Archäologiestudium in einer Fremdsprache, drei kleine Kinder, zwei Jobs, eine Trennung: Leicht war er nicht, der Alltag von Simone Schmid in Bologna. Eine Begegnung am Rand einer Grabungsstätte veränderte alles: Heute führt die 43-Jährige mit ihrem Mann in Bellinzona eine Motorradwerkstatt und geniesst es, wenn Kunden zu ihr kommen, um ihre Träume zu verwirklichen.
Interview: Mathias Morgenthaler
Frau Schmid, Sie führen in Bellinzona ein Motorradgeschäft – woher rührt Ihr Interesse für Harley-Davidson, Royal Enfield und andere schwere Maschinen?
SIMONE SCHMID: Als Mädchen hatte ich nichts am Hut mit Maschinen, da wollte ich Journalistin oder noch lieber Schriftstellerin werden. Ich hatte eine sehr blühende Fantasie – und auch entsprechend viele Ängste. Das Schreiben half mir schon in jungen Jahren, die Gedanken zu ordnen. Wenn ich drei Seiten geschrieben hatte, war ich wieder im Reinen mit der Welt. In meiner katholisch geprägten Familie in Bülach hatte die Hilfe für Menschen in schwierigen Lebenssituationen einen hohen Stellenwert. Entsprechend spielte ich mit dem Gedanken, Sozialarbeit zu studieren, und absolvierte nach der Schule ein Volontariat in einer Tagesstätte für Drogenabhängige in Rimini.
Und da bekamen Sie Zweifel?
Ich spürte, dass ich dieser Tätigkeit nicht gewachsen war. Manche Bewohner waren kaum älter als ich, einer litt an einer Psychose, ein anderer starb infolge von Aids, ein dritter nahm sich das Leben. Mir ging das so unter die Haut, dass ich statt Sozialarbeit Romanistik, Germanistik und Publizistik studierte. Bei ersten Praktika im Journalismus zerschlug sich auch dieser Berufswunsch: Ich musste entweder über Banalitäten schreiben oder die Wirklichkeit so zurechtbiegen, dass sie dem Weltbild des Redaktors entsprach. Und mein Leben wurde auch ohne Journalismus kompliziert genug: Ich heiratete mit 23 Jahren, wurde mit 24 Jahren Mutter, zog von Zürich nach Bologna und erfuhr vom Germanistik-Professor der Uni Zürich, dass eine Frau mit Baby nicht zur Prüfung zugelassen würde. Kurz darauf verstarb meine Mutter und ich schmiss das Studium während der Lizentiatsarbeit hin, weil mir das alles zu viel wurde.
Wie haben Sie in Bologna Fuss gefasst als junge Mutter?
Ich gab ein paar Deutschkurse und bot Stadtführungen an. Aber mir ging es nicht gut, vor allem nach der Geburt der zweiten Tochter war ich am Rand einer Erschöpfungsdepression. Ich erinnere mich gut an ein Schlüsselerlebnis aus dieser Zeit: Eines Abends, als mein Mann nach Hause kam, stauchte ich ihn furchtbar zusammen, weil er den Schlüssel auf den Tisch gelegt statt in der Schublade verstaut hatte. Ich erschrak mindestens so sehr wie er, denn ich bin kein besonders ordentlicher Mensch – und begriff, dass ich dringend etwas ändern musste. Ich studierte das Vorlesungsverzeichnis der Uni und war hin und weg, als ich das Programm des Bereichs Archäologie entdeckte. Erst dachte ich, das sei für mich unmöglich wegen der beiden kleinen Kinder, aber dann realisierte ich, wie umfassend das Betreuungsangebot war, und schrieb mich ein.
Ihre jüngere Tochter war da gerade einmal 9 Monate alt.
Ja, schrecklich, nicht wahr? Die Wahrheit ist, dass meine Kinder spürbar auflebten, als sie weniger oft von einer unglücklichen Mutter betreut wurden. Ich hatte wirklich das volle Programm mit ihnen durchgezogen: Spielplatz, Kochen, Basteln, Singen, Malen, kein TV, keine Computerspiele, keine Plastikspielzeuge. Aber mir ging es nicht gut dabei, und das war das Entscheidende. Deshalb war die Archäologie so wichtig für mich. Aber natürlich bedeutete es einen grossen Aufwand. Als ich die Lateinprüfung in Italienisch ablegte, war ich im achten Monat schwanger mit meiner dritten Tochter. Und als ich eine Teilzeitstelle suchte, blieben meine Bewerbungen lange Zeit ohne Resonanz, bis mir gleichzeitig zwei Grabungsfirmen einen Job anboten. Ich nahm sowohl die 40-Prozent- als auch die 60-Prozent-Stelle an, was zur Folge hatte, dass ich jeweils von 5 bis 6.30 Uhr für die Uni lernte, dann die Kinder in die Krippe brachte und von 7.30 bis gegen 17 Uhr körperlich hart arbeitete – öfter mit dem Pickel als mit dem Pinsel. Dann holte ich die Kinder wieder ab, bereitete das Nachtessen zu, brachte sie ins Bett und lernte nochmals für das Archäologie-Studium.
Und so schafften Sie den Bachelor-Abschluss?
Ja, aber ich trennte mich danach von meinem Mann und es wurde menschlich und finanziell eine schwierige Zeit, weil ich Masterabschluss, Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen musste. Dann lernte ich bei einer Grossgrabung unmittelbar neben einer Harley-Davidson-Vertretung zufällig meinen heutigen Mann kennen. Er streckte mir einen Werbeaufkleber zu mit seiner Telefonnummer auf der Rückseite, und ich dachte: Wenn du wüsstest, wie wenig das meine Welt ist – mir reicht mein altes Holland-Velo, ich brauche keine Harley. Doch dann begann ich mich doch dafür zu interessieren, wie ein Mensch so sehr von Motorrädern angetan sein konnte, und fünf Monate später waren wir ein Paar. Doch in Italien gab es aufgrund der Wirtschaftskrise fast keine Bauaktivitäten und deshalb auch keine Notgrabungen mehr, mir ging die Arbeit aus und wir zogen schliesslich in die Schweiz, wo ich in den letzten Jahren als Archäologin in verschiedenen Projekten tätig war.
Und dann eröffneten Sie eine gemeinsame Motorrad-Werkstatt in Bellinzona.
Ja, durch die Eröffnung einer eigenen Vertretung im Mai 2017 kam endlich Ruhe in unser Leben. Bei uns finden die Kunden nicht nur die Traditionsmarken Harley-Davidson und Indian, sondern auch die indisch-englische Trendmarke Royal Enfield, die wir ab kommendem Jahr exklusiv im Kanton Tessin vertreten. In Frankreich und Italien sieht man dieses solide und preiswerte Retro-Motorrad an jeder Ecke, seit der damalige US-Präsident Barack Obama 2015 dessen Qualität gelobt hatte. Mein Mann ist der absolute Harley-Experte, er weiss einfach alles über diese Maschinen, aber um die Royal Enfields kümmere ich mich. Unsere Lage hier in Bellinzona ist perfekt für das Mietgeschäft: Kunden aus der Deutschschweiz brauchen mit dem Zug ab Zürich nur 100 Minuten und können hier für ein Wochenende an der Sonne eine Motorradtour machen.
Es klingt ganz so, als seien Sie mit den Motorrädern in Ihrem Element und würden der Sozialarbeit, der Schriftstellerei und der Archäologie nicht länger nachtrauern.
Das Schöne an der heutigen Tätigkeit ist: Jetzt kommen die Leute nicht zu mir, weil sie etwas brauchen, sondern weil sie einen Traum verwirklichen wollen. Ich bin überzeugt, dass man länger gesund bleibt, wenn man sich ab und zu im Alltag einen Wunsch erfüllt, und sei es auch nur eine Tour um den Lago Maggiore. Meinen eigenen Traum vom Schreiben habe ich noch nicht ganz aufgegeben. Bei archäologischen Arbeiten im Calancatal habe ich so interessante Geschichten erfahren, dass es jammerschade wäre, diese nicht aufzuschreiben. Vielleicht gibt es daraus eines Tages ein Kinderbuch.
Kontakt und Information: www.cgam-ti.ch oder direzione@cgam-ti.ch