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«Die 40 tickenden Uhren erinnern mich an meine Verantwortung»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 13. Januar 2018
Anna Jelen teilt sich die Zeit mit Sanduhren ein und erinnert sich mit 40 tickenden Uhren an die Vergänglichkeit.

Anna Jelen teilt sich die Zeit mit Sanduhren ein und erinnert sich mit 40 tickenden Uhren an die Vergänglichkeit.

Ein Handstand am Morgen, ein Eisbad am frühen Abend und vor dem Einschlafen ein Blick in die Sterne: Mit solchen Ritualen strukturiert Anna Jelen ihre Tage. Die Zeit-Expertin empfiehlt, höchstens zwei Mal pro Tag die Mails zu checken und sich auf drei wichtige Aufgaben zu konzentrieren. Und sie schwört auf Sanduhren, weil diese sie an die Kostbarkeit der verrinnenden Zeit erinnern.

Interview: Mathias Morgenthaler

Frau Jelen, Sie haben schon als Kind festgestellt, dass Sie ein spezielles Verhältnis zur Zeit und zur Endlichkeit haben. Wie äussert sich das heute mit knapp vierzig?

ANNA JELEN: Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, je ein solches Alter zu erreichen. Heute halte ich es zwar für möglich, 60- oder 65-jährig zu werden, aber ich bin noch immer viel stärker auf den Moment ausgerichtet als andere. Seneca ermahnte uns, nicht so zu leben, als hätten wir noch 1000 Jahre Zeit. Das klingt banal, aber ich sehe so viele Menschen, die sich halb tot arbeiten im Hinblick auf eine unsichere Zukunft. Viele von ihnen kommen nie in dieser Zukunft an – weil sie vorher sterben oder weil sie das Wesentliche immer weiter hinausschieben.

Also den Tag pflücken, den Moment geniessen, wie Horaz uns aufgefordert hat?

Ich empfehle nicht, nur im Moment zu leben – würden wir uns darauf beschränken, hätten wir keine Motivation, etwas aufzubauen, mittelfristig auf etwas hinzuarbeiten. Wir können nicht permanent so leben, als wären wir morgen tot, aber wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, mit gutem Zeitmanagement allein würden wir unser Zeitproblem in den Griff bekommen. Wenn wir nicht lernen, mehr Nein zu sagen, uns auf wenige wichtige Dinge zu konzentrieren, unser eigenes Lebensbuch zu schreiben, dann brennen wir früher oder später aus oder verpassen unser Leben.

Sie halten also nichts von klassischen Zeitmanagement-Techniken?

Damit werden wir effizienter, aber das ist kein Ausweg aus dem tieferliegenden Dilemma. Mit dem Soziologen Hartmut Rosa bin ich überzeugt, dass es kein individuelles Zeitmanagement-Problem gibt, sondern eine strukturelle gesellschaftliche Herausforderung, die uns zum Umdenken zwingt. Die Beschleunigung des sozialen Wandels, des Lebensrhythmus’ und der Technologie erzeugen weltweit Zeitkrisen. Dazu kommt die Explosion der Möglichkeiten, die uns freier macht, aber auch den Entscheidungsdruck erhöht. Das alles können wir nicht durch klassisches Zeitmanagement meistern. Denn dieses ändert nichts am beklemmenden Gefühl vieler Menschen, sie hätten zu wenig Zeit, ihnen laufe die Zeit davon. Solange wir die Uhr ticken hören, sind wir lebendig und haben Zeit zur freien Verfügung. Die wesentliche Frage ist, wie wir mit ihr umgehen, wofür wir sie nutzen. Wir leben global in einer Zeitkrise und niemand redet davon.

Wie schützen Sie sich konkret davor, dass die Zeit ungenutzt verstreicht und sich Ihr Terminkalender zu sehr füllt?

Ich konzentriere mich darauf, täglich Momente zu kreieren, an die ich mich abends mit Dankbarkeit erinnern werde. Das bedingt eine klare Struktur und Disziplin in der Ausarbeitung und Einhaltung einiger Regeln. So starte ich praktisch nie ohne mein Morgenritual in den Tag. In den ersten ein bis zwei Stunden jedes Tages aktiviere ich Körper und Geist und richte mich aus. Das beginnt mit anstrengenden Übungen wie dem Handstand; später geniesse ich mein Teeritual, vertiefe mich in vitalisierende Lektüre und mache mich dann auf zu einem Visualisierungsspaziergang, der ganz im Zeichen einer einzigen Frage steht: «Wie möchte ich mich am Ende dieses Tages fühlen?» Daraus leitet sich alles Weitere ab. Das Geheimnis liegt in der Beschränkung – wir sollten «Not to do»-Listen führen statt viel zu lange «To do»-Listen zu erstellen, die uns frustrieren. Ich nehme mir nie mehr als drei wichtige Dinge pro Tag vor, sage also zur Mehrheit der Möglichkeiten Nein. Und lasse viele Zeitpuffer offen für Unvorhergesehenes. Durch diese morgendliche Ausrichtung starte ich mit Elan und einem Adlerblick in den Tag und vermeide es, mich in der Arbeit oder der Zerstreuung zu verlieren.

Sie vermitteln Ihre Botschaften mit Videos, sind auf Social Media aktiv – wie behalten Sie da den Fokus?

Das mit den Videos ist eine eigene Geschichte. Ich habe mich zu Beginn meiner Selbständigkeit schwer getan, zusätzlich zum Expertenwissen meine persönlichen Erfahrungen einzubringen. Manchmal fragten mich Seminarteilnehmer in der ersten Pause, wie ich heisse und warum ich mich so sehr mit der Zeit beschäftige. Ich hielt das für unwichtig, wollte im Hintergrund bleiben – obwohl das gar nicht den Familienwerten entsprach: Meine Eltern sind Lebenskünstler, die mich immer ermutigt haben, stolz auf mich zu sein. Eines Tages sagte ein Coach zu mir: «Pass auf, dass dich deine Bescheidenheit nicht eines Tages köpft.» Nach dem schwierigen Start in die Selbständigkeit lernte ich allmählich, auf eine persönliche, für mich stimmige Art zu kommunizieren. Und da mein Mann früher davon geträumt hat, Regisseur zu werden, ergänzen wir uns als Filmcrew ganz gut. Die Sozialen Medien können gute Werkzeuge für die Kommunikation mit Kunden und Interessierten sein, aber ich musste mich auch da sehr disziplinieren.

Wie gelingt Ihnen das?

Mit Blick auf meine Ziele gibt es keinen Grund, mehr als zwei Mal pro Tag Mails zu lesen. Mein Mailassistent informiert alle darüber, dass von mir keine sofortige Antwort zu erwarten ist, sondern ich mir bis zu drei Tage Zeit nehme. Ich weiss von vielen Kunden, dass sie schon zwischen 6 und 7 Uhr und noch zwischen 23 Uhr und Mitternacht Dutzende Male Ihre Mails und Social-Media-Accounts checken. Man kann sich heute mit Programmen vor solchem Unsinn schützen. Wenn ich sehe, wie Jugendliche heute pausenlos auf einem halben Dutzend Kanälen aktiv sind, mache ich mir Sorgen. Wir sollten nicht glauben, die könnten das problemlos verkraften, bloss weil sie damit aufgewachsen sind. Vor einiger Zeit sagte ein Mädchen zu mir: «Ich weiss, dass ich eine gute Malerin wäre.» Sie spürte das Talent und die Sehnsucht, aber sie kam vor lauter Instagram, Netflix und Facebook nicht dazu, etwas daraus zu machen. Das höre ich in vielen Gesprächen. Wer sich permanent verführen und ablenken lässt, verliert die Fähigkeit der Konzentration und der Hingabe. Und denkt am Lebensende: «Ach, hätte ich doch…»

Sie schützen sich mit zahlreichen Uhren vor zu viel Ablenkung oder dem Verlieren in der Arbeit.

Ja, zu Beginn der Selbständigkeit ist es mir manchmal passiert, dass ich nach stundenlanger Arbeit im Büro auf dem Boden eingeschlafen bin in einer Mischung aus Euphorie und Erschöpfung. Nun nutze ich zahlreiche Sanduhren mit Durchlaufzeiten zwischen 3 und 30 Minuten, um mir die verrinnende Zeit vor Augen zu führen und mich vor Selbstausbeutung zu schützen. Und ich besitze mehr als 40 weitere Uhren, die alle in einem anderen Rhythmus ticken und von denen keine einzige die korrekte Uhrzeit anzeigt. Sie erinnern mich an meine Lebendigkeit und meine Verantwortung.

Wie sieht Ihr Abendritual aus?

Während des Tages mache ich viele Pausen. 30 Sekunden die Augen schliessen, bewusst atmen, einen Tee trinken, spazieren gehen, solche Dinge – das hält frisch. Seit zwei Jahren pflege ich ein Feierabendritual, das ich in Schweden bei älteren Leuten beobachtet habe: Ich nehme ein Eisbad – das tut dem Körper gut und markiert den Übergang von der Arbeit zur geteilten Freizeit. Wir kochen gerne gemeinsam, tauschen uns aus, hören Musik. Auch bei den sozialen Kontakten gilt für mich: weniger ist mehr. Und am Ende des Tages trinke ich einen Tee auf dem Balkon und schaue – wenn das Wetter es zulässt – mit dem Teleskop in die Sterne. Das gibt mir den Blick auf das grosse Ganze und lässt mich friedlich einschlafen.

In nächster Zeit werden Sie seltener auf dem eigenen Balkon sitzen. Was schwebt Ihnen mit Ihrer World Tour «Let’s talk about time» vor?

Mein Mann und ich haben letztes Jahr damit begonnen, verschiedene Länder zu bereisen und so unterschiedliche Zeitkulturen kennenzulernen sowie meine Erfahrungen zu teilen. Wir waren in Stockholm, Bangkok, Zürich und Berlin – und setzen die Reise nun in Wien, Hamburg, Göteborg, München, San Francisco, Portland und New York fort. Ich erhalte aufgrund dieses Projekts sehr viele Mails aus aller Welt, Menschen von allen Kontinenten teilen ihre Zeit-Geschichten mit mir, erzählen mir von ihrem Stress, aber auch von magischen Momenten. Vielleicht wird daraus ein Buchprojekt. Über das thematische Interesse hinaus war es für uns auch eine Entscheidung für mehr geteilte Lebenszeit. Mein Mann ging das Wagnis ein, seine Stelle zu kündigen und sich mit mir auf Entdeckungsreise zu begeben.

Kontakt und Information: www.anna-jelen.com

Am 30. und 31. Januar 2018 veranstaltet Anna Jelen je einen Halbstages-Workshop am Impact Hub Bern.

Teil 1 des Interviews ist vor einer Woche an dieser Stelle erschienen (hier nachzulesen).

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4 Kommentare zu “«Die 40 tickenden Uhren erinnern mich an meine Verantwortung»”

  1. Othmar Riesen sagt:

    Ich bin doppelt so alt wie Frau Jelen und erledige doppelt so viel. Bei allem Respekt, aber dieser Rhythmus, den sie vorschlägt, ist nicht mein Ding. Ich würde mich zu Tode langweilen.

  2. Sabrina Zraggen sagt:

    Sehr schön, aber die meisten werden sich so einen Zeitplan nicnt leisten können. Ich nehme trotzdem ein paar Anregungen mit, habe aber selber schon allein beruflich zu viel zu erfüllen. Gerne würde ich morgens so in den Tag starten, aber da wäre fast mein halber Arbeitstag futsch.

  3. Marco De Micheli hrmbooks.ch sagt:

    Kluge und wichtige Empfehlungen, vor allem was Rituale und Tagesstrukturen betrifft. Verrinnt die Zeit aber nicht auch deshalb oft zu schnell, weil wir zu oft den Autopiloten eingeschaltet haben und wir durch zu viel Routine viele Eindrücke und Tätigkeiten nicht mehr bewusst wahrnehmen? Oft sind doch über zwei Drittel davon Routinen, die wir gar nicht mehr bewusst erleben und empfinden. Ich mache die Erfahrung, dass ein häufigeres Ausbrechen aus Routine und Gewohnheiten und neue Entdeckungen und neue Wege zu intensiveren Wahrnehmungen und Zeitgefühl führt.

  4. Richard sagt:

    Ein paar gute Gedanken. Einiges lässt sich für jeden realisieren, viel Stress ist hausgemacht und lässt sich durch sachgemäßen Mediengebrauch und Selbstdisziplin vermeiden.
    Die meisten sind aber in Teams und Prozesse eingebunden wo “Nein” auch Jobverlust bedeuten kann. Nur wer finanziell vorsorgt kann sich erlauben
    im kritischen Berufsalter ab 50 auch Vorgesetzten gegenüber “Nein” zu sagen oder abzuspringen bevor es zu spät ist. Die Beschäftigung mit Vermögensbildung
    und Geldanlage ist deshalb jedem ab 20 wärmstens zu empfehlen. Ratgeber dazu gibt es genug, z.B auch gratis bei Fintool…