Viele meiden das Unbekannte, Christine Mühlberger ist magisch angezogen vom Fremden: Jeden Sommer bricht die Künstlerin zu einer längeren Fussreise auf und erkundet Neuland. Abwechslungsreich ist auch ihr Alltag in Zürich zwischen Atelier, Marktstand und Japanisch-Unterricht. In einem Büro würde sie sterben, sagt die 54-Jährige.
Interview: Mathias Morgenthaler
Frau Mühlberger, Sie haben als Künstlerin in New York, München, auf Kreta, Island, in Indien und Japan gelebt. Charakterisiert die Unruhe Ihr Schaffen?
CHRISTINE MÜHLBERGER: Ich brauche tatsächlich viel Freiheit und Bewegung. Sehr unglücklich war ich, als ich das Collège in Sion absolvierte – diese katholisch geprägte Ausbildung empfand ich als extrem einengend. Später habe ich in der Auseinandersetzung mit Kunst die Welt entdeckt. Das war in der Familie angelegt, meine Urgrossmutter war Künstlerin, meine Mutter hatte in Kunstgeschichte promoviert, mein Vater war als Arzt ebenfalls an Kunst interessiert. Ich und meine vier Schwestern wurden schon in jungen Jahren oft in Kirchen und Museen mitgenommen, die restliche Zeit verbrachten wir draussen in der Natur.
Waren die vielen internationalen Stationen auch ein Gegenentwurf zur Enge im Wallis, wo Sie aufgewachsen sind?
Sie zeugen von meiner Neugier, von der Lust an der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Ich war während des Gymnasiums für ein Trimester in London und tat mich nach der Matura entsprechend schwer mit der Vorstellung, das Studium ganz in Sion zu absolvieren. So besuchte ich die Sommerakademie in Salzburg, traf dort einen Professor, der mich nach München einlud und mich bald ermutigte, eine richtige Grossstadt zu besuchen; ich zog für ein Jahr nach New York, besuchte dort Kurse und arbeitete als freischaffende Künstlerin. Um mir das Studium zu finanzieren, jobbte ich auch als Ausgrabungstechnikerin für die Kantonsarchäologie – und merkte, wie gut es mir ging, wenn ich draussen war. Später wurde mir klar: Wenn man mich in ein Büro steckt zum Arbeiten, dann sterbe ich.
Sie pendelten nach dem Studium eine Weile zwischen New York und Zürich.
Ja, New York hatte für eine Künstlerin sehr viel zu bieten, aber nach einigen Jahren wurde es mir zu komfortabel und ich sagte mir: Es ist Zeit für eine Challenge. So flog ich am 14. Januar 1994 ohne Plan nach Kreta, liess mich im erstbesten Dörfchen nieder und fand dort ein verlassenes, ausgehöhltes Gebäude, das ich mit Erde und Olivenöl verzieren und nach meinen Vorstellungen gestalten konnte. Ich schuftete jeden Tag zwölf Stunden wie eine Verrückte, die Einheimischen schüttelten den Kopf, aber das Resultat war sehr befriedigend – eine Freundin aus München hat es für mich fotografiert. Daraufhin wurde ich nach Florianopolis in Brasilien eingeladen, um im dortigen Gegenwartsmuseum auszustellen, und tauchte tiefer in die Landart-Kunst ein. Ich entdeckte dort eine riesige Düne und marschierte während einem Monat in täglicher dreistündiger Arbeit eine Spirale von 44 Metern Durchmesser in den Boden. Diese Verbindung von körperlicher Aktivität in der Natur und Kunst hat es mir sehr angetan.
Kann man davon leben?
Ich habe mich früh entschieden, dass ich nicht von der Kunst allein leben will – das macht abhängig, zwingt einem viele Kompromisse auf, behindert die innere Entwicklung. Gleichzeitig wollte ich auch nicht jeden Rappen umdrehen müssen als 30-Jährige. So nahm ich in Zürich einen ordentlichen Job an, unterrichtete Deutsch als Fremdsprache und lebte ansonsten für die Kunst. Zu dieser Zeit entstand das Projekt der Fussreisen. Ich bin von Zürich aus nach Genua, Graz, Budapest, Hamburg und Arcachon am Atlantik marschiert und einen Monat in Japan von Hokkaido nach Tokio zu Fuss unterwegs gewesen. Diese Reisen sind persönlich und künstlerisch sehr ergiebig. Ich marschiere 40 bis 50 Kilometer pro Tag und fühle mich viel offener und freier in der Fremde. Und es ist ein Geschenk, jedes Mal wieder zu erleben, wie das Vertrauen und die eigene Verrücktheit belohnt werden, wie viel mir die Menschen geben, denen ich begegne: nicht nur eine Unterkunft oder Lebensmittel, sondern Einblicke in ihr Leben.
In den letzten Jahren haben Sie vor allem als Marktfrau in Zürich eine grosse Fangemeinde gewonnen. Wie wurden Sie zur Marktfahrerin?
Schon in New York jobbte ich auf dem Markt, danach aus Begeisterung an einem Käsestand in Zürich. Vor acht Jahren machte ich mich als Markt- und Käsefrau selbständig. Nun habe ich meinen eigenen Stand, wo ich am Freitag am Helvetiaplatz und am Samstag am Lindenplatz sorgfältig ausgewählten Käse und selbst gebackene Nusstorten, Früchtekuchen und Birebrot verkaufe. Das ist körperlich hart, ich stehe am Freitag und Samstag um 3:40 Uhr auf und bringe die 50 bis 60 Kilo Käse und die Backwaren mit dem Elektrovelo zum Markt, da ich nie den Führerschein gemacht habe. Aber die vielen Begegnungen am Marktstand und die lange Schlange davor entschädigen für all den Aufwand.
Und im Sommer werden Sie wieder zu einer fünfwöchigen Fussreise aufbrechen?
Ja, zweifellos, aber ich kenne die Richtung noch nicht. Das kristallisiert sich meist im Verlauf des Jahres heraus, im Mai spüre ich jeweils, dass ich reif bin für die nächste Fussreise. Mit Japan bin ich noch nicht fertig, irgendetwas ruft mich da, aber ich kann es nicht benennen. Aktuell lerne ich intensiv Japanisch, an der Volkshochschule und zusätzlich in zwei Lerntandems. Ich liebe generell die Sprachen, nebst Französisch, Deutsch, Englisch und Italienisch kann ich mich auch in Portugiesisch und Spanisch verständigen; auf Reisen habe ich zudem ganz passabel Neugriechisch und Türkisch gelernt. Das ist ein wunderbares Fitnesstraining für den Geist. So kann ich es mir erlauben, ohne Terminkalender zu leben – ich habe alles im Kopf.
Sie sagten, Sie möchten sich in Ihrer Tätigkeit nicht danach ausrichten, was sich auf dem Kunstmarkt gut verkauft. Wünschten Sie sich trotzdem mehr Anerkennung für Ihre Arbeit?
Wenn ich in Galerien oder Kulturzentren meine Werke ausstelle, erhalte ich oft sehr schöne Rückmeldungen. Es ist mir wichtig, dass meine Kunst nicht nur für mich persönlich Bedeutung hat, sondern jene, die sie betrachten, berührt und an ihre Lebendigkeit erinnert. Natürlich wäre es schön, wenn sich die Anerkennung noch vermehrt auch finanziell äussern würde. Aber ich mag dafür nicht an unzählige Türen klopfen. Ich investiere meine Energie lieber in Streifzüge in fremde Gegenden und in meine Arbeit im Atelier und am Marktstand.
Kontakt und Information: cmuehlberger@bluewin.ch oder www.christinemuehlberger.ch