Physiotherapeut, Innovationsmanager bei der Post, Marketingchef der Heilsarmee und Geschäftsführer einer Agentur: Martin Künzi hat keine lineare Karriere absolviert. Ein zentraler Antrieb bei allem war, die Ursachen von Problemen zu erkennen. Nun legt der 46-Jährige ein Buch über weit verbreitete Firmenkrankheiten vor.
Interview: Mathias Morgenthaler
Herr Künzi, Sie führen in einem Buch über 60 Firmenkrankheiten auf und listen in medizinischem Jargon Diagnosefragen, Risikogruppen, Ansteckungsgefahr und Therapieansätze auf. Wären Sie im Grunde lieber Arzt als Unternehmensberater geworden?
MARTIN KÜNZI: Mein erster Beruf war Physiotherapeut – das war eine gute Schulung in vernetztem Denken. Wenn ein Patient mit Kopfschmerzen in die Praxis kam, brachte es meistens wenig, den Kopf zu behandeln. Entscheidend war, das Symptom zu deuten und die Ursache für den Schmerz ausfindig zu machen. Ähnlich ist das im Unternehmensalltag. Oft entscheidet das Management etwas, die Mitarbeiter haben das auszubaden und wenn es nicht funktioniert, wechselt man die Leute aus statt die Prozesse zu hinterfragen. Oder man rügt Angestellte wegen zu vieler Krankheitstage ohne zu verstehen, dass die Organisation zu viele Hierarchiestufen hat und sich kluge Köpfe nicht entfalten können.
Wie wurden Sie vom Physiotherapeuten zum Innovationsberater und später zum Mitinhaber einer Marketingfirma?
Ich träumte schon in der Schulzeit davon, als Physiotherapeut zu arbeiten. Mein Vater erkrankte in jungen Jahren an Multipler Sklerose und starb, als ich 10-jährig war. Bei ihm erlebte ich, wie wichtig ein Physiotherapeut sein kann, weit übers Medizinische hinaus, als Vertrauensperson, Gesprächspartner, Motivator. Diese Rolle wollte ich auch übernehmen. Nach einigen Jahren im Beruf bekam ich allerdings Probleme mit den Handgelenken und musste umsatteln. Ich holte die Berufsmatura nach, machte eine Weltreise und bewarb mich im Übermut als Projektleiter Innovationsmanagement bei der Schweizerischen Post. Und erstaunlicherweise erhielt ich den Job, weil mein damaliger Chef mutig genug war, auf einen Quereinsteiger zu setzen.
In den neun Jahren bei der Post erwarben Sie noch einen MBA-Titel in Marketing und wechselten dann zur Heilsarmee…
Ich war sehr gefördert worden bei der Post, aber nach neun Jahren hatte ich Lust, in einem internationalen Unternehmen ein Team zu führen und mehr Verantwortung zu übernehmen. Bei der Heilsarmee war ich für die Länder Schweiz, Österreich und Ungarn verantwortlich. Unvergessen bleibt für mich die Teilnahme am Eurovision Song Contest 2013. Für uns war die Teilnahme an der nationalen Ausscheidung mehr eine Marketingidee. Ich vergesse nie mehr, mit welchem Gesichtsausdruck Sven Epinay in der Bodensee Arena verkündete, die Schweizer Vertretung am internationalen Wettbewerb sei… die Heilsarmee. Aus Marketingsicht war das ein Glücksfall: Wir hatten eine Medienpräsenz, die über 20 Millionen Franken wert war, fast jede Zeitung schrieb eine Titelgeschichte. Und wir erhielten einen Plattenvertrag bei Universal Music.
Inwiefern kommt Ihnen Ihr bunter Lebenslauf bei der Arbeit als Unternehmensberater zugute?
Viele Kommunikationsagenturen verkaufen den Kunden einfach Kampagnen ohne Anspruch, den Erfolg messbar zu machen. Bei Enigma funktionieren wir anders, eher nach dem Ansatz eines Arztes. Wir wollen verstehen, warum eine Firma kränkelt. Dies geschieht wie beim Arzt mit einer Anamnese, also einer sorgfältigen Analyse, bevor wir die Massnahmen festlegen. Entsprechend suchen wir nicht primär Kunden, die einfach eine grosse Marketingkampagne ausrollen wollen. Die Spielregeln haben sich markant verändert in den letzten 10 Jahren. Früher heckten Chefs und Agenturleute eine kreative Idee aus und die wurde dann in den Markt gebracht. Ein Beispiel dieses Denkens war die gigantische Kampagne der Marktplattform Siroop: Dank 21 Millionen Franken Werbeausgaben wusste die ganze Schweiz davon, aber offenbar haben die Wenigsten darauf angesprochen. So resultierte in zwei Jahren ein Verlust von fast 140 Millionen Franken.
Wie wären Sie vorgegangen?
Ein gutes Beispiel aus unserer Praxis ist Ricola. Die Marke ist sehr stark und die Firma verwendete weltweit den gleichen TV-Werbespot. Erstaunlicherweise funktionierte dieser in manchen Regionen weniger gut und in Thailand gar nicht. Im Workshop sagte ich dem Marketingverantwortlichen Fernost: «Ihr könnt das nicht mit einer in der Schweiz von einer Agentur entwickelten Idee ändern. Wenn ihr Thailand für euch gewinnen wollt, müsst ihr etwas tun, was ihr noch nie getan habt.» Wir starteten mit einem Event für Blogger und lokale Influencer auf der Dachterrasse des Muse Hotels in Bangkok und fanden mit systematisch angelegten Testings, welche Geschichten und welche Bildwelten in Thailand funktionieren. Das war nur möglich durch den Mut der Ricola-Chefetage, Neuland zu betreten und digitale Möglichkeiten auszuschöpfen. Deshalb sagte ich: Es ist am spannendsten mit Kunden zu arbeiten, die an Grenzen stossen und diese nicht akzeptieren wollen.
In Ihrem Buch führen Sie Firmenerkrankungen wie Egostratitis, Zementismus, Saläritis und Schwarmitis auf. Welche der über 60 Krankheiten halten Sie für die Gefährlichsten?
Sehr ansteckend und schädlich sind der Mail-Hyperaktivismus, der Meetingvirus und die Multitaskingmanie. Wir haben das Mail intern längst abgeschafft, weil wir uns wichtige Dinge persönlich sagen und uns ansonsten nicht bei jedem Schritt absichern, indem wir andere in Kopie informieren. Diese Mailflut hält viele vom Arbeiten ab und davon, Verantwortung zu übernehmen. Auch der Versuch, wichtige Dinge in wenig strukturierten Meetings zu klären, ist eine wahnsinnige Zeitverschwendung. Kürzlich habe ich ein 16-seitiges Protokoll der Vorstandssitzung eines Kunden erhalten, da wurde ich schon beim Durchblättern müde. Meetings sind kostenintensiv und wer unvorbereitet oder unnötigerweise anwesend ist, schadet der Firma.
Ein weit verbreitetes Problem ist doch, dass viele ältere Berufstätige mit dem Gefühl zur Arbeit gehen, die verbleibenden Jahre bis zur Pensionierung noch durchhalten zu müssen.
Gerade in grossen Unternehmen ist das Gefühl, nichts bewirken zu können, tatsächlich weit verbreitet. Wenn die Chefetage noch von Jungitis befallen ist, also primär auf die Jüngsten ausgerichtet ist, führt das leicht zu Dienst nach Vorschrift oder innerer Kündigung bei den erfahreneren Angestellten. Nicht weniger schädlich ist die Bossitis, also der Irrglaube, dass nur Manager Mitarbeitende beurteilen oder Entscheidendes bewirken können. Erfahrungsgemäss können die Mitarbeiter die Probleme oft sehr genau benennen, aber natürlich nicht zwingend alleine lösen. Da braucht es die Einsicht der Chefs, dass eine Krankheit vorliegt und erst die Diagnose zur wirksamen Behandlung führt.
Kontakt und Information:
martin@enigma.swiss oder www.enigma.swiss
Das Buch: Olivier Kennedy und Martin Künzi: Der Firmen Health Check. (Erhältlich in De/Eng)
…also es geht nicht wirklich um Wohlbefinden der vielen sondern um Profite der wenigen… das alles fängt bereits bei den kleinsten an, das optimieren auf nur diesen einen Zweck, eine Rationale die nicht so ohne weiteres kritisch hinterfragt werden darf noch existieren darüber dringend nötige Debatten. Immer sind die Profite “der Firma” die zu wenig sind und unser aller Umfeld ist genau darauf ausgerichtet. Ein mächtiges Tabu…