
Birgit Pestalozzi stürzte mit ihrem Pferd, kündigte den Job in der Beratung und wurde zur digitalen Nomadin.
Studium und Karriere bei einem Beratungsunternehmen: Birgit Pestalozzi schrieb eine Erfolgsgeschichte, wusste aber wenig über sich selber. Dann kündigte sie und entdeckte, wie befreiend es ist, Ballast abzuwerfen und «etwas Persönliches zu tun, statt zur perfekten Kopie zu werden». Seit drei Jahren arbeitet die 43-Jährige als digitale Nomadin.
Interview: Mathias Morgenthaler
«Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab», rät ein Indianisches Sprichwort. Sie haben das wörtlich genommen und sind tatsächlich vom Pferd gestiegen, wenn auch abrupt und unfreiwillig.
BIRGIT PESTALOZZI: Manchmal braucht man Krisen oder Unfälle, um sein Leben zu verändern. Ich hätte mir gewünscht, es wäre ohne den Sturz und die sieben Brüche im Gesicht gegangen, aber offenbar war das nötig.
Sie haben nach dem Studium zügig Karriere gemacht beim Beratungsunternehmen Ernst & Young. Inwiefern wurde dieser Job über die Jahre zum toten Pferd?
Ich war dort in einer Doppelfunktion für Marketing und Kommunikation und fürs Business Development eines der weltweit grössten Kunden verantwortlich. Ich lernte unglaublich viel, aber es bedeutete auch Arbeit ohne Ende und viel Fremdbestimmung. Meine Mutter und Schwester leben in den USA, mein Partner in Ägypten – ich schaffte es kaum, sie zu sehen. Und mir wurde zunehmend bewusst, wie sehr ich alles in meinem Leben den Zielen der Firma unterordnete: In meiner Kleidung, meiner Sprache, meiner Lebensweise verkörperte ich die Firma. Ich wusste kaum, wer ich bin, Individualität war ja nicht gefragt. Ich merkte, dass mir diese permanente Anpassungsleistung nicht gut tat, dass ich in einem Korsett lebte. So war ich sehr dankbar, dass EY meinen Antrag auf ein halbjähriges Sabbatical genehmigte. Das war mein Sprungbrett für einen Neuanfang.
Wie erlebten Sie diese Zeit und warum klappte es nicht mit dem Ausstieg?
Ich genoss es, all das zu tun, was im Business-Alltag keinen Platz gehabt hatte, nach dem Motto «eat – pray – love». Ich hörte endlich auf die Bedürfnisse meines Körpers, organisierte ein Yoga- und Meditationsseminar in Ägypten und bildete mich später in Indien zur Yoga-Lehrerin aus. Im Rahmen der Yoga-Ausbildung wurden wir aufgefordert, auf der Bühne ein musisches Talent von uns darzubieten. Ich suchte vier Wochen lang und fand: nichts! Das hat mich schockiert und aufgerüttelt. Mir wurde bewusst, welchen Preis ich bezahlte für die einseitige Ausrichtung auf Vernunft und Sicherheit. Und ich entschloss, mich ernsthaft damit zu beschäftigen, was mich ausmacht, um in Zukunft etwas Persönliches tun zu können statt zur perfekten Kopie anderer zu werden. Dazu muss man sich schon ausdrücklich die Erlaubnis geben, wenn man in der Schweiz aufwächst, wo die meisten Menschen so sehr darauf bedacht sind, dazuzugehören, nicht aufzufallen, keine Erwartungen zu enttäuschen.
Trotz diesem Vorsatz kehrten Sie nach einem halben Jahr zurück ins Büro.
Ja, ich hatte viel von der Welt gesehen und andere Lebenskonzepte kennengelernt, die stärker auf Freiheit abzielen denn auf Status und Sicherheit. In Phoenix, wo ich meine Mutter und Schwester besuchte, war ich sehr beeindruckt von einer Institution, die bei der Arbeit mit behinderten Kindern auf Pferdetherapie setzte. Doch dann winkte bei Ernst & Young die Karriere und ein neues Projekt und ich schaffte den Absprung nicht. Der Job war ja nicht unspannend und man wird auch bewundert für die Karriere und denkt, es wäre unklug, das Erarbeitete einfach so aufzugeben – selbst wenn man wie ich gar nie hatte Karriere machen wollen. Dazu kam, dass ich unbewusst das Gefühl hatte, das, was mich so interessiere, was ich so gerne mache, könne keine seriöse Arbeit sein, Arbeit müsse von Fleiss, Disziplin und Anstrengung geprägt sein.
Und so kam es, dass Sie eine Pferdetherapie erhielten, die Sie nie gebucht hatten.
Genau, ich schaffte den Absprung nur, weil ich abgeworfen wurde. Es begann damit, dass ich mein Pferd, das ich Jahre zuvor verkaufte hatte, wieder zurückkaufte – quasi als Verpflichtung, die Abende und Wochenenden draussen statt vor dem Computer zu verbringen. Wenig später kam ich nach einem anstrengenden Tag in den Stall und war offenbar so unter Strom, dass sich mein Pferd zunächst weigerte, aus der Box zu kommen für einen Ausritt. Ich wollte aber unbedingt schnell galoppieren, den Wind in den Haaren spüren, und ritt also los ohne Helm. Ein Ausweichmanöver wegen eines Traktors auf rutschigem Untergrund führte dazu, dass mein Pferd stürzte und ich mich mit zerschmetterter linker Gesichtshälfte auf der Notfallstation wiederfand.
Was hat sich dadurch verändert?
Ich war extrem dankbar, dass ich den Unfall ohne bleibende Schäden überlebt hatte. Und realisierte dann, dass es höchste Zeit war, mir zu überlegen, was ich noch vom Leben wollte; und dass mein Job mir zu wenig Freiraum liess, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. So kündigte ich und liess mich diesmal auch von einer in Aussicht gestellten Lohnerhöhung nicht umstimmen. Leicht war es nicht, ich verabschiedete mich ja von einem grossen Teil meiner Identität und meiner Perspektiven, ohne eine fassbare Alternative zu haben. Aber bald realisierte ich: Ich habe drei Pässe, einen Schweizer Pass, einen EU-Pass und einen US-amerikanischen, es zwingt mich niemand, mich im Deux-Pièces im neblig-kalten Zürich in volle Pendlerzüge zu zwängen, ich könnte auch an einem sonnigen Ort arbeiten. Dieses Gefängnis hab ich mir selber geschaffen, und die Türen stehen offen. Ich realisierte, dass ich je nach Lebensort und -weise nicht mehr als 2500 Franken pro Monat verdienen musste, was wirklich nicht viel war. Hinderlich war einzig das Gefühl, mir mit dem Ausstieg einen Wiedereinstieg zu verbauen.
Was hat Sie bestärkt in dieser Phase?
Ich besuchte die DNX, eine Konferenz für Digitale Nomaden in Berlin. Es war sehr inspirierend, dort über 100 Menschen zu treffen, die einen Ausweg aus dem Hamsterrad suchten oder schon gefunden hatten. Es tat gut, mit Menschen zu reden, die zwei Schritte weiter waren als ich. Eine sprach in ihrem Referat davon, wie wichtig es sei, seinen «Sweetspot» zu finden, etwas, was man nicht nur gut kann, sondern auch gern macht und das die Welt braucht. Mir wurde bewusst, dass Beziehungen ein zentrales Thema in meinem Leben waren – nicht erst seit der Trennung von meinem Mann. Ich hatte intensiv darüber nachgedacht und Freundinnen in Liebesdingen beraten. Weil es für mich keine Anstrengung bedeutete, nahm ich dieses Talent nicht ernst, obwohl ich viele positive Rückmeldungen erhielt und sichtbare Erfolge erzielte. Nach der Konferenz nahm ich eine Online-Ausbildung zum Beziehungscoach in Angriff und entschloss mich, selber ein Online-Angebot zu entwickeln, das mir später die Ortsunabhängigkeit ermöglichen sollte. Aber zuerst musste ich Ballast abwerfen.
Inwiefern?
Ich wollte mich nicht nur selbstständig machen, sondern auch von Konsum und Verpflichtungen befreien. Also löste ich meine Wohnung auf und gab alles weg mit dem Ziel, nur noch mit Handgepäck die Welt zu bereisen. Ich besorgte mir eine notariell beglaubigte digitale Unterschrift, mietete ein Postfach, bei dem alle physische Post digitalisiert wird, und scannte wochenlang alle mir wichtigen beruflichen und privaten Sachen ein. Nach zwei Monaten war aller Ballast abgeworfen und mein Leben komplett digitalisiert, was den immensen Vorteil hat, dass ich heute jederzeit von überall her auf alles Zugreifen kann und dank Stichwortsuche Dinge sofort finde, die ich zuvor stundenlang gesucht hätte. Und es war überhaupt sehr befreiend, mit so leichtem Gepäck unterwegs zu sein.
Wo haben Sie in den letzten drei Jahren überall gelebt?
Es war nie mein Ziel, möglichst viel zu reisen, als Tochter eines Piloten hatte ich früh viel gesehen. Meine Nomadenzeit begann mit einer längeren Schiffsreise: Einer aus dem Netzwerk der digitalen Nomaden hatte uns darauf hingewiesen, dass man für 150 Euro in zehn Tagen und mit Vollpension von Gran Canaria nach Salvador de Bahia in Brasilien reisen kann, weil die Reedereien die Überführung ihrer Schiffe so vergünstigen konnten. Ich war schliesslich eine von rund 150 digitalen Nomaden auf dem Schiff, inzwischen hat sich das Ganze als Nomad Cruise etabliert. Zehn Tage offline in organisierten Workshops voneinander lernen war eine super Sache, und ich merkte: Wenn man nicht einfach fünf Wochen Ferien hat, sondern das Unterwegs-Sein zum Leben gehört, hat man viel Zeit und der Weg wird zum Ziel. Ich war danach längere Zeit in Mexiko, den USA, Ägypten und Europa tätig, wo ich in internationalen Gemeinschaften nicht nur arbeitete, sondern auch lebte, aber auch viel enger in Kontakt mit der lokalen Bevölkerung kam, als das in ein, zwei Wochen Ferien möglich ist.
Ist das nicht trotzdem ein sehr egoistischer Lebensentwurf? Sie leben dort, wo die Kosten tief sind, schreiben Rechnungen in Franken oder Dollar und ziehen weiter, wenn Ihnen danach ist.
Ich kann diese Kritik nachvollziehen und habe auch gemischte Gefühle, zum Beispiel wenn ich sehe, dass manche zwar an paradiesischen Orten leben und arbeiten, aber sich nicht engagieren wollen. Die Gefahr, zum Schmarotzer zu werden, besteht. Aber ich sehe auch grosse Chancen: Je mehr Menschen sich von dieser krassen Fremdbestimmung im Karriere-Hamsterrad befreien, je mehr sich Zeit nehmen für sich selber und so besser in Balance kommen, desto mehr Persönliches entsteht, was vielen Zugute kommt. Wer dauernd Renditezielen hinterherrennt und in der knappen Freizeit durch Konsum etwas Lebensfreude erhaschen will, kommt gar nicht dazu, etwas zu verändern. Und vergessen wir nicht: Das Leben in nomadischen Sippen ist unser Ursprung, da kommen wir her.
Wie ist Ihr Coaching-Geschäft angelaufen?
Besser als erhofft. Ich wollte gerade den nächsten Skalierungs-Schritt machen und ergänzend zu den Coachings ein Online-Programm entwickeln, als mir ein anderes Projekt in die Quere kam: Mein Partner und ich engagieren uns ehrenamtlich im Sudan in der Ausbildung Jugendlicher. Die gesamte Filmindustrie war dort vom Regime gestoppt worden. Wir gründeten mit einer Kerngruppe den Verein Swissinitiative und organisierten unter dem Patronat der Unesco gemeinsam mit globalen Menschenrechtsorganisationen und Künstlern ein dreiwöchiges Kulturfestival in der Wüste. Es war eindrücklich zu sehen, wie wichtig die Kunst in dieser hart geprüften Region als Ventil ist; und wie herzlich der Austausch war, wie gross die Bereitschaft, alles zu teilen.
Nun leben Sie aber seit acht Monaten wieder mehrheitlich in der Schweiz. Sind Sie doch wieder sesshaft geworden?
Nein, ich werde eine digitale Nomadin bleiben – entsprechend ist meine temporär angemietete Wohnung hier kaum möbliert. Was mich zurückgebracht hat, war das Angebot von Digitalswitzerland, die Gesamtleitung für den Schweizer Digitaltag zu übernehmen. Da engagieren sich am 25. Oktober in zwölf Schweizer Städten drei Bundesräte und 72 Partnerfirmen für die Chancen der Digitalisierung. Ich fand es erschreckend, dass auf der Nomad Cruise kaum Schweizer waren, und war entsprechend motiviert, Gegensteuer zu geben und zu zeigen, was die technologische Entwicklung für Möglichkeiten bietet. Am 1. November erzähle ich meine Geschichte in Bern an der ersten Schweizer Konferenz zu Digitalem Nomadentum.
Wie war das, sich wieder in Schweizer Arbeitsstrukturen einbinden zu lassen?
Ein kleiner Kulturschock, weil viele Akteure unterschiedliche Erwartungen hatten und es unglaublich viele physische Meetings brauchte. Aber dank der grösseren inneren Distanz bin ich da heute viel gelassener. Schön ist, dass ich andere anfixen kann, einen bewussten Entscheid zu fällen, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Ich unterscheide längst nicht mehr zwischen Arbeitszeit und Freizeit, für mich gibt es nur die Lebenszeit und die Frage, ob ich diese für etwas Erfüllendes und Sinnvolles nutze. Es ist nie zu spät und war vermutlich nie einfacher als jetzt, die Weichen neu zu stellen.
Kontakt und Information:
www.birgitorenda.com oder birgit@digital-switzerland.com
Zur Tagung in Bern:
wow, diese Dame hat es wirklich erblickt. Bravo und viel Glück
Das digitale Nomadentum hat einen Haken. Eigentlich ist das verboten. Ausser sie kann beweisen, dass sie Mexiko, den USA, Ägypten und Europa jeweils als arbeitstätig angemeldet war. Heisst Arbeitserlaubnis und die örtlichen Steuern bezahlt.
Ja, der Kommentar mit den Steuern ist nicht abwegig.
Mann / Frau kann sich in der Schweiz abmelden und bezahlt danach keine Steuern mehr.
Wenn aber Grosskonzerne die einkommen verschieben und sich Millionen einstreichen ist das besser ?
Grenzenlos – die Auseinandersetzung zwischen digitaler Welt und realer Welt. Oder muss man sagen, digitalen Nomaden und sozialen Gemeinschaften? Sehr interessanter Artikel! Zum Lebensstil würde ich sagen, wenn man nichts hat, kann man auch nichts verlieren ausser sich selber. Irgendwann will man aber ein richtiges Lachen und Weinen hören, fühlen und sehen. Nichts kann das ersetzen.
Wenn alle so leben möchten, wäre die Welt schnell zerstört. All die Reisen sind eine gewaltige Umweltzerstörung.
Raymondo Bernasconi. Finde ich sehr sympathisch, Ihre Frage. Es geht ihr gut. Hat sich erholt und geniesst das Leben in der Herde.
Sehr interessanter Artikel und die interessante Geschichte. Wir sind nicht so wenige sondern einfach etwas versteckt, bin seit 3 jahren digitale Nomadin mit einem Engagement in Sri Lanka. Arbeite im Sommer 60% remote in der Schweiz und im Winter in Asien 100% remote. Ich bin in der glücklichen Lage einen super zukunftsorientierten Kunden zu haben welcher mich remote arbeiten lässt. Ich wünsche mir das vermehrt für die Schweizer Firmen, denn remote Mitarbeiter sind meistens motiviertere Mitarbeiter.
@Nicole Lagger. HEY Nicole! Wow – das isch cool! Liebi typografischi näbelchalti Grüessli us de Schwiiz! Sybille
Der Artikel ist inspirierend und erschreckend zugleich. So was kann man natürlich nur ohne Kinder durchziehen. Ich bin im Hamsterrad und ja, auch ich bin nicht selten am Anschlag und ein Ausstieg erscheint da oft als einzige Lösung…