Mit 24 Jahren angelte sich Rolf Locher einen prestigeträchtigen Vertreterjob, mit 25 Jahren eröffnete er sein erstes eigenes Herrenmode-Geschäft in Burgdorf, bald darauf zwei weitere. Im ersten Teil des Interviews* erzählt der Unternehmer, wie er in den boomenden Achtzigerjahren zum Überflieger und schliesslich zum Versager wurde.
Interview: Mathias Morgenthaler
Herr Locher, Sie waren beruflich in jungen Jahren sehr erfolgreich …
ROLF LOCHER: … das mag sein, ja, aber ich war erfolgreich in fremder Angelegenheit. Eigentlich bin ich 30 Jahre lang vor meiner inneren Unruhe und Unsicherheit davongerannt. Ich dachte, wenn die Fassade schön glänzt und ich viel leiste, stellt sich irgendwann so etwas wie Zufriedenheit ein. Aber so war das nicht.
Wie haben Sie in der Arbeitswelt Fuss gefasst?
Als Kind hörte ich von meiner Mutter immer wieder den Satz, jetzt beginne das Leben B. Beim Übertritt vom Kindergarten in die Schule: Jetzt fängt das Leben B an. Am Ende der Schulzeit: Achtung, ab jetzt Leben B. So wurde mir klar: Hinter mir liegt das lustige Leben, nun kommt der Ernst des Lebens. Mit 15 Jahren hatte ich keine Ahnung, was aus mir werden sollte. Der Berufsberater wusste auch nicht weiter und meinte, körperlich anstrengend sollte es nicht sein. Also orientierte ich mich an einem älteren Kollegen und absolvierte eine Lehre in einem Herrenmodegeschäft in Bern. Im Rückblick muss ich sagen: Das passte ganz gut. Ich perfektionierte die Fassade, wahrte den schönen Schein.
Lange hielten Sie es allerdings nicht aus.
Nein, ich war ja auf der Flucht vor mir. (Lacht) Mit 20 arbeitete ich im Service in einer Confiserie in Biel und verliebte mich in eine Westschweizerin. Als ich wenig später wieder in einem Herrenmodegeschäft arbeitete, erinnerte ich mich daran, dass ich als Kind doch hohe Ziele gehabt hatte, Abenteuer erleben und für Gerechtigkeit einstehen wollte. Warum also nicht Polizist werden? Ich bestand die Aufnahmeprüfung bei der Polizei, heiratete mit 21 Jahren meine 19-jährige Freundin. Als meine Freunde mir klar machten, was sie von Polizisten hielten, quittierte ich den Dienst noch vor dem ersten Arbeitstag. Ich wurde kein Polizist, aber hatte mit 22 Jahren schon eine Scheidung hinter mir. Und das dominierende Gefühl war, dass ich dem Leben hinterherrannte. Mangels anderer Ideen stieg ich wieder ins Modegeschäft ein. Mit 24 Jahren wurde ich jüngster Ländervertreter der renommierten Seidenweberei und Krawattenfabrik Alpi.
Wie haben Sie das geschafft als junger, unsicherer Mann?
Ich verstand es, meine Unsicherheit mit einem gewinnenden Auftreten und jugendlicher Arroganz zu tarnen. Als ich vom abtretenden Vertreter erfuhr, dass seine Stelle zu vergeben ist, schickte ich eine ausgefallene Bewerbung ab und reiste ihr 700 Kilometer hinterher zum Mutterhaus in Krefeld, was die Chefs dort ziemlich beeindruckte. Der Glamour der Modewelt, wo die Vertreter teure Autos fuhren und Champagner tranken, war eine tolle Alternative zu meiner inneren Leere. Das war kein Leben B, sondern Luxus und Abenteuer, entsprechend kniete ich mich in die Arbeit und war überzeugt, dass mir die Welt offenstand und es keine Grenzen gab. Nur so kann ich mir erklären, dass ich mit 25 Jahren zusätzlich zu meinem Vertreterjob noch ein eigenes Modegeschäft in Burgdorf eröffnete, ohne meinen Arbeitgeber zu informieren.
Wie kamen Sie zu einem eigenen Laden?
Eines Tages erhielt ich einen Anruf von einem Geschäftsmann in Burgdorf, der mir von einer leer stehenden Ladenfläche erzählte und sagte, er würde sich freuen, wenn ich dort Herrenmode verkaufen würde. Ich meldete Bedenken wegen der Finanzierung an, aber er meinte, da finde man eine Lösung. Er begleitete mich zur Bank, bürgte für mich, meine Eltern halfen mit, indem sie die Hypothek aufs Haus erhöhten. So kauften wir Ware ein, meine Partnerin übernahm die Geschäftsführung, ich organisierte, improvisierte und engagierte lokale Prominenz als Werbeträger: den Wirt, den Polizisten, den Pfarrer. Die Geschäfte liefen grossartig. Nach einiger Zeit bot mir ein bekannter Schuhhändler in Spiez Räumlichkeiten für ein zweites Geschäft an, ich bastelte einen Businessplan und bekam bei der Bank problemlos einen zweiten Kredit – es waren die boomenden Achtzigerjahre, da dachte man, die Bäume wüchsen in den Himmel. Schliesslich eröffnete ich zusätzlich noch einen Jeansladen in Burgdorf. Ich war einer der Überflieger der Stadt, feierte am Wochenende Partys, bereiste unter der Woche als Aussendienstler die Schweiz und fühlte mich ein wenig wie einer der verwegenen, wagemutigen Typen aus den TV-Serien «Denver Clan» oder «Dallas».
Und dann wurden Sie eingeholt von der Realität.
Ja, eines Tages sagte der Verantwortliche der Bürgschaftsgenossenschaft zu mir: «Herr Locher, Sie sollten jetzt konsolidieren.» Dann zitierte mich der Bankberater zu einem Gespräch, forderte, dass ich Korrekturen vornehme. Ich antwortete ihm, ich würde meine Erfolgsgeschichte weiterschreiben, mit ihm oder ohne ihn. Dann teilte er mir knapp mit, er erwarte die Rückzahlung des Kredits innert 30 Tagen. Ich verstand die Welt nicht mehr. 750’000 Franken Umsatz hatte ich im ersten Jahr erzielt, die Geschäfte liefen doch gut. Dass ich die Kosten nicht im Griff gehabt hatte, dämmerte mir erst allmählich. Zwei Kredite im Umfang von rund 400’000 Franken waren eine zu grosse Hypothek, zumal mein Unternehmen keine Gesellschaftsform hatte, sondern ich privat für alles haftete. Als ich wenig später mit lauter älteren Herren an einem runden Tisch sass, Vertretern eines Bankkonsortiums und dem Liquidator, wurde mir bewusst, dass ich kein Überflieger war, sondern ein Versager. An meinem 30. Geburtstag erhielt ich per Post die Nachricht von der Konkurseröffnung.
Wie haben Sie den Tiefschlag weggesteckt?
Ich stand von einem Tag auf den anderen mit 750’000 Franken Schulden da. Zunächst hatte ich grosse Angst, man würde mir alles wegnehmen – ich ging vorsichtshalber ohne Armbanduhr zur Konkursverhandlung. Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich zum Glück nicht, der Liquidator war sehr human, am Ende tröstete er mich sogar, indem er auf die Migros-Filiale nebenan zeigte und sagte: «Gottlieb Duttweiler ist in jungen Jahren auch in Konkurs gegangen – und es hat ihm nicht geschadet.» Mir half das in dem Moment wenig. In einer Stadt wie Burgdorf kannte jeder jeden, ich traute mich kaum mehr aus dem Haus, schleppte mich mit Suizidgedanken durch die Tage und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
* Teil 2 des Interviews erscheint in einer Woche an dieser Stelle.
Kontakt und Information: rwl@rwl.ch
Die Welt steht offen und die Verdienstmöglichkeiten sind enorm.Er muss nochmals von vorn beginnen, aber seriös.2 Dinge muss er stärken.1. Die fachliche Kompetenz als Verkäufer 2.Die IT Kenntnisse. Und natürlich die Rückzahlung organisieren.+
Das Wichtigste an einem Geschäft das überleben möchte sind immer noch die Finanzen. Viele kennen sich im Rechnungswesen nicht genügend aus und lassen es schleifen. Diejenigen die sattelfest sind, überleben und ein Teil von Denjenigen wird zu Betrügern.
[…] Teil 1 des Interviews ist vor einer Woche an dieser Stelle erschienen. […]
Bei dieser Geschichte könnte man von „typisch Schweiz“ reden. Etwas aufbauen bedingt das Eingehen vom Risiko des scheiterns. In der sicherheitsorientierten Schweiz war das immer schon speziell, in unserer Zeit kann man jedoch nicht mehr von einem gesicherten Job oder Einkommen reden. Also ist man auch kein verlierer, wenn es nicht klappt, zudem nimmt man Erfahrungen mit, welche in keiner Theorie zu lernen sind. Also Kopf hoch, Ansprüche anpassen und den Wert des Lebens wieder erkennen. Sich nicht über den Job (Materielles) definieren, der Fels in der Brandung sein (Du bist Du), zu jeder Zeit!