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«Wir erzählen uns alle die Geschichte unseres Lebens»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 10. November 2018
Schriftsteller Alex Capus ist Vater von fünf Söhnen und Betreiber der Galica Bar in Olten. Foto: Ayse Yavas

Schriftsteller Alex Capus ist Vater von fünf Söhnen und Betreiber der Galicia-Bar in Olten. Foto: Ayse Yavas

Wie wird jemand zum Schriftsteller? «Wer das Selbstverständliche verliert, ist besonders stark auf Orientierung angewiesen», antwortet Alex Capus. Er sei durch die Scheidung der Eltern und den Umzug von Paris nach Olten als Kind doppelt entwurzelt worden, da habe ihm das Schreiben dabei geholfen, ein Gefühl zu bekommen für seine Identität.

Interview: Mathias Morgenthaler und Viviane Vonlanthen

Herr Capus, Sie machen Alltägliches wie das Altglas-Entsorgen zum Ereignis durch den besonderen Blick des Schriftstellers. Haben Sie sehr gelitten in jungen Jahren als Journalist bei der Nachrichtenagentur SDA?

ALEX CAPUS: Nein, überhaupt nicht. Die SDA war ja so etwas wie das Ministerium für die Wahrheit, warum sollte ich da gelitten haben?

Weil man sich bei einer Nachrichtenagentur meist auf die Wiedergabe von Fakten beschränken muss und kaum Geschichten erzählen kann. Von Thomas Bernhard ist bekannt, dass er als Journalist die Wahrheit gerne etwas angereichert hat.

Ich halte es für die wichtigste und ehrbarste Art von Journalismus, klar und verständlich zu berichten, was wann wo passiert ist. Ich bin noch heute dankbar, dass ich da meinen Beitrag leisten konnte, und würde das jederzeit wieder machen. Und ich sehe keinen so grossen Gegensatz zu meiner heutigen Tätigkeit. Auch Fiktion muss wahrhaftig sein, damit sie etwas taugt.

Sie sind als Autor historischer Romane einem breiten Publikum bekannt geworden. Stehen der Historiker und der Romancier nicht immer auf Kriegsfuss miteinander?
Historische Erzählungen sind tatsächlich etwas Heikles. Der Historiker ist zur Faktenhuberei verdammt. Sobald er erklärt und erzählt, rutscht er in die Interpretation, ins Subjektive, verlässt das Feld der Wissenschaftlichkeit. Deswegen braucht der Historiker ja den Erzähler, damit sein Stoff lebendig wird. Das Leben selbst erzählt keine Geschichten, es mäandert, wabert herum, ufert aus. Es braucht das Auge des Betrachters, der in dieser Formlosigkeit eine Struktur sieht oder schafft. Ohne Erzähler keine Geschichte. Unabhängig davon, ob wir Bücher schreiben, erzählen wir uns alle die Geschichte unseres Lebens, legen uns eine Version zurecht, um ein Gefühl zu bekommen für unsere Identität.

Und wer das Schreiben zum Beruf macht, braucht selber besonders viel Orientierung?

Bei mir trifft das zu. Ich war ein Immigrantenkind, kam als Fünfjähriger aus Paris nach Olten. Meine Mutter zog nach der Trennung mit mir in die Schweiz, um wieder als Lehrerin arbeiten zu können. Ich begriff zu Beginn nicht, was da passierte, warum wir die geliebte Grossmutter zurückgelassen hatten – mein Grundvertrauen war erschüttert und ich musste erst einmal die Sprache der anderen Kinder lernen. Vermutlich ist es kein Zufall, dass viele Schriftsteller eine Migrationsgeschichte haben. Wer das Selbstverständliche verliert, ist besonders stark auf Orientierung, auf Geschichten angewiesen. Deshalb habe ich mit Schreiben angefangen, sobald ich alle Buchstaben kannte, und nie wieder damit aufgehört. Als Entwurzelter musste ich meinen Platz finden und behaupten. Wer Affolter oder Nünlist heisst, muss sich in Olten nicht behaupten, dem gehört die Stadt seit 500 Jahren. Wenn einer aber Checchini heisst oder Capus, dann muss er sich anstrengen. Durch die Scheidung und den Umzug war ich doppelt verunsichert und also doppelt angestachelt, es gut zu machen, anerkannt zu werden.

Sie haben mit Ihrer Frau fünf Söhne, betreiben hier in Olten die Galicia-Bar, und Ihr vorletztes Buch heisst schlicht: «Das Leben ist gut». Das klingt inzwischen fast schon nach heiler Welt.

Dieser Titel ist immer wieder falsch verstanden worden. Ich behaupte ja nicht, das Leben sei nur schön. Wir müssen alle sterben, viele werden krank, leiden entsetzlich. Aber wenn wir damit Frieden schliessen, ist das Leben gut. Wichtig ist mir, dass wir uns darauf besinnen, wie zerbrechlich das Kostbarste ist und dass wir Wichtigem Sorge tragen sollten. Unsere Zeit wird von nachfolgenden Generationen sehr streng beurteilt werden als eine oberflächliche Epoche, die nur den eigenen Hedonismus bedient und mehr Bäume gefällt als gepflanzt hat. Wer fünfzig wird, tauscht seine Frau gegen zwei 25-Jährige ein in der Hoffnung auf etwas Spass. Das ist nicht meine Welt. Meine Welt ist dieses Eichenparkett hier, das wir unter dem Linoleum gefunden haben. Einen solchen Boden mit dieser Patina kannst du nicht kaufen, nur bewahren. Wenn ich dieser Bar hier nicht Sorge trage, sieht bald alles so aus wie das Gebäude auf der anderen Strassenseite, kalt, charakterlos, ohne Erinnerung. Man hat mir schon öfter Geld geboten, aber ich lasse mich nicht kaufen und gebe diese Bar nicht her – genauso wenig wie meinen Töff dort, der noch sieben Jahre älter ist als ich.

Vielleicht wären Sie ein noch besserer Schriftsteller, wenn Sie nicht auch noch eine Bar führen würden.

Ich habe das Glück, mein Leben so einrichten zu können, wie es mir passt. Ich muss nichts machen, was ich nicht will – und ich mag es, wie unterschiedlich meine drei Haupttätigkeiten sind. Beim Schreiben bin ich ganz für mich und will nicht abgelenkt werden. Da gibt es nichts ausser meinen Gedanken, meinem Empfinden, meiner Arbeit am Text. In der siebenköpfigen Familie hingegen ist immer etwas los. Da bin ich nicht so furchtbar wichtig. Sich vergessen zu können, ist eine Wohltat, demütig Altglas zu entsorgen, verschafft Seelenfrieden. In der Zeit, als ich mich besonders wichtig fand, litt ich am meisten. In der Bar schliesslich ist Anpacken gefragt, da bin ich auch Putzmann und Handwerker, und manchmal erzählen mir Leute am späten Abend ihre Lebensgeschichte. Wenn ich anders gestrickt wäre und mich ganz auf das Schreiben konzentrieren könnte, würde ich bestimmt andere Bücher schreiben. Ob das besser wäre, weiss ich nicht, vielleicht im Gegenteil. Nur Schreiben wäre mir zu wenig, zu sehr Ersatzleben. Und ich könnte auch ohne Schreiben glücklich sein.

Schreiben Sie immer zur gleichen Zeit oder je nach Musse und Inspiration?

Wenn ich ein Buch begonnen habe, arbeite ich sehr diszipliniert. Am Morgen, wenn alle fünf Söhne und meine Frau aus dem Haus sind, setze ich mich hin und schreibe. Das dauert in der Regel bis zum gemeinsamen Mittagessen. Am Nachmittag bin ich meistens nicht mehr sehr produktiv. Manchmal komme ich auch am Vormittag nicht vom Fleck – dann mache ich einen Spaziergang oder gehe Spaghetti einkaufen. Inzwischen kann ich das, ohne wütend auf mich zu sein. Ich weiss, dass das Unproduktiv-Sein zum kreativen Prozess gehört wie die Regeneration zum Spitzensport.

Teil 2 des Interviews erscheint in einer Woche an dieser Stelle.

Das neue Buch: Alex Capus: Königskinder. Hanser-Verlag 2018.

 

 

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