Pascal Mösli hat schon als Kind dem Tod ins Auge geblickt, später begleitete er sterbenskranke Menschen. Der Tod als Inbegriff der Unsicherheit mache uns Angst, sagt der 51-Jährige, es lohne sich aber, sich frühzeitig mit dem Sterben auseinanderzusetzen. Dies erleichtere nicht nur den Abschied, sondern lehre uns Entscheidendes über das Leben.
Interview: Mathias Morgenthaler
Herr Mösli, Sie halten Vorträge und organisieren Gesprächsrunden zum Thema «Gut sterben». Ist es eine dankbare Aufgabe, die Menschen in unserer auf Fitness, Leistungsfähigkeit und Wachstum ausgerichteten Gesellschaft an den Tod zu erinnern?
PASCAL MÖSLI: Ich bin jedes Mal wieder beeindruckt, welch lebendige Gespräche in Gang kommen, wenn sich Menschen treffen, um über das Sterben und den Tod nachzudenken. Früher war der Tod ein fremdbestimmtes Schicksal, heute müssen sich viele Menschen in einer Spätphase ihres Lebens für oder gegen das Sterben entscheiden. Das fällt leichter, wenn man etwas Übung hat in der Auseinandersetzung mit dem Tod. Vom englischen Theologen Gwen London stammt der Satz: «Das Sterben ist ein spiritueller Prozess mit medizinischen Implikationen.» Ich habe in meiner Zeit als Seelsorger am Berner Inselspital erlebt, wie schwierig es für Patienten sein kann, wenn sie gegen Ende ihres Lebens sechs Ärzte am Bett stehen haben, die sie mit medizinischen Fakten konfrontieren, und sich nicht trauen, diesem Fachwissen ihre fragile innere Wahrheit entgegenzuhalten.
Der Schriftsteller Rainer Maria Rilke hat schon vor gut 100 Jahren beklagt, in den Grossstädten werde der Tod verdrängt respektive in spezialisierte Institutionen ausgelagert. Sind wir heute einen Schritt weiter?
Gerade wegen des Fortschritts der Medizin bei der Lebensverlängerung beschäftigen sich die Menschen zunehmend mit der Frage, wo und wie sie selber einmal sterben möchten. Gemäss jüngster Umfrage des Bundesamts für Gesundheit setzen sich 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung mit dem eigenen Sterben auseinander. Exit hat inzwischen über 100’000 Mitglieder. Andererseits ist es auch richtig, dass die Leichenzüge schon seit Jahrzehnten verschwunden sind und wir tatsächlich die Tendenz haben, den Tod auf Distanz zu halten. Was das Bewusstsein über unsere eigene Sterblichkeit betrifft, sind wir heute wohl nicht weiter als zu Rilkes Zeiten. Das ist aber nicht überall so. Während eines halbjährigen Aufenthalts habe ich in Indien, in der Nähe von Kalkutta erlebt, wie eine Kuh, die mitten auf einer vielbefahrenen Strasse verstorben ist, dort während Tagen liegen bleiben durfte, sodass der Verkehr einen Umweg machen musste. Ein andermal begegnete ich einem buddhistischen Mönch, der sich täglich in seiner Morgenmeditation vorstellte, sein Leben sei nun zu Ende. Die lebendige Ausstrahlung dieses Menschen werde ich nie vergessen.
Sind Sie seinem Beispiel gefolgt?
Ja, ich pflege diese Morgenmeditation seither auch und schätze sie sehr. Der Tod ist für uns eine Zumutung, weil er unser Bedürfnis unterwandert, die Dinge im Griff zu haben, alles zu kontrollieren, souverän zu sein. Er ist der Inbegriff der Unsicherheit und macht uns deshalb Angst. Wir können diese Angst unterdrücken oder verdrängen, dann hat sie uns umso stärker im Griff. Oder wir können uns ihr öffnen, sie annehmen, genauer hinschauen – dann werden wir weich und extrem lebendig. Die Umweltaktivistin Joanna Macy hat treffend gesagt: «It’s that knife–edge of uncertainty where we come alive to our truest power.» Wir sind nie so lebendig und stark, wie wenn wir uns auf unsere Unsicherheit und Ängste eingelassen haben. Es ist sehr berührend zu sehen, wie sich viele Menschen kurz vor ihrem Tod öffnen und eine enorme Kraft und Schönheit ausstrahlen. Ich erinnere mich an eine ältere Frau, die in ihren letzten Tagen ganz selbstverständlich auswählte, wen sie sehen wollte und wen nicht. Für uns, die das miterlebten, hatte sie die Ausstrahlung einer Königin. Die Angehörigen haben sehr unterschiedlich darauf reagiert. Manche liessen sich von ihrem Glanz anstecken, anderen war das nicht ganz geheuer, sie flüchteten in Small Talk oder tauchten nicht mehr auf.
Ist es nicht schade, wenn Menschen erst kurz vor dem Tod zu dieser Freiheit finden? Viele bereuen am Lebensende, nicht mutiger ihr eigenes Leben gelebt zu haben.
Sie spielen auf das Buch «5 Dinge, die Sterbende bereuen» von Bronnie Ware an. Ich weiss nicht, ob es gut ist, wenn Sterbende sich zu sehr damit beschäftigen, was sie bereuen. Wichtiger scheint mir, dass sie darauf hören, was ihnen in dieser letzten Phase guttut. Es gibt auch in der Schweiz die Wunschambulanz, eine Idee aus Holland, die alles daran setzt, Todkranken ihre letzten Wünsche zu erfüllen: ein letzter Flug, ein Tauchgang, ein Gipfelerlebnis. Und es gilt vor allem, die vielen kleinen und individuell ganz unterschiedlichen Wünsche zu erfüllen, die am Lebensende wichtig sind. Als Besinnung für uns alle ist Bronnie Wares Buch aber zweifellos wertvoll. Mir gefällt darin vor allem die Formulierung «Ich hätte mir gerne erlaubt, noch ein wenig glücklicher zu sein.» Das zeigt, dass es nicht nur darauf ankommt, was man leistet oder wie viel man anderen bedeutet, sondern vor allem, wie frei und lebendig wir uns fühlen bei genau dem, was wir jetzt tun.
Und der Tod kann uns die Richtung weisen?
Mir gefällt die Vorstellung mancher Indianerstämme, dass von Geburt an der Tod auf unserer linken Schulter sitzt. Ich sehe ihn nicht als Gegner oder Richter, sondern als Coach, der uns begleitet und ab und zu Fragen stellt wie: Bist du bei dir in dem, was du machst? Bist du neugierig und interessiert dir selber gegenüber, oder erfüllst du in erster Linie die Erwartungen anderer? Man kann solche Fragen nicht allein mit dem Kopf beantworten, da kommt die innere Stimme ins Spiel, das Bauchgefühl, die Spiritualität. Einige Buddhisten sprechen in dem Zusammenhang von der «shaky tenderness», der zittrigen Zartheit. Der Tod kann uns lehren, schon im Leben einen offenen Umgang mit Unsicherheit zu pflegen. Das würde uns als Gesellschaft erlauben, uns nicht nur über den Tod auszutauschen, sondern auch über andere unsichere Prozesse, über Fehler, über das Scheitern, über unsere Ängste.
Wie kommt es, dass Sie sich seit vielen Jahren so intensiv mit dem Sterben befassen?
Ich bin im Alter von zehn Jahren nach einem heftigen Velounfall nur knapp mit dem Leben davongekommen. Ich teilte während zwei Wochen das Spitalzimmer mit einem 12-jährigen Knaben, der Krebs hatte und wusste, dass er sterben würde. Dieses Kind war so wach und so klar – das hat mich tief beeindruckt. Seither habe ich eine grosse Bewunderung für Menschen, die weich sind und gleichzeitig sehr stark. Ich studierte später Theologie, war sechs Jahre Pfarrer und machte mich in vielen anderen Feldern auf die Suche nach spirituellen Abenteurern. Abenteuerlich unterwegs zu sein, ist mir sehr wichtig; ich möchte Lebendigkeit spüren, ohne wissen zu müssen, wohin sie mich führt, mich von zentralen Fragen bewegen lassen, ein Gefühl dafür bekommen, von welchem grösseren Ganzen wir ein Teil sind. Mir geht es dabei um den Dialog, um Bewusstseinsbildung, nicht darum, wer die richtigen Antworten hat.
Sie kennen die Zweifel und Ängste selber auch?
Ja, ich kenne die Todesangst sehr gut, bin alles andere als ein angstfreier Mensch. Ein Hindu hat mir beigebracht, dass es nichts bringt, diese Ängste besiegen zu wollen. Er verglich das Erleben in der Angst mit Achterbahnfahren, wo sich An- und Entspannung abwechseln und wo es Spannendes zu erleben gibt. Auch in der Sterbebegleitung kommt es nicht darauf an, das alles hinter sich gelassen zu haben. Wichtig ist, den Ängsten Raum zu geben, auch in sich selber. Je besser ich in Verbindung bin mit meinen Ängsten, desto offener bin ich für andere Menschen in ihren Ängsten. Ich sehe mich nicht als Guru oder spiritueller Lehrer, sondern als einer, der mit anderen unterwegs ist und Lernen ermöglicht. Das ist nicht immer leicht zu akzeptieren, aber ich muss keine Antworten oder Lösungen parat haben, sondern ein guter Begleiter sein. Es ist so viel wichtiger, Räume für eine offene Auseinandersetzung zu schaffen, als Fachwissen zu vermitteln. Das Schönste ist, wenn ich vor einer Gruppe stehe, den Faden verliere, spontan etwas zum Ausdruck bringen kann, was gerade geschieht, und dadurch andere sich ermutigt fühlen, ihre Sichtweise einzubringen.
Wie möchten Sie dereinst sterben?
(lacht) Diese Frage stelle ich anderen sehr oft. Ich möchte gerne unter einem Baum sterben, im Bewusstsein, dass ich Teil eines viel grösseren Prozesses bin und mein Ich, das nun stirbt, nur von sehr begrenzter Bedeutung ist.
Information und Kontakt: contact@pascalmoesli.ch oder www.pascalmoesli.ch
Ich glaube die meisten Menschen haben mehr Angst in einem Spital oder Pflegeheim als Pflegebedürftige ohne Selbstbestimmungsrecht dahin zu vegetieren verurteilt zu sein als vor dem Tod. Darum ist es sehr wichtig eine Patientenverfügung zu verfassen für alle Fälle.
An diesem Artikel der an sich lesenswert wäre fällt mir v.a. die krampfhafte Vermeidung allen Christlichen auf. Da werden Hindus, Indianer, Buddhisten etc.. erwähnt und in das wärmende Licht der tieferen Erkenntnis gestellt. Dieses umgekehrte Tabu, rein gar nichts aus der Bibel zu diesem Thema zu erwähnen und das notabene von einem Pfarrer ist eine Schande und offenbar ist ein Zitat aus der Bibel in etwa gleich obszön wie ein Pornofilm. Zeitgeist Feigheit. Nun denn: Lehre und bedenken, dass wir sterben müssen auf dass wir weise werden. Psalm 90:12 lieber Herr Zeitgeist-Pfarrer
Ja ich frage mich auch, warum immer der Buddhismus ziziert wird. Ich lese auch sehr viel über fernöstliche Praktiken oder Weisheiten, egal wie man es nennen kann, doch grundsätz sollte doch unser christlicher Glaube im Vordergrund stehen.
Da ich mich ebenfalls mit Sterbebegleitung befasst habe, eine AUsbildung absolviert standen da in erster Linie unsere christlichen Glaubenssätze im Vordergrund, dann ebenfalls die buddistischen. Bei der Meditation empfinde ich, dass wir unsere Christlichen Grundsätze hier pflegen sollten und nicht nur Zen und Buddhismus die Erleuchtung ist.
“…der Krebs hatte und wusste, dass er sterben würde.”
Sterben müssen alle und alle wissen es, eigentlich.
F.G. S.