Beim nachfolgenden Rezept handelt sich um die erfolgreichste Produktelinie, die ich betreibe: die mit dem meisten Echo. Aber auch die, die am meisten Spass gemacht hat. Denn, trotz einigem Aufwand, gelingt das Produkt fast immer.
Allzu scharf bin ich zwar nicht auf Konkurrenz. Aber wenn man schon einmal die Karten auf den Tisch legt, dann auch das Ass.
Der Gedanke dahinter ist simpel. (Und steht schon als Skizze im Post: «Wie wäre es, wenn wir alles ganz anders machten?») Die meisten Redaktionen begehen einen Fehler. Sie konzentrieren sich stärker auf die Jagd nach Neuigkeiten als nach Geschichten. Deshalb verpassen sie regelmässig ausgerechnet die grössten, wichtigsten, schönsten. Natürlich verpassen sie sie nicht vollkommen. Aber sie bringen sie so, wie ein Serienmörder seine Leiche in der Stadt verteilt: noch blutig, aber tot und zerstückelt.
Denn alle grossen Geschichten – Skandale, Karrieren, Krisen – haben eins gemeinsam: Dauer. Sie entwickeln sich über Tage, Wochen, Jahre, Jahrzehnte. Und Zeitungen berichten dauernd, aber fast nur die neuesten Bruchstücke der Story: die neusten Aufregungen, Statements, Wendungen.
Die Idee besteht darin, zu warten, bis eine Geschichte reif ist. Und sie dann als Ganzes zu erzählen, in einem Schwung, an einem Stück.
Dazu braucht man nur Unverfrorenheit, Fleiss und Geduld. Denn manchmal muss man ziemlich lang warten, bis eine Geschichte eine echte Geschichte ist: mit Anfang, Mitte, Schluss. Dafür hat man dann perfekte Innereien: In den Archiven findet sich eine ganze Organbank, die Sie zum Leben erwecken können: Anekdoten, Zahlen, Zitate.
Sie müssen sich zwar durch einen monströsen Papierberg fressen. Aber das Resultat wird fast garantiert ein Treffer.
Eine sehr kurze Theorie des Publikums
Nur: Warum funktioniert es beim Publikum? Denn im Kern ist das, was Sie liefern, Informations-Recycling.
Klar ist es klug, auch mit Beteiligten und Experten zu reden. Das aber vor allem, um die Konturen ihrer Geschichte einschätzen zu können: Was war Nebel, was die entscheidenden Ereignisse? Was die Motive, Hoffnungen und Vorurteile der Beteiligten? Was ihre damaligen Alternativen?
Aber das Resultat dieser Recherchen wird – kein Wunder bei vielbeschriebenen Geschichten – höchst selten etwas umwerfend Neues ergeben. Oft nur ein, zwei farbige Details. Im Grund erzählen Sie also nur Bekanntes. Trotzdem wird Ihr Artikel von den Lesern unter Garantie als überraschend wahrgenommen werden. Warum?
Es gibt einen grossen, klugen Satz des Journalisten Karl Lüönd über die Leser. Er lautet:
Du sollst nie die Intelligenz des Publikums unterschätzen; aber du kannst immer auf seine Vergesslichkeit zählen.
Und so ist es.
Deshalb funktioniert erzählendes Recycling so gut. Die Hälfte aller alten Fakten ist dem Leser neu. Darüber freut er sich. An die andere Hälfte erinnert er sich vage. Und freut sich über das Wiedersehen. Und schliesslich bieten Sie letztlich doch etwas wirklich Neues: das Kondensat, also fast ausschliesslich die Höhepunkte. Und das Panorama, also den Überblick.
Wo es sich lohnt, zu graben
Eine Breitleitwand-Nacherzählung ist immer eine Investition. Man braucht Platz – so viel wie möglich. Unter einer 3/4-Zeitungsseite sollte man nicht anfangen. Und man braucht Zeit: Denn man muss den Drucker heiss laufen lassen, Artikel von der Wiege (immer die ältesten ausdrucken!) bis zur Bahre (der Gegenwart) aus der Datenbank holen, das ganze Zeug lesen und im Kopf krank und wieder klar werden, bevor man schreibt.
Deshalb sollte man sorgfältig auswählen, wo man Zeit, Energie und Platz investiert. Etwa hier:
- Etwas stirbt. Nicht umsonst ist der Nachruf eines der dankbarsten Genres: Der Tod ist immer ein guter Schluss. Also lohnt es sich, überall zu recherchieren, wo etwas stirbt: Ein Unternehmen wird verkauft oder geht pleite. Ein Mächtiger stürzt. Ein Würdenträger wird entehrt. Eine Tradition kippt. Eine Kaste verliert die Macht. Ein Star muss in Kaufhäusern singen. In all diesen Fällen wird von den meisten Medien zwar auf den Verlierern herumgehackt – unweise Medien verachten Verlierer. Und sie verpassen dabei die viel interessantere Geschichte von Aufstieg und Fall. Bei der man nicht selten die Keime des Verderbens schon in den vergangenen Siegen entdeckt.
- Etwas triumphiert. Eine Firma erobert den Weltmarkt. Eine neue Partei gewinnt die Wahlen. Jemand wird reich. Hier lohnt es sich, hinzusehen, mit welchen Mitteln, welchen Kämpfen, welchen Zufällen und Entscheidungen das passierte. Und weise Medien mischen ein wenig Melancholie in jede Erfolgsgeschichte. Denn – wie gesagt – fast immer findet man im Aufstieg schon die Keime des Verfalls. Blamieren Sie sich nicht wie die Wirtschaftsmagazine in den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts: Teils sassen von den gefeierten Managern des Monats ein Jahr später nur noch die Hälfte im Sessel.
- Etwas ist gerade da. Eigentlich egal, welcher Gegenstand gerade warum im Gespräch ist, jeder hat eine Geschichte. Es gibt eine Geschichte des Kugelschreibers wie der Nacktheit, des BHs wie der Tischsitten, der Tennischampions wie des Schnees. Aber passen Sie auf: Diese Geschichten lesen sich gut, aber reissen niemand mit. Aber erfreulicher Feuilletonstoff sind sie immer.
- Etwas ist gross. Die Königsdisziplin. Wo immer es gerade Schlagzeilen, Nachrichten und Kommentare im Dutzend hagelt, dort können Sie ihren Kopf darauf wetten, dass die besten Geschichten übersehen werden. Hier nur ein kleines Brainstorming zur Eurokrise: Die Geschichte der Banken – warum sind sie immer noch halb pleite, obwohl sie seit 2008 mit hunderten Milliarden aufgefüttert wurden? Die Geschichte der Superreichen als Profiteursklasse der letzten 30 Jahre. Die Jahrhundert-Geschichte vom Aufstieg und Fall der Mittelklasse. Die Geschichte der vielleicht langweiligsten Herrscherkaste der Geschichte: der Manager. Die Geschichte des Versagens von Politik. Die Geschichte der Staatsfeindschaft in Griechenland. Des ewigen Schicksals in der Schweiz: als Land der Verschonten. Der zerstörerischen Moral bei Wirtschaftsdebatten in Deutschland. Der komplexen Finanzprodukte. Der Reaktion von Gesellschaften auf Verarmung. Etc.
Das, was nur die Zeitung kann
Viele Tageszeitungen verpassen vor lauter Schnelligkeit die grossen Geschichten. Sie gleichen damit Drogenhändlern, die Speed und Kokain verkaufen. Aber den dadurch entstandenen Zusatzmarkt an Beruhigungsmitteln wie Rohypnol vergessen.
Dabei haben Bezahlzeitungen den Vorteil, hier ein Monopol bewirtschaften zu können. Denn die Gratis-Konkurrenz kann diese Sorte Stoff nicht liefern. Er ist schlicht zu aufwändig. Die Gedächtnislosigkeit des Publikums ist eine echte Marktlücke.
Daran hat das Publikum nicht einmal grosse Schuld: Die grossen Geschichten sind oft schnell und komplex – und immerhin müssen die Leute ja noch einen Job und ein Privatleben erledigen. Problematischer ist der blinde Fleck auf der Seite der Journalisten: Sie sind durch Routine dahin gekommen, Fakten als Fakten entgegenzunehmen. Und vergessen das Staunen, dass das eine passiert und das andere nicht.
Es ist nicht nur die Aufgabe von Zeitungen, zu schreiben, was ist. Sondern auch, wie wurde, was ist.
Ein kluger Artikel. Genauso lese ich Zeitung gerne: Hintergrundinfos, warum etwas so wurde wie es ist und nicht nur immer das Neuste, anscheinend Spektakulärste bringen, und morgen ist es schon vergessen. Sollten sich viele Journalisten hinter die Ohren schreiben.
Besonders schön kann man in dem Roman ” Das Urteil am Kreuzweg von Ian Pears erkennen, wie ein und dieselbe Geschichte ganz unterschiedlich erzählt werden kann. Das Buch ist in drei Teile gegliedert, in denen drei Leute die Geschichte aus ihrer jeweiligen Sicht erzählen, und was dabei herauskommt für den Leser ist ein grosser AHA Effekt.
Es gibt gar keine “richtige” Geschichte, nur unterschiedliche Wahrnehmungen.
Und da ist ein wichtiger Punkt.
Der Mainstream Journalismus nimmt nur einige wenige Standpunkte ein.
Das geht soweit, dass der Journalismus sich soweit von der Realität der Mehrheit entfernt, dem Alltag der Mehrheit, dass nicht mehr nur “Neuigkeiten” übermittelt werden, sondern regelrecht nicht vorhandene Realitäten einsuggeriert werden, Alltag massiv manipuliert wird. Insofern ist das Wort tatsächlich eine Waffe, eine gefährliche Waffe in den Händen von Ahnungslosen.
Léon de Winter erwähnt in seinem Roman ” Der Himmel über Hollywood” eindrücklich, wie die Amerikaner durch ihre Medien jeden Bezug zur Realität verloren haben.
Ob der Satz von Karl Lüönd wirklich so klug ist, wage ich zu bezweifeln. Denn das Durchschnittspublikum, für das die Tageszeitungen inklusive der eingemischten Werbeflut schliesslich geschrieben werden, will vor allem eines: Konsumieren. Und das soll vor allem schnell gehen und darf die Hirnwindungen niemals höher als auf die restliche Körpertemperatur erhitzen. Gechichten aber mit Anfang, MItte Schluss haben höchstens an verregeneten Wochenenden voller Langeweile eine Chance. Es braucht also auch auf der Gegenseite ZEIT UND DAUER um auf Intelligenz und Empfang umstellen zu können…
Ein kluger Artikel. Ich habe gerade eine Zeitung lesen wie: Hintergrundinformationen, warum etwas, wie es ist und nicht nur immer die neuesten, scheinbar bringen spektakulärsten, und morgen ist es schon wieder vergessen. Sollte hinter den Ohren vieler Journalisten geschrieben werden.