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«Für die wirklich wichtigen Dinge gibt es keinen idealen Zeitpunkt»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 12. Januar 2019
Claudia Hofer, Gründerin und Inhaberin des Viva Betreuungsdienstes.

Claudia Hofer, Gründerin und Inhaberin des Betreuungsdienstes Viva.

Als Quereinsteigerin hat Claudia Hofer innerhalb von drei Jahren einen Pflege- und Betreuungsdienst mit 80 Angestellten aufgebaut. «Manchmal ist es ein Vorteil, wenn man nicht vom Fach ist», sagt die Berner Unternehmerin. «Wer die Branchengesetze nicht kennt, ist freier beim Aufbau eines kundenfreundlichen Angebots.»

Interview: Mathias Morgenthaler

Frau Hofer, Sie haben als Quereinsteigerin einen privaten Betreuungs- und Pflegedienst aufgebaut und beschäftigen drei Jahre nach der Gründung bereits 80 Angestellte. Was hat Sie zu diesem Wagnis veranlasst?
CLAUDIA HOFER: Ich habe selber erlebt, wie schwierig es ist, wenn in der Familie ein Betreuungsengpass entsteht. Bei der Grossmutter meines Mannes wechselten sich mehrere Familienmitglieder über längere Zeit in der Rund-um-die-Uhr-Betreuung ab, damit sie zu Hause bleiben konnte. Ich selber fiel mit einem Beinbruch von einem Tag auf den anderen aus und war allein zu Hause auf zwei Stockwerken mit meinem kleinen Sohn, der noch nicht laufen konnte. Das war sozusagen mein Crash-Kurs: Ich fand heraus, was es alles für Pflege-, Betreuungs- und Haushalthilfeangebote gab, und merkte bei dieser Gelegenheit: Viele Akteure übernehmen einzelne Aspekte, aber es gibt keinen Ansprechpartner, der die Gesamtsituation erfasst und einen unkompliziert entlastet.

Und da dachten Sie: «Ich hab zwar einen gut bezahlten Projektleiterjob und keinerlei Branchenerfahrung, aber ich nehm das jetzt mal selber an die Hand?»
Manchmal ist es ein Vorteil, dass man nicht vom Fach ist – wer die Branchengesetze nicht kennt, ist freier beim Aufbau eines neuen Angebots. So sagen viele Pflegefachleute, es sei tabu, eine persönliche Beziehung zu einem Patienten aufzubauen. Für uns ist das enge Vertrauensverhältnis zu unseren Kunden aber der Schlüssel. Wir besprechen immer zuerst die Gesamtsituation mit dem Kunden und suchen dann individuelle Lösungen. So werden unsere Leute für manche Kunden zu zentralen Ansprechpersonen, man könnte auch sagen: zu einem erweiterten Familienmitglied. Aber natürlich war es ein Wagnis für mich, einen sicheren Job aufzugeben und viel Geld und Zeit in den Aufbau eines eigenen Unternehmens zu investieren.

Sie waren in dieser Zeit gerade schwanger mit Ihrem ersten Sohn.
Stimmt, bei mir fielen zwei Schwangerschaften zusammen. Nach neun Monaten kam unser Sohn zur Welt, nach knapp zwei Jahren gründete ich die Firma. Mein Verstand sagte mehr als einmal: «Du bist verrückt!» Der Bauch aber meinte: «Für die wirklich wichtigen Dinge gibt keinen idealen Zeitpunkt – wenn eine Idee ruft, soll man ihr folgen.» Zum Glück wusste ich bei der Gründung nicht, wie umfangreich die Materie wirklich ist. Man muss sehr viel Zeit damit verbringen, sich in die Gesundheits-, Alters- und Behindertenpolitik einzulesen, jeder Bereich ist eine Wissenschaft für sich mit eigenen Auflagen, ganz zu schweigen vom erforderlichen Wissen über wichtige Akteure wie Krankenkassen, Ärzte, Kesb, Sozialdienste, Alters- und Pflegeheime etc. Und gleichzeitig musste ich mich um elementare Dinge wie Büros, Computer, Software, gute Mitarbeiter, ein Logo, eine Website, die Buchhaltung sowie arbeitsrechtliche Themen kümmern. Man hat immer zu wenig Zeit und wenig Ahnung in der Aufbauphase, aber jede schöne Kundenrückmeldung gibt zusätzliche Energie.

Worin unterscheiden Sie sich von öffentlichen oder anderen privaten Anbietern?
Ich rede ungern über die anderen, aber ich gebe Ihnen gerne Beispiele für unseren Ansatz: Kürzlich kam eine Frau zu uns, die besorgt war, weil ihre 90-jährige Mutter, die seit 40 Jahren nicht mehr beim Arzt war, jegliche externe Unterstützung verweigerte. Im Gespräch fanden wir heraus, dass die betagte Frau früher einen Hund hatte, den sie über alles geliebt hatte. Wir fanden in unserem Team eine Fachperson, die selber einen Labrador besitzt. Dank des Hundes gelang es relativ problemlos, ein Vertrauensverhältnis und dadurch eine stabile Heimpflegesituation aufzubauen. Manchmal sind die wesentlichen Dinge in keinem Leistungskatalog erfasst. Bei einem älteren Kunden ging es vordergründig um Unterstützung beim Haushalt, emotional viel wichtiger war es für ihn, dass er mit einer vertrauen Person weiterhin seinen Lieblingsspaziergang machen konnte. Solche Dinge können nicht berücksichtigt werden, wenn die Betreuungsperson jeden Tag eine andere ist. Wir achten sehr sorgfältig darauf, dass es auch auf der Beziehungsebene stimmt.

Sie bieten seit einem Jahr nebst Betreuung, Fahrdiensten und Haushalthilfe auch das gesamte kassenpflichtige Spitex-Pflegesortiment an. Wird die Palette noch erweitert?
Ja, wir haben noch viele Ideen, die wir umsetzen werden. Auf Anfang Jahr haben wir zusätzliche Angebote im ambulanten Bereich ergänzt: Manche Dienstleistungen wie Podologie oder Coiffeur bieten wir selber an, beim mobilen Zahnarzt, der Physio- oder Ergotherapie und anderem übernehmen wir auf Wunsch die Terminkoordination und den Transport respektive die Organisation des Hausbesuchs. All diese Dinge sind für Angehörige aufwendig zu organisieren. Wichtig ist uns deshalb eine sinnvolle Vernetzung der Angebote. Der Kunde soll alles aus einer Hand erhalten.

Hat sich das Wagnis, etwas Eigenes aufzubauen, für Sie persönlich ausbezahlt?
Ich habe die ersten zwei Jahre deutlich mehr gearbeitet als zuvor und mir keinen Lohn ausbezahlt. Mir war klar, dass ich persönliche Bedürfnisse zurückstecken muss und Geduld brauche. Zum Glück stand mein Mann von Anfang an hinter dem Projekt. Nun sind wir profitabel, und ich kann mir einen Lohn auszahlen. Schön ist, dass unser Ansatz nicht nur bei den Kunden, sondern auch bei den Angestellten gut ankommt. Wir wachsen stark, und unser Leiter Pflege staunt, wie viele gute Bewerbungen wir erhalten trotz Personalknappheit in der Branche. Sich ganzheitlich um Menschen zu kümmern und etwas Neues mitaufbauen zu können, ist eine sehr befriedigende Aufgabe.

Sie und Ihr Mann arbeiten beide Vollzeit. Wünschten Sie sich nicht manchmal mehr Zeit für ihre beiden kleinen Kinder?
Doch, natürlich, es ist ein Spagat – ich kenne eigentlich niemanden, der in dieser Lebensphase alles unter einen Hut bringt: Kinderzeit, Partnerzeit, Erfolg im Beruf und Zeit für Freundschaften und sich selber. Bei mir liegt der Fokus momentan klar auf der unternehmerischen Aufgabe und der Familienzeit. Ich arbeite ein bis zwei Tage pro Woche von zu Hause aus und kann einen Teil meiner Arbeit frei einteilen, also auch abends arbeiten, wenn die Kinder im Bett sind. Nur eines lässt sich schwer ändern: Als Unternehmerin habe ich mental nie ganz Feierabend. Ob ich Auto fahre, in den Ferien bin oder nachts aufwache: Viva ist nie weit weg.

Kontakt und Information: http://www.viva-betreuung.ch oder claudia.hofer@viva-betreuung.ch

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3 Kommentare zu “«Für die wirklich wichtigen Dinge gibt es keinen idealen Zeitpunkt»”

  1. Rolf Randegger sagt:

    Danke, Herr Morgenthaler, für die stets interessanten Interviews!

  2. Katja sagt:

    Geeigneter Zeitpunkt. Der Bedarf ist riesig. Und kostet nicht gerade wenig.

  3. Peter Moser sagt:

    Mich würde interessieren wie weit die Krankenkassen diese privaten Dienste bezahlen.