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«Unsere Geschichte wächst uns mehr und mehr über den Kopf»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 30. Dezember 2017
Gwen und Patrick mit ihrem Sohn unterwegs in den Pyrenäen.

Gwen und Patrick mit ihrem Sohn unterwegs in den Pyrenäen.

Nach 1206 Tagen auf Weltreise begann für Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier ein neues Abenteuer in ihrer Heimat: Der Film, den das Paar aus den persönlichen Reiseerinnerungen produzierte, wurde unverhofft zum populärsten Dokumentarfilm Deutschlands. So wurden die beiden zu Botschaftern für Menschlichkeit und Offenheit.

Interview: Mathias Morgenthaler

Sie sind mehr als drei Jahre lang zu zweit mit dem Rucksack um die Welt gereist. Wie hält eine Beziehung das aus?

GWENDOLIN WEISSER: Es war ein Geschenk für unsere Beziehung, dass wir gemeinsam so viel erleben und verarbeiten konnten. Viele Beziehungen gehen ja nicht wegen Meinungsverschiedenheiten auseinander, sondern weil man aneinander vorbeilebt, zu wenig Zeit füreinander hat, gestresst ist. Wir hatten keine anderen Pflichten, als gemeinsam unterwegs zu sein. Streit gabs nur, wenn es extrem heiss war oder wir Hunger hatten. Sonst funktionierten wir sehr gut als Team. Wir sind recht verschieden, Patrick ist eher der pragmatische Organisator, ich knüpfe leichter Kontakt zu fremden Menschen. Und trotz dieser Unterschiede im Charakter haben wir eine recht ähnliche Vorstellung vom Reisen. Ohne diese gemeinsame Basis würde es nicht gehen. Wir sahen auf dieser Reise auch Paare, die gemeinsam aufgebrochen sind und sich dann getrennt haben nach einiger Zeit.

PATRICK ALLGAIER: In Indien wollten wir einmal eine kleine Pause einlegen. Man wird auf einer solchen Reise ja quasi zu einer Person, begegnet anderen immer nur als Paar, nie als Individuum. So wollte Gwen für fünf Wochen alleine Indien entdecken vor der gemeinsamen Weiterreise. Wir haben uns dann aber bereits nach fünf Tagen an einem Festival wieder getroffen und sind danach gemeinsam weitergereist.

Nach 15 Monaten Reisen wurde Gwendolin schwanger. Dachten Sie keinen Moment daran, das Vorhaben da abzubrechen?

GWENDOLIN WEISSER: Nein, das stand nicht zur Debatte. Wir sahen das Projekt ja nicht als Reise an, sondern als unsere Lebensform für diesen Lebensabschnitt. Hätten wir schon in Sibirien, wo wir von der schönen Neuigkeit erfuhren, eine Vollbremsung eingelegt und wären nach Hause zurückgekehrt, wäre uns dort bestimmt die Decke auf den Kopf gefallen. Wir setzten die Reise fort, und in der mexikanischen Stadt Guadalajara kam unser Sohn zur Welt – so haben wir nun einen Mexikaner in der Familie.

PATRICK ALLGAIER: Anpassungen gab es schon durch die Geburt. Wir verzichteten auf den Abstecher nach Patagonien und Afrika und kauften uns einen VW-Bus, um etwas mehr Komfort zu haben. So hatten wir eine schöne Familienzeit in diesem ersten Jahr zu dritt, aber wir merkten auch, dass wir nicht mehr so nah an die Menschen rankamen, denen wir begegneten, wie zuvor, als wir per Anhalter unterwegs gewesen waren. Von nun an drehte sich fast alles ums Baby, unser Sohn wurde zum Mittelpunkt der Begegnungen.

GWENDOLIN WEISSER: Als ich hochschwanger war, wurde mir bewusst, wie furchtlos ich zuvor unterwegs gewesen war. Im achten Monat wurde ich im mexikanischen Regenwald von einem Skorpion gestochen. Wir wussten nur, dass wir ziemlich weit weg vom nächsten Krankenhaus waren, hatten aber keine Ahnung, wie bedrohlich die Situation war. Zum Glück erwies sich der Stich dann als harmlos.

Wie haben Sie die Rückkehr nach 3 Jahren und 110 Tagen auf Reisen erlebt?

PATRICK ALLGAIER: Da wir sehr sanft via Barcelona, Frankreich, den Schweizer Jura und Basel nach Süddeutschland zurückkehrten, hatten wir keinen Schock – ganz entgegen allen Warnungen unseres Umfelds fanden wir uns leicht wieder zurecht.

GWENDOLIN WEISSER: Es gab ja auch sofort etwas zu tun. Wir organisierten ein Crowdfunding, um aus den vielen Bildern von unterwegs einen Film und ein Reisemagazin machen zu können. So konnten wir die Eindrücke von unterwegs zu Hause nochmals durchleben. Jemand brachte das ganz gut auf den Punkt mit der Bemerkung, die Reise sei für uns wie ein Studium gewesen und die Film- und Buchproduktion wie die Abschlussarbeit.

In diesem Unterschlupf wohnten die beiden während 10 Tagen im georgischen Wald.

In diesem Unterschlupf wohnten die beiden während 10 Tagen im georgischen Wald.

PATRICK ALLGAIER: Wir haben acht Monate gebraucht für die Postproduktion des Videomaterials und dachten dabei stets, das Ergebnis würde bestenfalls in einem lokalen Freiburger Kino gezeigt. Dann realisierten wir nach und nach, welche Bedeutung unsere Bilder für andere hatten. Es gab schliesslich 10 ausverkaufte Filmvorführungen in Freiburg, dann starteten wir zu einer Filmtournee durch rund 60 deutsche Städte, wobei wir im Wohnwagen von Stadt zu Stadt reisten. Der Film wurde, obwohl oder gerade weil wir unterwegs mit der Kamera nie an ein Kinopublikum gedacht hatten, zum erfolgreichsten Dokumentarfilm des Jahres in Deutschland. Und wir waren nach der Rückkehr von der Weltreise mit einem alten Wohnwagen ein halbes Jahr lang auf Deutschlandreise und denken seit 1,5 Jahren immer, in ein paar Wochen werde unser Leben ruhiger.

Entsprechend stellte sich gar nie die Frage, wie Sie beruflich wieder Fuss fassen?

GWENDOLIN WEISSER: Das ist so – wir erleben staunend, welches Eigenleben dieser Film entwickelt, und versuchen, Schritt zu halten mit der Dynamik. Viele Menschen erinnern sich durch den Film an eigene Reisen oder erzählen uns von Reisen, die sie gerne unternommen hätten, wenn sie mutig genug gewesen wären. Uns wurde bewusst, wie elementar die Neugier und Entdeckerlust für die Menschen ist; und wie sehr sich die Menschen nach authentischen Begegnungen sehnen. Vermutlich identifizieren sich die Kinobesucher so sehr mit unserem Film, weil nichts inszeniert ist, weil das Fremde so vertraut erscheint, das Verbindende so greifbar wird. Wir hatten keinen Ehrgeiz, bombastische Naturaufnahmen zu machen, sondern wir hielten Begegnungen fest, als würden wir sie nur unseren Freunden zeigen.

Vermutlich war der Film auch deshalb so erfolgreich, weil er eine Art Gegenentwurf zu Fremdenhass und Abschottungstendenzen darstellt. Sind Sie heute mit einer politischen Mission unterwegs?

PATRICK ALLGAIER: Das war nicht unsere Absicht. Aber ja, unsere persönliche Geschichte hat inzwischen eine politische Wirkung. Es ist sehr interessant zu erleben, wie unsere Geschichte uns – in positivem Sinn – mehr und mehr über den Kopf wächst. Sie verlangt uns sehr viel Arbeit ab, und sie bewirkt Dinge, die wir uns nie zum Ziel gesetzt hatten. Deutsche, die unseren Film sahen, erzählten uns, dass sie danach Syrer oder Pakistani zu sich nach Hause einluden oder zumindest im Zug das Gespräch mit Fremden suchten.

GWENDOLIN WEISSER: Wir wurden auf unserer Reise so oft freundlich angesprochen und aufgenommen – da drängt sich schon die Frage auf, warum wir in Deutschland Menschen aus Pakistan oder Syrien manchmal so anonym begegnen, ohne den Versuch, die Fremdheit zu überwinden. Unsere Erfahrung ist: Wenn man einen Schritt auf das Fremde zugeht, wirkt es oft gar nicht mehr so fremd.

PATRICK ALLGAIER: Hilfreich ist sicher, dass wir im Film überhaupt nicht moralisieren, weil wir keine Message rüberbringen wollten. Wir zeigen zum Beispiel Menschen in Tadschikistan, die fast nichts haben und nach kurzer Zeit alles mit dir teilen. Und die Reaktionen der Kinobesucher zeigen uns, dass sich auch hierzulande viele nach einer solchen Form von Menschlichkeit und Nähe sehnen, aber sich nicht trauen – manche aufgrund von Vorurteilen, andere aus Angst, dabei Fehler zu machen. Auch wir merkten, dass es uns in Deutschland mehr Überwindung kostet, so offen auf andere zuzugehen wie während unserer Reise, aber wir sind immer froh, wenn wir es trotzdem schaffen.

Wie sieht Ihre Zukunft nun aus? Lassen Sie sich weiter treiben oder haben Sie eine Vorstellung davon, wie Sie künftig leben wollen?

PATRICK ALLGAIER: Unsere Reise geht erst einmal weiter und führt uns in die Schweiz. Im Januar startet unsere Vortragstournee durch 23 Schweizer Orte, am 1. März kommt unser Film «Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt» in die Schweizer Kinos. Aber ewig werden wir nicht unserem Film hinterherreisen. Unser Traum ist es, auf einen alten Bauernhof zu ziehen und dort mit vielen Menschen aus aller Welt nachhaltig und bewusst zu leben.

GWENDOLIN WEISSER: Es wäre schön, einen kulturellen Treffpunkt zu schaffen und die Welt zu uns zu holen, nachdem wir über drei Jahre lang die Welt bereist haben.

 

Kontakt und Information: www.weitumdiewelt.de

Daten der Vortragstournee: www.explora.ch/programm/weit_um_die_welt

Teil 1 des Interviews ist vor einer Woche an dieser Stelle erschienen.

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3 Kommentare zu “«Unsere Geschichte wächst uns mehr und mehr über den Kopf»”

  1. Marc Braun sagt:

    Botschafter von Offenheit und Menschlichkeit im Kontrast zur Fremdenfeindlichkeit in Europa? Dieser Vergleich hinkt extrem – die Moralin-Botschaft nervt. Die beiden sind durch viele Länder gereist und hatten nie den Anspruch in einem Land versorgt zu werden. Keines dieser Länder hat Flüchtlinge in einem Ausmass aufgenommen, welches die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kapazitäten überstrapaziert hätte und keines dieser Länder hatte die Erfahrung, dass Leute wie diese Touristen religiös motivierte Terroranschläge verübten oder gar in der Krimininalitätsstatistik auffallen.

  2. Gerd Lellé sagt:

    Ja ja, heute ist Vieles beim Reisen echt einfacher als noch vor fast 50 Jahren. Die Touris, die heute solche Reisen starten haben alle erdenklichen Möglichkeiten. Zu meiner Zeit der 2 1/2-jährigen Asienreis mit dem Bus gabe es noch keine Mobiles und die Post war Wochen/Monate unterwegs. Die vielen, auch einfältigen Touris haben mittlerweile fast sämtliche Ecken dieser Welt in gesellschaftlicher, ethischer, kultureller und infrastruktureller Hinsicht versaut, Reise-Pioniere gibt es keine mehr. Es ist halt so wie es ist. Eine grosse Sache ausschlachten deswegen finde ich unsinnig.

  3. Guido Wagner sagt:

    @marc braun, wenn Sie den Film gesehen haben? Zum Beispiel der bereiste Iran, da sind Terroranschläge sehr vielehäufiger als bei uns, trotzdem sind die Menschen da überaus Gastfreundlich gegenüber Fremden. Der Film moralisiert eben nicht. Ich habe ihn gesehen und werde mir den Film höchst wahrscheinilich noch einmal ansehen. Ich werde den Film als das sehen was er ist, eine interessante, glaubwürdige Dokumantation einer Reise durch viele Kulturen, schöne Landschaften.