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«Ich möchte tätig sein bis zum letzten Tag meines Lebens»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 6. April 2019
Martin A. findet seit längerem keinen neuen Arbeitgeber.

Martin A. findet seit längerem keinen neuen Arbeitgeber.

Martin A. hat an der ETH Zürich Geophysik studiert und dann in internationalen Unternehmen Karriere gemacht. Trotz reichhaltiger Führungserfahrung tut er sich seit mehreren Jahren schwer, in der Schweiz wieder eine Stelle zu finden. Ein gutes Netzwerk und Anpassungsbereitschaft seien hier wichtiger als der Wille, etwas zu bewegen, befürchtet er.

Interview: Mathias Morgenthaler

Sie haben in über 15 verschiedenen Ländern gelebt und sind über 30-mal umgezogen – war die Neugier immer grösser als das Bedürfnis, an einem Ort länger zu verweilen?

MARTIN A.*: Ich war ein Shell-Kind und habe mich früh daran gewöhnt, unterwegs zu sein. Geboren bin ich in Venezuela, aufgewachsen unter anderem in Holland, Brunei und Sumatra. Mein Vater war Manager bei Shell, und das war mehr ein Lifestyle als ein Job. Man trifft rund um die Erdkugel spannende Menschen und lebt an abenteuerlichen Orten – für mich war das immer eine Bereicherung, nie eine Entwurzelung. Ich hätte mich eingeengt gefühlt, wenn wir lange am gleichen Ort geblieben wären.

Später sind Sie beruflich in seine Fussstapfen getreten.

Mein Vater war Geologe, ich habe Geophysik studiert an der ETH Zürich, weil das schon damals eine der besten Adressen war. Ich war dann zunächst für einen anderen Energiekonzern in Kalifornien, Indien und im Sudan tätig, bevor ich zu Shell wechselte. Dort durfte ich als junger Geophysiker Erdöl- und Gassondierungen in Papua-Neuguinea verantworten, was eine wirklich abenteuerliche Sache war. Ich führte Verhandlungen mit Einheimischen in Pidgin-Englisch und musste mehr als einmal um mein Leben fürchten – da ist man sehr auf sich allein gestellt.

Nach einer MBA-Ausbildung in Fontainebleau setzten Sie Ihre Karriere in der Schweizer Industrie fort.

Ich nahm zunächst ein Angebot von Sulzer an. Das war ein böses Erwachen, weil alles so formell und militärisch organisiert war. Ich hatte bis dahin nie in der Schweiz gearbeitet und musste mich erst daran gewöhnen, dass alle sich siezten und dass es Manager gab, die nie die Schweiz verlassen hatten, aber dachten, sie wüssten alles über die Welt. Nach einigen guten Jahren bei ABB, für die ich in China, Japan und Schweden tätig war, kehrte ich für ein paar Jahre nach Holland zurück, wo ich im Banking und Energiebereich arbeitete. Danach holte mich ein Headhunter zu Swiss Re. Dort konnte ich in den globalen Märkten Energiefirmen als Versicherungskunden gewinnen – ein Geschäft, das mehrere hundert Millionen Franken Umsatz einbrachte. Bei Swiss Re lernte ich das Wort Seilschaften und seine grosse Bedeutung kennen. Als Business-Nomade war ich weniger vernetzt im Unternehmen als andere, zudem wich mein Lebenslauf stark von dem meiner Managementkollegen ab, was dazu führte, dass wir oft nicht gleich dachten. Mein Eindruck war, dass meine früheren Erfahrungen und Kenntnisse der internationalen Märkte nie richtig zur Geltung kommen konnten. Jedenfalls musste ich nach sieben Jahren trotz Rekordresultaten gehen.

Rohstoffe waren Martin A.s Leben: Ingenieur auf einem Erdölfeld. (Foto: Getty)

Da waren Sie gerade 50 geworden. Wurde es danach schwieriger, neue Aufgaben zu finden?

Ich liess mich noch auf ein Abenteuer in Saudiarabien und Bahrain ein, wo ich CEO einer börsenkotierten Versicherungsgruppe wurde. Die Restrukturierung und strategische Neuausrichtung gelangen, die Firma macht heute über eine Milliarde Dollar Umsatz und wird von meinem damaligen Finanzchef geführt. Manche Geschäftspraktiken waren aber nicht vereinbar mit meinen Werten, und als die Lage mit Beginn des Arabischen Frühlings ungemütlich wurde, kehrte ich in die Schweiz zurück. Und hier stellte ich tatsächlich fest: Ich passe mit meinem Lebenslauf schlecht in die Unternehmensstrukturen. Für manche bin ich zu alt, für andere zu teuer, für einige wohl etwas bedrohlich oder nicht gut einzuordnen. Vor allem gibt es nur ganz wenige Unternehmen, die jemanden suchen, der nicht nur verwaltet, sondern wirklich etwas hinterfragt und bewegt. Im Personalselektionsjargon heisst das dann: «Danke für Ihre interessante Bewerbung, Ihr Leistungsausweis ist eindrücklich, aber wir haben jemanden gefunden, der noch besser unserem Anforderungsprofil entspricht.»

Dass die Unternehmen für ältere Angestellte höhere Lohnnebenkosten zahlen müssen, ist ein Fakt. Müsste das Ihrer Meinung nach geändert werden?

Darüber wird seit längerem diskutiert, und es wäre sicher ein guter Schritt. Etwas anderes ist in meinen Augen aber wichtiger: Solange in der Schweiz das Netzwerk mehr zählt als Leistungsausweis und weiter Horizont, verschenken wir ein grosses Potenzial. Zu viele Unternehmen suchen brave Manager statt Leadertypen, die auch einmal anecken. Wichtiger, als was jemand kostet, wäre doch, welchen Wert er für ein Unternehmen hat. Um mit komplexen Fragestellungen umgehen zu können, braucht es Erfahrung und einen holistischen Blick, keine Leute, die sich primär auf Schubladendenken und Mikromanagement verstehen. Oder klingt das arrogant?

Für mich klingt es eher frustriert.

Ja, ein wenig Frustration macht sich schon breit, manchmal auch grosse Frustration. Ich habe in den letzten Jahren meine Ersparnisse aufgebraucht und sehr viel ehrenamtlich gearbeitet, oft für Start-ups, die mir bestenfalls ein paar Aktien als Gegenleistung geben konnten. Das macht einen auf die Dauer kaputt. Gleichzeitig sehe und höre ich, wie in diesem Land brave Pflichterfüller bis zu 200’000 Franken pro Jahr erhalten. Das empfinde ich als höchst ungerecht. Es geht mir nicht um einzelne Personen, sondern darum, dass das System Konformität belohnt. Aber Zynismus ist eine gefährliche Sache, man darf sich nicht davon treiben lassen. Somit werde ich weiterhin meinen Interessen folgen und hoffen, dass sich daraus auch wieder bezahlte Tätigkeiten ergeben. Vielleicht gelingt das eher in Form von Verwaltungsratsmandaten. Im operativen Geschäft zu arbeiten ist schwierig, wenn man älter ist als der CEO der Firma und mehr von der Welt gesehen hat als er.

Übernehmen Sie auch Beratungsmandate?

Ja, ich begleite derzeit den Chef einer sehr kleinen Firma für Business Intelligence. Die künstliche Intelligenz (KI) wird viele Branchen radikal verändern. Ich betreibe einen Blog zu diesen Themen und helfe der Firma dabei, mit KI im Gesundheitswesen Fuss zu fassen. Dank künstlicher Intelligenz sind wir heute in der Lage, enorme Datenmengen zu analysieren und so die Komplexität operativer Prozesse zu reduzieren. In Spitälern bedeutet das, dass die Planung und der Einsatz der Ressourcen massiv verbessert werden können – heute gibt es viele Fehler und Feuerwehrübungen und ein entsprechend hohes Stresslevel. Das Ziel ist, dass die Menschen sich künftig um den Teil der Arbeit kümmern können, den keine Maschine übernehmen kann: Führen, Pflegen, Patienten betreuen. Ich schöpfe viel Mut und Energie daraus, wenn ich solche Dinge vorantreiben kann.

Das Untätigsein ertragen Sie schlecht.

Ja, unabhängig davon, dass ich noch Geld verdienen muss und auch für meine Töchter da sein möchte, tue ich mich sehr schwer mit der Vorstellung, untätig rumzusitzen. Wenn ich Rentner sehe, die sich zur Ruhe gesetzt haben, ist das für mich die reinste Horrorvorstellung. Ich möchte tätig sein bis zum letzten Tag meines Lebens. Ich wundere mich immer wieder, wie viele Menschen das Glück suchen, glücklich sein wollen. Es geht doch darum, dich nützlich zu machen, dich anzustrengen, etwas für andere zu leisten – dann verdienst du es, glücklich zu sein. Wozu wären wir sonst auf dieser Welt?

Kontakt und Information:
masch57@bluewin.ch

* Die Identität des Interviewpartners wurde auf dessen Wunsch hin anonymisiert.

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11 Kommentare zu “«Ich möchte tätig sein bis zum letzten Tag meines Lebens»”

  1. Bea Rickenbacher sagt:

    Ich wünsche mir sehr, dass solche breitgestreute, wirklich lebenserfahrene und anscheinend sozialkompetente Menschen wie Martin A. in Führungspositionen kommen. Sei es in der Wirtschaft oder der Politik. In der Wirtschaft läuft es langweilig immer nach dem gleichen Schema X ab: ein quereinsteigender “Partei”freund dezimiert die Basis, stellt ein paar Regale um und kassiert dafür Lohnerhöhung und Bonus.
    .

  2. Richard sagt:

    Martin hat auch im Banking gearbeitet. Spätestens da hätte er sich mit seiner persönlichen Altersvorsorge und Vermögensanlage beschäftigen sollen. Nach einer solchen Karriere sollte man mit 50 ausgesorgt haben. Wenn dieser Lebenslauf stimmt und Martin sich in diesen Tätigkeiten bewährt hat, sollte es eigentlich ein leichtes sein als Freiberufler z.B. im Consulting einen Zusatzverdienst zu erwirtschaften. Wenn sich eine solche Kapazität mit 50 in einer finanziellen Notlage befindet, hat man wahrscheinlich über die Verhältnisse gelebt.

  3. Goofy sagt:

    Hallo Martin

    tolle Gechichte, toll erzählt, aber (noch) kein gutes Ende. Bei mir ging es den umgekehrten Weg. 20 Jahre in einem Ghetto und mit Glück überlebt. Dann studiert und im obersten Kader gearbeitet. Normen und Werte sind zwar da, aber ich bleibe ein Aussenseiter, genau wie Goffmann`s Stigma-Theorie das beschreibt. Meine Erfahrungen wurden/werden oft als Steine im Weg wahrgenommen. Heute fand ich einen Platz im mittleren Kader, wo sie gemerkt haben, dass das ein Unternehmen nutzen kann, ja fast braucht.

  4. Goofy sagt:

    …und das noch “kein gutes Ende” wird hoffentlich durch dieses Interview geändert werden, da bin ich fast sicher! Deine Mailbox wird glühen.
    Mein Mail an dich, siehe Betreff: “Suche Partner für Geschäftsaufbau, Kapital vorhanden”.

    Eine Anekdote: Meine Schwester hasste es die Zähne putzen und sagte als Kind (in den 2000er Jahren): es sollte einen Kaugummi geben, der die Zähne putzt. Ich dagen putze meine Zähne als Kind nie. Das war auch ein Weg. Umwege verbessern die Ortskenntisse. Heute habe ich einen Mercedes im Mund, putze einigermassen fleissig die Zähne.Und fahre nicht Auto.
    🙂

  5. Goofy sagt:

    …und als letzes: Danke Herr Morgenthaler. für die spannenden und lebendigen Interviews. Für mich eine Perle vom Tagi.

  6. Rudolf Beglinger sagt:

    Rentner sein ist nicht langweilig Herr Martin A. Ich bin seit vier Jahren pensioniert und endlich ein freier Schweizer. Jetzt kann ich meine Meinung äussern, ohne als Lehrer in der Zwangsjacke der geleiteten Schulen zu stecken, wo ähnlich wie bei Ihnen nicht die Unterrichtsqualität, die Arbeitsleistung sondern die Stromlinienform im gängigen Arbeitsklima der Unternehmen oder der staatlichen Dienstleister zählt. Da sind eben vor allem Leute gefragt, die den Kopf vor allem zum Nicken brauchen. Und die Politik nickt mit, was zum Ergebnis hat, dass die Schulabgänger zu wenig Deutsch können.

  7. Peter Berger sagt:

    Das Einzige was wir Aelteren noch zu erwarten haben sind, teilweise nicht mal, nette Worte.
    Bewerbungen werden nicht oder mit Eselsohren zurückgesandt. Oft überhaupt keine Reaktion.

  8. Sepp Manser sagt:

    Er hatte sicher eine tolle Zeit. Ölgeschäft, Banking, Versicherung, Industrie, Möbelverkauf, Hühnermast, egal, nichts was ein Tausendsassa nicht (besser) könnte, weil er ja schon überall war und alles gemacht hat. Meist sind die leider wieder weg, bevor die konkreten Folgen ihres Tuns sichtbar werden.

  9. Tom sagt:

    Auch wenn Herr A früher vermutlich sehr gut verdient hat, fände ich auch in seinem Fall das Vorhandensein eines bedingungslosen Grundeinkommens richtig. Es würde ihm und auch allen anderen diesen unterträglichen und destruktiven Stress der wirtschaftlichen Unsicherheit nehmen. Herr A hat noch das Glück, dass er offenbar mental sehr ausgeglichen und stark ist. Die Suche nach neuen Erwerbsmöglichkeiten wird durch unser aktuelles AL-System jedenfalls eher behindert, weil man grundsätzlich mit diesem “Arbeitslosen”-Stigma unterwegs ist und sich in diesem mentalen Zustand vorstellen muss.

  10. Tofa Tula sagt:

    Zu Richard.
    Viele Leute mit solch hervorragenden Faehigkeiten sind nicht wirklich am Geld interessiert. Dank ihres Koennens, auf das sie voll vertrauen, verdienen sie meistens genug Geld um komfortabel leben zu koennen. Altersvorsorge und minuzioese Vorbereitung aufs Alter passt schlecht zu solchen Menschen. Ihr Idealbild ist eher, mal mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Leider geht diese Rechnung, auch wegen den vielen Buenzlis und Langweilern auf dieser Welt, oft nicht auf.

  11. Michael sagt:

    Bestes Beispiel dafür, das uns allmählich die menschlichen Arbeitsplätze ausgehen werden. Und zwar nicht nur, weil sie durch Industrieroboter ersetzt werden, auch Führungshierarchien werden aus kostengründen flacher und wer erst mal so einen Posten ergattert hat, der klebt solange dran, bis sie ihn mit Füssen voran raustragen.
    Warum soll es denn oben anders als unten gehen ?
    Um diese Lage bei den noch fitten aber Ausgesonderten zu entschärfen, führt in meinen Augen kein Weg am BGE vorbei.