ein Schweizer Problemfilm aus den 80er-Jahren:

Die Kamera verharrt lang auf dem zerfurchten Gesicht des ALP-ÖHIS.

DER ALP-ÖHI: schweigt

Die Kamera löst sich zögernd vom Gesicht des ÖHIS, schwenkt über das Bergpanorama und landet auf dem fast ebenso zerfurchten, aber bartlosen Gesicht seines SOHNS.

DER SOHN: nach langem, schmerzlichen Schweigen Bappe, ich bin schwul.

Die Kamera löst sich vom Gesicht des SOHNS, streift zurück über das Bergpanorama und landet auf dem Gesicht des ÖHIS.

DER ÖHI: nach langem, schmerzlichen Schweigen Bisch nüme min Sohn.

Der Fehler hinter gefühltem Zeitlupentempo in Zeitungstexten ist auf zwei Arten beschreibbar. Zunächst als technisches Problem, als eine Gleichförmigkeit der Form: Keine eingestreuten Dialoge, wenig Schnitte oder Pointen, keine Rhythmuswechsel. Der Text gleicht einem Foto, bei dem alle Gegenstände gleich ausgeleuchtet sind.

Aber meistens sitzt der Fehler noch tiefer: als Fehler der Haltung des Autors. Der Text ist durchgehend von der falschen Perspektive aus gesehen: aus Halbdistanz.

Halbdistanz entsteht immer dann, wenn eine Recherche einen Autor unbewegt gelassen hat: Er ist nie weit weg und nie nah dran. Sondern er steht quasi irgendwo in der Mitte.

Schreiben Sie Kino!

Das Gegengift zur Halbdistanz ist, bewusst die Kamera zu führen. Die wirksamsten Perspektiven zum Rhythmuswechsel sind das Panorama und der Close-up. Also der fremde Blick vom Mars. Und der Zoom auf ganz nah, wo die Haut fast nur noch aus Poren besteht.

Die richtige Frage, um auf die Weitwinkel-Perspektive zu kommen, ist: Was bedeutet meine Story unter dem Spiegel des Universums?

Dabei kann man weit weg blenden: ins Leben allgemein, in die Branchenbedingungen, ins Philosophische, wohin auch immer. Sagen wir, Sie schreiben einen Artikel über das Swissair-Grounding. Dann haben Sie etwa folgende Möglichkeiten, einzusteigen.

Sie setzen aufs Ewige:

Heute stirbt man, wie früher ein Pharao. Damals wurden nach dessen Tod hunderte Sklaven mit eingemauert. Heute sterben mit ihrem Besitze hunderte von Dingen. Fast alles was dir treu und wertvoll war, Möbel, Bücher, Fotos, verwandelt sich im Augenblick deines Todes zu Müll.

So war es auch bei der Swissair. All die millionenteueren Landerechte, Buchungssysteme, Uniformen, Plakate, Tassen, Verträge, alle Pläne und Hoffnungen verwandelten sich im Augenblick des Konkurses in Müll.

Oder Sie setzen aufs Nationale:

Nüchtern betrachtet war die Swissair das Scheitern eines schlecht gemanagten Transportunternehmens in einem schwierigen Markt. Doch das ist nur die eine Seite der Geschichte. Die andere Seite ist blau. Swissair war die Fluglinie eines Landes, das kein Meer hat. Und dem nur die Weite des Himmels bleibt, um zu träumen.

Oder Sie bleiben in der Branche:

Fliegen ist ein Pennygeschäft, mit kleinen Gewinnen und enormen Fixkosten, extrem verwundbar durch Konjunktur und Ölpreis. Für die Schweiz war der Untergang der Swissair eine Katastrophe. Für den Rest der Welt keine Nachricht. Denn es stürzen mehr Fluglinien ab als Flugzeuge.

Etc. Wichtig ist, dass Sie das Fenster zwei, drei mal im Kopf wie im Artikel weit öffnen. Und die Luft der Umgebung hineinlassen.

Bleib nah, wenn es weh tut

Der Gegensatz dazu ist der Close-up. Ihn brauchen Sie immer, wenn Gefühl im Spiel ist. Wechseln sie dann nie ohne  Überlegung aus der Szene wieder heraus. Hitchcock etwa sagte:

Einer der grössten Fehler des Fernsehens ist es, bei einem Dialog in die Halbtotale zu gehen, nur weil man die Übersicht zeigen will. Das tötet die Emotion.  Die Kamera muss nah dran bleiben bei den Figuren.

Entscheidend beim Transport von Gefühl ist die Nähe. Sobald es fröhlich, verzweifelt, böse oder was immer wird, darf man nicht zurückweichen. Das bedeutet: Keine eingeschobenen Erklärungen (die nur vor oder nach der Szene). Keine indirekte Rede. Sondern nur: Konkretes. Kurze Sätze. Direkte Zitate.

Eine milde Form des Close-ups ist der Zeitraffer, bestehend aus konkreten Einzelheiten.

Sie behandelten die Piloten wie Zechpreller. Sie verlangten für alles bündelweise Bargeld: für den Treibstoff,  für die Landerechte, selbst für die Catering-Brötchen. Morgens um zehn hielt die Londoner Flughafenpolizei zwei Maschinen am Boden fest, weil diese die Landegebühr nicht bezahlt hatten. Um 16.15 Uhr stellte die Swissair nach 71 Jahren ihren Flugbetrieb ein.

Die entscheidenden Details in der oberen Passage sind die Zeitangaben (die die Atmosphäre einer tickenden Uhr schaffen) und das absurde Detail der Catering-Brötchen: Dass sogar diese vorausbezahlt werden mussten, zeigt die ganze, verzweifelte Absurdität der Lage.

Möglich wäre natürlich auch die Sache noch näher unters Mikroskop zu nehmen. Das könnte dann wie folgt aussehen:

Um 6 Uhr morgens, als es noch dunkel war, betrat der Pilot XY mit einem Becher Automatenkaffee ein schmuckloses Büro in der Konzernzentrale. Er nannte Namen und Flugnummer. Einer der Männer hinter dem Schreibtisch legte sieben Geldbündel auf den Tisch. Ein Pack Tausendernoten, sechs Pack Hunderternoten. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie ins Kuvert zu stecken, sondern legte es extra hin. «Guten Flug», sagte er. XY steckte das Geld in seine Uniformtasche. Es fühlte sich dick und warm an. Und verzweifelt. Noch nie hatten 16’000 Dollar sich so verzweifelt angefühlt.

Egal ob in einer Reportage, einem Kommentar oder einem Nachrichtentext, sogar egal, wie lang der Text ist, durchgehende Halbdistanz ist eine Todsünde. Die Aufgabe eines Journalisten ist, immer wieder eine Perspektive zu finden, die der Leser nicht hat. Und die ihn deshalb erregt. Und das kann entweder der Blick über die blauen Berge sein. Oder ein aufs Papier geklatschtes blutiges Stück Fleisch.

Dafür wird man bezahlt: fürs Träumen. Und fürs Hinsehen.


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12 Kommentare zu “Eine Plexiglasscheibe vor der Welt: Die Halbdistanz”

  1. Borer Franz sagt:

    Bin wiederum begeistert von Seibt’s ‘Deadline’ und wünschte mir, dass deren Inhalt auch von andern Tagi-Journalisten zu Herzen genommen würde…

  2. louis montier sagt:

    hier bin ich mir zum ersten mal nicht sicher, ob ich dem letzten – pointierten – satz zustimmen kann: für’s träumen und für’s hinsehen wird der journalist bezahlt. für’s letzte gibt es heute den kameramann, der das besser hinkriegt mit der perspektive und dem dranbleiben (in der extremform mit verwackelten iphone-closeups), und zum träumen lese ich doch nach wie vor lieber lyrik. wie wär’s denn mit knallharter recherche, detailverliebtheit und dem atemlosen tempo des neuen? immerhin lese ich die zeitung meistens morgens, wenn ich aus dem träumen raus muss und das hinsehen noch nicht so klappt.

    • Constantin Seibt sagt:

      M’sieur Montier, touché: Sobald Sie Ihre Bücherwand zücken, gebe ich als Vertreter des Altpapiers auf. Aber zurück zur Morgenzeitung: Die Frage ist nur wie man zu Recherche, Details und dem Neuen kommt. Durch Fleiss und Arbeit, sicher. Aber im Träumen und Hinsehen.

  3. Kobayashi sagt:

    Schöne Szene mit den Geldbündeln, aber wie schrumpften die sechs Pack Hunderter und ein Pack Tausender zu 16’000 Dollar?

  4. Danke!
    Die Deadline-Miniaturen sind immer wieder wie kleine Kaffeepausen: durchatmen, innehalten, ein wenig Distanz zum Alltag… und dabei lächelnd und nickend Altbekanntes neu entdecken. 🙂

  5. Eine kolossale Fehlleistung des zeitgenössischen Mediensystems, dass diese Texte nicht fadengehftet und leinengebunden erscheinen in einem erlesenen Verlag erscheinen. Seibt verblogt seine Perlen und lässt sich für den Klunker bezahlen. Aber das hängt mit dem Betriebssystem “Seibt” Zusammen. Nach 4000 Zeichen braucht er ein nationales Schulterklopfen, eine porentiefe Liebesnacht mit Stellungswechsel, begeisterte Kommentare. Wir kennen das, und leiden mit. Er ist überbezahlt und unterfordert in einem. Tragisch. (Kommentar veröffentlichen: etwas Sex verbessert das Werbe-Umfeld von “deadline”)!

  6. Paul Gisin sagt:

    Wie kommt es, dass ich hier eine, zwar amüsante aber doch einfache Anleitung für die Umsetzung der “Ratteninsel” lese?

  7. Gernot sagt:

    Hier noch was zur Verteilung der Geldbündel:
    Ein Pack (mit zehn) Tausendernoten
    Sechs Pack (mit je zehn) Hunderternoten
    oder
    (1 * (10 * 1000)) + (6 * (10 * 100)) = 16 000

  8. Katharina sagt:

    Entweder Sie flunkern hier, Herr Seibt, oder Sie haben tatsächlich wenig Ahnung. Ich wies Sie schon einmal auf das Thema der Manipulation hin, welches sie thematisch (bewusst oder aus Unkenntnis?) übergehen.

    Darum geht es:

    http://www.youtube.com/watch?v=Pj8GlqiOAIs

    • Constantin Seibt sagt:

      Flunkern wobei? Bei dem Satz, dass man fürs Träumen oder hinsehen bezahlt würde? Klar ist Auswahl und Schnitt der Fakten, Zahlen, Experten, Zitate eine höchst heikle, weil nie objektive Sache. Dazu gern später mehr. Was Sie aber andeuten, ist, dass Journalisten v.a. für Manipulation bezahlt würden. Nur: Von wem beziehe ich dann meinen Scheck?
      Arbeite ich für das Weltjudentum, die Wall Street, Moskau, den Vatikan, Peking oder Bielefeld?

      • Katharina sagt:

        natürlich werden Sie für Manipulationen bezahlt. ganz einfach indem Sie gefeuert werden wenn Sie nicht. Seien Sie doch mindestens ehrlich und geben zu, wie z.B. durch Weglassen ein anderer Kontext erzeugt wird. Oder dass es sogar soweit geht, wie auf dieser Newssite oft beobachtet, ganz klare Falschinformationen kommuniziert werden.

        oder zum Beispiel, dass bei Polizeistories Newsnetz immer den latenten Rassismus stetig köchelt, indem IMMER auf die ethnische Herkunft verwiesen wird.

        Also tun sie doch nicht so betupft mit Ihrem lahmen Verweis auf Verschwörungstheorien.