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«Die Kinder lernen hier, wie und wann sie wollen»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 26. Mai 2018
Brigitte Wechsler, Geschäftsführerin der Schule Fokus, in der auch Kinder mitbestimmen.

Brigitte Wechsler, Geschäftsführerin der Schule Fokus, in der die Kinder mitbestimmen.

Was würde passieren, wenn es in der Schule keinen Stundenplan, keine Noten und keinen Pflichtstoff gäbe? Würden die Kinder dann nur auf der faulen Haut liegen? Brigitte Wechsler, die vor gut vier Jahren die demokratische Schule Fokus mitbegründet hat, ist überzeugt, dass es sich lohnt, Schülern beim Lernen grosse Freiheiten zu lassen.

Interview: Mathias Morgenthaler

Frau Wechsler, haben Sie gute Erinnerungen an Ihre Schulzeit?

BRIGITTE WECHSLER: Es sind nur zum Teil gute Erinnerungen. Ich war noch keine sechs Jahre alt, als ich in Graz eingeschult wurde. Was meine Eltern stolz machte, war für mich mit viel Stress verbunden. Ich hatte das Gefühl, ständig hinterherzuhinken und den Anforderungen nur mit Mühe gewachsen zu sein. Später scheiterte ich auf dem Weg zur Matura, was eine einschneidende Erfahrung war. Ich zweifelte an mir, fragte mich, ob etwas nicht stimmte mit mir. Und wurde schliesslich Staatsbeamtin wie mein Vater und meine ältere Schwester, obwohl ich sehr kreativ war und gerne handwerklich arbeitete. Ich hatte in dem Moment kein Gefühl für meine Stärken und wenig Selbstvertrauen.

Wann hat sich das geändert?

Drei Jahre nach meiner Erstausbildung holte ich berufsbegleitend die Matura nach. Mir wurde bewusst: Ich kann sehr viel leisten, wenn ich mir ein eigenes Ziel setze und im eigenen Rhythmus lernen darf. Beruflich blieb ich aber noch längere Zeit im Korsett der Österreichischen Telekom. Es gab dort sehr wenig Gestaltungsspielraum, also versuchte ich, mich durch Leistung und Weiterbildungen in Betriebswirtschaft und Marketing hochzuarbeiten, um eines Tages mehr Einfluss zu haben. Ich war schon immer eine Suchende gewesen, wollte nicht einfach in eine höhere Lohnklasse kommen, sondern etwas Sinnvolles tun, was andere weiterbringt. Dieses Gefühl hatte ich in dieser grossen Organisation nie, auch nicht, als ich Teamleiterin wurde und der Staatsbetrieb an die Börse ging. Schliesslich lernte ich meinen Mann kennen, zog in die Schweiz und machte mich wenig später als Marketingfachfrau und Texterin selbstständig.

Wie wurde aus der Wirtschaftsfrau eine Schulleiterin?

Ich wurde mit 41 Jahren Mutter und beschäftigte mich von da an intensiv mit der Frage, wie man Kinder gut begleiten kann. Ich las die Bücher des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, absolvierte eine Ausbildung bei ihm und hatte eines Tages das Buch «Endlich frei» von Daniel Greenberg in den Händen. Dieses Buch habe ich richtiggehend verschlungen und ich war bei der Lektüre immer wieder tief berührt. Greenberg beschreibt darin, wie Kinder ihr Potenzial entfalten, wenn sie in einer lernfreundlichen Umgebung aufwachsen. Etwas wehmütig realisierte ich, wie viel mehr möglich gewesen wäre, wenn ich nicht unter Druck versucht hätte, alle Erwartungen zu erfüllen. Ich wollte besser verstehen, wie die Schulen funktionieren, die Greenberg ab 1968 gegründet hatte, besuchte Sudbury-Schulen in Deutschland und in den USA und war sehr beeindruckt, mit welcher Offenheit, Klarheit und Ernsthaftigkeit mir die Schüler Auskunft gaben.

2013 gründeten Sie mit fünf Kollegen in Bottmingen (BL) eine eigene Sudbury-Schule, die demokratische Schule Fokus. Worin unterscheidet sie sich von anderen Schulen?

Die Schülerinnen und Schüler lernen hier selbstbestimmt im eigenen Tempo. Es gibt keine Klassen und fixen Lektionen, sondern Kurse, die Schüler aus eigener Initiative belegen. Und unsere Schule ist komplett demokratisch organisiert. Erwachsene und Kinder haben alle eine Stimme und können bei Entscheidungen mitbestimmen – über Anschaffungen, über Regeln, über Ausflüge und dergleichen.

Dann sind Sie die ohnmächtigste Schulleiterin des Landes?

So empfinde ich das nicht. Ich verfüge über weniger Rollenautorität als andere Schulleiter, aber die Schüler profitieren gerne von meiner Erfahrung. Es ist ja nicht so, dass Achtjährige bei uns über komplizierte Budgetfragen entscheiden müssen, aber alle dürfen sich einbringen und mitreden.

Man hört von Sudbury-Schülern, die ein Jahr lang nur am Computer gamen oder primär draussen spielen statt Mathematik und Französisch zu lernen. Das ist doch für alle Eltern eine Horrorvorstellung.

Wir werten die Interessen der Schüler nicht und geben ihnen die Möglichkeit, im eigenen Rhythmus das zu lernen, was sie fürs Leben brauchen – nicht das, was die Eltern erwarten. Vieles lernen Sudbury-Schüler nebenher, während sie ihren Interessen folgen. Wer sich intensiv mit Computerspielen oder Gartenbau befasst, lernt viel Englisch, Mathematik und Biologie. Wir sind aber keineswegs eine Kuschelschule oder ein Freizeitpark. Die Kinder lernen wie und wann sie wollen, aber sie machen nicht, was sie wollen. Jedes Kind hat Aufgaben in der Gemeinschaft, es gibt fixe Termine, ein grosses Regelbuch und eine hohe Verbindlichkeit. Freiheit braucht einen klaren Rahmen und viel Struktur sowie ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl.

Dennoch fragt sich, ob sich ihre Schülerinnen und Schüler später mühelos in einer Lehre oder einer Mittelschule zurechtfinden, wo der Freiheitsgrad erheblich tiefer ist als in einer Sudbury-Schule.
Wir sind dem Bildungsgesetz unterstellt und erfüllen die Anforderungen des Lehrplans. Entsprechend sind unsere Schülerinnen und Schüler voll anschlussfähig. Sie leben hier nicht auf einer Insel der Beliebigkeit, wir konfrontieren sie mit der Realität, helfen ihnen zu verstehen, was sie brauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Auch an Hierarchie gewöhnen sich Sudbury-Schüler schon früh, schliesslich legt die Schulversammlung die Regeln fest, wählt Leute aus für bestimmte Ämter, etwa fürs Rechtskomitee, das Regelverstösse sanktioniert. Der Hauptunterschied ist in meinen Augen, dass Sudbury-Schüler sich selber, ihre Stärken, Interessen und Ziele wesentlich besser kennen als Absolventen einer anderen Schule. Sie zeigen mehr Eigeninitiative, organisieren sich selbstständiger. Das hilft ihnen bei der späteren Aufgabe, ihre Berufung zu finden, nicht einfach irgendwo einen Job zu machen.

Sollten Ihrer Ansicht nach alle Schulen wie Sudbury-Schulen funktionieren? Kritiker wie Richard David Precht oder Sir Ken Robinson bemängeln ja, die meisten Schulen würden noch wie Fabriken im 19. Jahrhundert funktionieren.
Ich halte nichts von solch pauschaler Kritik und finde auch, man sollte eine kleine Privatschule nicht gegen die öffentliche Schule ausspielen. Es ist bei weitem nicht alles schlecht an unseren Schulen, sie verändern, modernisieren sich. In erster Linie habe ich grossen Respekt für alle, die im pädagogischen Bereich tätig sind. Ich hatte anspruchsvolle Jobs in der Verwaltung und Wirtschaft, aber keine dieser Aufgaben hat mich auf so vielen Ebenen gefordert wie die Leitung einer Schule. Gleichzeitig war auch die Befriedigung nirgendwo so gross. Hier können wir wirklich einen Unterschied ausmachen, können junge Menschen darin unterstützen, sich in eine Sache zu vertiefen, bis sie satt sind, sich etwas zuzutrauen und zuzumuten. Es ist unglaublich schön, zu sehen, wie sich diese Kinder in den gut vier Jahren seit der Schulgründung entwickelt haben, wie sie diskutieren, Konflikte klären, vor anderen ihren Standpunkt vertreten, Toleranz lernen.

Aktuell sind 18 Schülerinnen und Schüler eingeschrieben, deren Eltern knapp 2000 Franken im Monat bezahlen. Wollen Sie noch wachsen?
Ja, wir betrieben die Schule während der ersten knapp vier Jahre in einem Provisorium. Seit unserem Umzug nach Arlesheim haben wir viel mehr Platz. Es wäre schön, wenn wir hier bis in ein paar Jahren 60 Schülerinnen und Schüler hätten, damit die Kinder noch mehr voneinander lernen können. Ein weiteres Ziel ist, selbstragend zu werden, nicht mehr von privaten Zuwendungen abhängig zu sein und über unseren Sozialfonds weiteren Kindern aus weniger gut situierten Verhältnissen einen Schuleintritt zu ermöglichen.

Information und Kontakt:

brigitte.wechsler@schulefokus.ch oder www.schulefokus.ch

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5 Kommentare zu “«Die Kinder lernen hier, wie und wann sie wollen»”

  1. Barbara Hunn sagt:

    Diese Form der Lerngestaltung ist eine wesentliche Grundlage für eine Schulgestaltung der Zukunft. Die Gesellschaft benötigt Menschen, welche mit herzblut eine Tätigkeit angehen und hohe Selbst-und Sozialkompetenzen leben. Toll, dass es diese Schule gibt.

  2. Fabrice Pellaton sagt:

    2000 Fr. pro Monat… Damit ist auch geklärt, aus welcher Schicht die Kinder dieser Schule kommen. Ich würde gerne sehen, wie erfolgreich dieses Konzept wäre, wenn man es auf eine ganz normale Klasse mit einem Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund von über 50% anwenden würde. Dieses ewige Bashing verkennt einmal mehr, dass die Staatsschulen das tun, was Frau Wechsler getrost vergessen kann: Kinder der einkommensschwachen Unterschicht aus bildungsfernem Elternhaus ihren Möglichkeiten entsprechend zu fördern. Die heissen Kerem und Dilek, nicht Konstantin und Anna-Luisa.

  3. Karl-Heinz Failenschmid sagt:

    Das System nennt sich “laissez faire”. Ich hatte als Schüler und Auszubildender auch öfters gedacht, den Stoff nicht zu brauchen.
    Das Leben hat mich eines Anderen gelehrt. Schüler brauchen einen vorgegebenen Plan, denn auch später werden sie einen Plan
    vorgegeben bekommen. Und wenn sie dann den Gesetzen des Marktes nicht folgen können, finden sie sich in einer prekären Beschäftigung wieder.

  4. Bianchi Beatrice sagt:

    Das ist eine super Sache, schade hat es das nicht schon vor 30 Jahren gegeben, ich könnte ein Buch über die Staatsschule schreiben, was meinen Söhnen wiederfahren ist

  5. Harry Harrer sagt:

    Wie es die Volksweisheit ja richtig sagt:

    Wer es kann, der macht es

    Wer es nicht kann, der unterrichtet es

    Und wer es nicht einmal unterrichten kann, der wird Direktor

    Die armen Kinder. Schule ist und bleibt eben der grösste Shit-Test des Lebens, bei dem die grosse Mehrheit zum Versagen vorbestimmt ist.