
Cristina Riesen: «Es ist wichtig, dass wir unsere Kinder nicht zu sehr zu unseren Projekten machen.»
Nach einer schwierigen Kindheit im kommunistischen Rumänien folgte Cristina Riesen ihrer Neugier: Sie studierte Sprachen, arbeitete in der Schweiz als PR-Profi und schrieb als Europa-Chefin die Erfolgsgeschichte der Firma Evernote mit. Nun will sie mit einem interdisziplinären Ansatz die Bildung zukunftstauglich machen.
Interview: Mathias Morgenthaler
Frau Riesen, Sie sind Unternehmerin und Gründerin der Stiftung «We Are Play Lab», welche die Schule und das Lernen modernisieren will. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre eigene Schulzeit?
CRISTINA RIESEN: Ich bin in Rumänien aufgewachsen unter dem Regime von Ceausescu. Das war eine furchteinflössende, düstere Welt. Wir mussten stundenlang in der Kälte Schlange stehen für ein wenig Brot, Reisen war ebenso verboten wie die freie Meinungsäusserung. So blieb als einziger Ausweg der Rückzug ins Reich der Fantasie. Ich verbrachte als kleines Mädchen viel Zeit in meinem Zimmer, formte mit meinen Händen Figuren, die im Schatten der Kerzen aussahen wie Fabelwesen. Ich hätte damals nicht sagen können, was mir fehlte, ich kannte ja nichts anderes, aber ich lernte früh, aus praktisch nichts durch Kreativität eine eigene Welt zu schaffen. Später liebte ich die Bücher, verschlang alle Romane von Jules Verne.
Wie veränderte sich die Situation nach der Revolution 1989? Sie waren damals 13-jährig.
Da begann die grosse Abwanderung von jungen, gut qualifizierten Menschen. Ich absolvierte die Mittelschule mit Schwerpunkt Sprachen und Tourismus, um danach die Welt entdecken zu können. Mit 19 Jahren begann ich, Sprachen und Philologie zu studieren, gleichzeitig ging ein Kindertraum in Erfüllung und ich konnte als Radiomoderatorin in meiner Heimatstadt Brasov (Kronstadt) arbeiten. Arbeit und Studium zu kombinieren, galt damals als unseriös, aber ich wollte beweisen, dass es möglich war, wenn man motiviert ist. So stand ich täglich um 4 Uhr auf, moderierte die Frühschicht von 6 bis 10 Uhr und arbeitete dann an der Universität bis am späten Abend. Trotz der Doppelbelastung schloss ich die Studien nach vier Jahren mit Bestnoten ab.
In der Schweiz war der Start dann aber schwieriger als erhofft.
Ja, ich kam nach der Jahrtausendwende in die Schweiz und musste bald einsehen: Weder meine Berufserfahrung noch meine akademischen Abschlüsse waren hier etwas Wert. Ich fühlte mich sehr verloren und war deprimiert, weit weg von der Familie und scheinbar ohne Perspektiven. Bevor ich ganz im Selbstmitleid versank, meldete sich zum Glück eine innere Stimme, die fragte: «Wer sagt denn, dass du keine Chance hast? Was würde passieren, wenn du von Grund auf etwas aufbauen könntest?» Ich begann erneut, meine Fantasie zu nutzen, mit innerer Distanz über meine Situation nachzudenken. Und als es mir gelang, stärker auf die Möglichkeiten zu fokussieren, begegnete ich Leuten, die mir eine Chance gaben und an mich glaubten. So fand ich nach meiner ersten PR-Ausbildung eine erste Agenturstelle als PR-Assistentin in Bern.
Wie kam es zum nächsten Karriereschritt?
Ich erwarb später einen Master-Abschluss in Strategischer Kommunikation. Zu dieser Zeit gewannen Kommunikationskanäle wie Facebook oder Twitter an Bedeutung, und mir kam zugute, dass ich mich immer schon für Technologie interessiert hatte und mir der Umgang mit neuen Tools leichtfiel. Um den Überblick über all meine Aktivitäten und Dokumente zu behalten, nutzte ich eine App namens Evernote, die nicht sehr bekannt war. Via Twitter erfuhr ich, dass Evernote einen Kommunikationsverantwortlichen in Europa suchte. Ich bewarb mich per Mail, und nach einer Skype-Videokonferenz und einem Bewerbungsgespräch auf einem Flughafen in Frankreich bekam ich die Stelle und war bald darauf für die weltweite Kommunikation des rasch wachsenden Start-ups verantwortlich.
Das muss Sie an die Fantasiewelt Ihrer Kindheit erinnert haben.
Es war tatsächlich fantastisch. Als ich erstmals den Hauptsitz in Mountain View, Kalifornien, besuchte, spürte ich sofort, welch starke Unternehmenskultur die damals 40 Mitarbeiter verband und wie Firmenchef Phil Libin alle ansteckte mit dieser Mischung aus Bescheidenheit und Ambition. Er war sich nicht zu schade, für uns Kaffee zu machen, auch wenn wir gerade daran waren, die nächsten 70 Millionen Dollar an Kapital aufzunehmen. Die Zahl der Angestellten versechsfachte sich, ich konnte als Verantwortliche für Europa, den Nahen Osten und Afrika in unserem Büro in Zürich mit sehr talentierten Menschen zusammenarbeiten – es war eine unglaubliche Dynamik. Am meisten beeindruckt hat mich aber das Bewusstsein, dass es nicht ausreicht, wenn die Firma schnell wächst, sondern dass auch die Angestellten wachsen müssen. Wir konnten alle gestalten und durften Fehler machen – es gab kein Mikromanagement, keine grossen Egos, die sich darüber definierten, andere klein zu halten.
Und doch zogen Sie nach fünf Jahren weiter.
In einem so dynamischen Unternehmen fühlt man sich nach fünf Jahren wie ein Dinosaurier … Zudem entspricht es meiner Natur, nie lange in der Komfortzone zu verharren. Mein grösster Antreiber war stets die Neugier, nach der Geburt meiner beiden Kinder interessierte ich mich zunehmend für Erziehungs- und Bildungsfragen. Ich las sehr viele Studien, und in zwei Punkten sind sich die meisten Experten einig: Zwei Drittel der Kinder, die heute in der Primarschule sind, werden später einen Job haben, den wir heute noch gar nicht kennen. Wenn wir weiterfahren wie bisher, wird die Hälfte der Kinder im Jahr 2050 nicht über die erforderlichen Schlüsselfähigkeiten verfügen.
Das hat Sie veranlasst, ein interdisziplinäres Labor für Bildungsangebote zu lancieren?
Genau. Es gibt einen breiten Konsens darüber, dass die Schule, wie sie heute funktioniert, unsere Kinder nur ungenügend auf die absehbaren Herausforderungen vorbereitet. Weil sich das Schulsystem nur schlecht von innen reformieren kann, gründete ich die Stiftung «We Are Play Lab», in der interdisziplinär und leidenschaftlich nachgedacht und experimentiert wird. Es geht ja nicht nur darum, Arbeitskräfte für die Wirtschaft auszubilden, sondern Bürger, die verantwortungsvoller miteinander und mit den Ressourcen umgehen. Wichtig ist uns, dass wir die Kraft des spielerischen Lernens nutzen und nicht nur auf Wissensvermittlung in Schulbänken fokussieren, sondern auch Schlüsselkompetenzen wie Kreativität, Zusammenarbeit, kritisches Denken und Kommunikation fördern. Und dass die Metakompetenz, lebenslang dazuzulernen, gestärkt wird.
Da würde vermutlich kein Lehrer widersprechen.
Es gibt tatsächlich viele tolle Lehrpersonen, die heute schon viel von dem umsetzen, was uns vorschwebt. Wir wollen das Schulangebot mit interdisziplinären Ansätzen ergänzen und die Entwicklung beschleunigen. Zu diesem Zweck entwickeln wir mit Wissenschaftlern, Designern und Lehrpersonen Pilotprojekte und bringen globale Initiativen wie «HundrED» in die Schweiz. 2018 führten wir den ersten Campus-Seminar-Event in der Schweiz durch, eine Plattform, die sich mit der Vermittlung digitaler Kompetenzen für Lehrpersonen beschäftigt. Dieses Thema wird zu oft nur an der Oberfläche diskutiert. Es geht nicht darum, dass in Zukunft alle Ingenieure oder Programmierer werden sollten oder dass schon alle Erstklässler iPads benutzen. Aber es darf nicht sein, dass auch in Zukunft weniger als 30 Prozent Frauen in den technologielastigen Berufen tätig sind. Sonst wird das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern wieder grösser. Also geht es darum, die Lernmöglichkeiten so zu gestalten, dass sich alle, insbesondere Mädchen, für Technologie begeistern.
Gemessen an den Voraussetzungen, die Sie hatten, wachsen Kinder in der Schweiz in paradiesischen Verhältnissen auf.
Das stimmt. Die schwierigen Umstände haben mich widerstandsfähig und kreativ gemacht. Das Träumen habe ich mir bis heute nicht abgewöhnt, als Unternehmerin bin ich eine Träumerin mit hohem Umsetzungsgrad. Ich finde es eminent wichtig, dass wir unsere Kinder nicht zu sehr zu unseren Projekten machen, dass wir ihnen genug Raum lassen für das Träumen, für unstrukturiertes Spiel, für Langeweile. Nur so können sie herausfinden, was sie anzieht, können Dinge ausprobieren und ihrer inneren Stimme vertrauen. Sie sollen nicht pausenlos effizient und produktiv sein müssen. Ich möchte als eine Art Designerin des Wandels dazu beitragen, dass die Schule von innovativen Impulsen aus der Start-up-Szene profitieren kann.
Kontakt und Information:
www.cristinariesen.net oder www.wap.rocks
Ein Wissenschaftler erklärt:
https://www.youtube.com/watch?v=FnDEF7Aw9HI
Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt. Das birgt immense Gefahren, so der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer. Die von ihm diskutierten Forschungsergebnisse sind alarmierend: Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nac
Der Ansatz von Frau Riesen ist komplett einseitig und ihr Vertrauen in digitale Technik scheinbar ungebrochen. Das digitale Lernen darf nicht das analoge Lernen und die direkte Erfahrung der Umwelt durch Spiel und später Reflexion ersetzen. Für die Bildung von effizienten und verlässlichen Strukturen im Hirn benötigen diese direkten Erfahrungen. Kinder sollen zBsp durch Zeichnen Fantasie ausdrücken, später ihre Wahrnehmung mit Realität und Ausdruck in Zusammenhang bringen. Zeichnen am Computer veführt dazu, Lay-out mit Kunst zu verwechseln. Ich kann vor diesem Projekt nur warnen!