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Die besten Jobs sind niemals ausgeschrieben

Mathias Morgenthaler am Samstag den 18. November 2017
Was ist verlockender – Karriere machen oder den eigenen Weg suchen und Spuren hinterlassen? Foto: Frederike Asael

Was ist verlockender – Karriere machen oder den eigenen Weg suchen und Spuren hinterlassen? Foto: Frederike Asael

Die meisten Berufstätigen sind gut darauf trainiert, Erwartungen zu erfüllen und durch Anpassung Karriere zu machen. Diese Strategie führt leicht zum Erfolg – und ebenso leicht in Abhängigkeit und Unzufriedenheit. Wer mehr Sinn in der Arbeit sucht, tut gut daran, Pflichtbewusstsein und Vernunft vorübergehend über Bord zu werfen.

Mathias Morgenthaler

Welche Faktoren entscheiden darüber, ob sich jemand bei der Arbeit entfalten kann oder ob die Arbeit ihn auslaugt und erschöpft? Ich habe in den letzten 20 Jahren über 1000 Interviews geführt mit Menschen, die etwas Unverwechselbares tun und bei der Arbeit in ihrem Element sind. Keiner dieser Gesprächspartner konnte mir ein Rezept nennen, wie man die eigene Berufung findet und aufblüht bei der Arbeit. Und doch zeigte sich in den Gesprächen eine Art geistige Verwandtschaft zwischen vielen dieser Interviewpartner, eine Ähnlichkeit der Erfahrungen und Grundhaltungen. So habe ich aus all den Geschichten für das Buch «Out of the Box» zehn Thesen abgeleitet, die bei der Suche nach der eigenen Berufung helfen können. Drei davon sollen hier vorgestellt werden:

These 1: Vernunft wird überschätzt

Wie viele vielversprechende Projekte und mutige Vorhaben sind schon im Geburtsstadium abgewürgt worden durch die warnende Vernunft, die zu bedenken gibt, wie riskant, anmassend, brotlos, schlecht durchdacht eine Idee sei. Keine Frage: Unsere Vernunft ist als Werkzeug von unschätzbarem Wert. Sie hilft uns, ein Ziel auf mehrere Etappen herunter zu brechen, in Szenarien zu denken, aus Fehlern zu lernen, Marktabklärungen durchzuführen, Dinge zu verbessern. Wenn es aber darum geht, in Bewegung zu kommen, sich aus einer misslichen Situation zu befreien, einen Wurf zu wagen, dann ist die Vernunft oft eine schlechte Ratgeberin. Ohne den Bauch und das Herz, ohne Intuition und Sehnsucht kommen wir nicht aus den Startblöcken.

Am Anfang vieler Erfolgsgeschichten stehen mutige, oft unvernünftige Entscheidungen. Richard Reed entschloss sich, nach Studium und ersten Erfahrungen in einem Konzernjob die gut bezahlte Konzernstelle in London aufzugeben und mit zwei Freunden etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Eher zufällig fiel die Wahl auf die Herstellung von Smoothies. Die drei hatten keine Ahnung von diesem Business, verfolgten also ein hochgradig unvernünftiges Projekt. Wären sie vernünftig gewesen, gäbe es heute keine Innocent-Smoothies.

Menschen, die ihren Impulsen folgen, ohne alles mehrfach zu hinterfragen und abzusichern, berichten in erstaunlicher Häufigkeit von wegweisenden Begegnungen im richtigen Moment oder anderen erstaunlichen Zufällen. «Das Leben antwortet mit Zufällen, wenn ein Wunsch aufsteigt, der stark genug ist», hat die Schauspielerin Hanna Schygulla erkannt. Man könnte ergänzen: Wenn wir einen Wunsch frühzeitig mit vernünftigen Argumenten abwürgen, geben wir dem Zufall keine Chance. Zudem überschätzen wir notorisch die Plan- und Kontrollierbarkeit unseres Lebens und sprechen oft im Namen der Vernunft, wenn wir ehrlicherweise von Feigheit oder fehlendem Mut sprechen müssten. Dank dem Psychologie-Professor Gerd Gigerenzer wissen wir, dass Bauchentscheidungen besser ausfallen als aufwendige analytische Entscheidungen – sofern sich der Entscheidende mit der Materie ein wenig auskennt. Für unser Leben dürfen wir das wohl in Anspruch nehmen.

These 2: Ambition ist wichtiger als Ehrgeiz

Vielen Menschen ist beides suspekt, die Ambition und der Ehrgeiz. Sie stellen sich auf den Standpunkt, sich selber nicht so wichtig zu nehmen, und erledigen die Aufgaben, die andere ihnen anvertrauen. Dabei riskieren sie, immer nur die Ziele anderer zu verfolgen, und sich insgeheim darüber zu ärgern, dass ihre Leistung nicht genügend geschätzt, ihr Talent nicht erkannt, ihre Entwicklung nicht gefördert wird; dass sie von Leuten abhängig sind, die sie für unfähig halten. Aber sich selber in den Vordergrund stellen und sich wichtig nehmen, das ist ihnen zuwider. Sie möchten weder anecken noch unbescheiden wirken.

Diese Haltung mag sympathisch sein, aber sie steht der persönlichen Entwicklung im Weg. Wer sein Talent ernst nimmt und etwas bewirken will, darf sich nicht verstecken und tut gut daran, nicht darauf zu warten, bis ihm jemand genau das anbietet, was er sich wünscht. Ohne ein starkes Ego, das etwas verändern will und sich selber einiges zutraut, entsteht nichts Grosses.

Dabei ist die Unterscheidung von Ambition und Ehrgeiz wichtig, wie sie beiden Unternehmensberaterinnen Dorothea Assig und Dorothee Echter in ihrem Buch «Ambition» vornehmen: Ambition will etwas in die Welt bringen, etwas schaffen, was über die eigene Person hinausreicht und andere beflügelt. Ehrgeiz dagegen kann sich auf Äusserlichkeiten wie Geld, Macht oder Berühmtheit beschränken. Laut den beiden Beraterinnen gibt es eine einfache Frage, die hilft, den eigenen Antrieb besser zu verstehen: «Dominiert der Wunsch, etwas zu bekommen, oder das Bedürfnis, etwas in die Welt zu bringen?» Man kann die Frage auch bei der Auswahl von Mitarbeitern, Geschäftspartnern oder Arbeitgebern heranziehen. Oft ist erstaunlich leicht zu erkennen, ob jemand etwas zu geben hat oder vor allem etwas bekommen will.

These 3: Die besten Jobs sind niemals ausgeschrieben

Die meisten Menschen sind überzeugt, dass man sich für einen Beruf entscheiden und um eine Stelle bewerben muss. Das ist nicht falsch, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Mit Blick auf die meisten Unternehmerkarrieren müsste man entgegenhalten: Die besten Jobs sind niemals ausgeschrieben, sondern sie werden geschaffen von Leuten, die wissen, was sie wollen, oder mutig genug sind, sich mit voller Hingabe einem Problem oder einer Leidenschaft zu widmen. Je ambitionierter und selbstbewusster jemand ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er in ein vorgegebenes Stellenprofil passt; und desto vielfältiger sind die Möglichkeiten, sich entlang seiner Herzensangelegenheiten mit Personen oder Unternehmen zu verbinden und so selber einen massgeschneiderten Beruf zu entwickeln.

Das bedeutet nicht, dass man zwingend sein Glück in der Selbständigkeit suchen muss – für manche ist eine Kombination aus Anstellungsverhältnis und freiberuflicher Tätigkeit ideal, andere arbeiten projektweise für verschiedene Arbeitgeber, ohne sich länger zu binden. Entscheidend ist, selber die Verantwortung für die berufliche Situation zu übernehmen und immer wieder zu überprüfen, ob man wirklich etwas bewegen und gestalten kann bei der Arbeit oder ob man primär sich selber verbiegen und Theater spielen muss. Für Angestellte gilt: Wenn sie sich nicht darauf beschränken, ein vorgegebenes Jobprofil auszufüllen, sondern ihren ganz persönlichen Mix an Talenten und Interessen einbringen, haben sie oft mehr Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeit als ihre Kollegen. Manche Aufträge muss man sich selber geben – und mit etwas Glück findet man jemanden, der einen dafür bezahlt. In den Biografien der meisten sehr erfolgreicher Menschen zeigt sich, dass sie niemals auf die perfekte Bühne gebeten wurden, sondern sich diese Bühne selber geschaffen haben.

 

Die vollständigen 10 Thesen und die besten Interviews aus der Rubrik Beruf+Berufung liegen jetzt in Buchform vor:

Mathias Morgenthaler: «Out of the Box – Vom Glück, die eigene Berufung zu leben.» Zytglogge Verlag. 384 Seiten. 34 Franken. Portofreie Bestellung hier.

Am Dienstag 28. November 2017 findet im Impact Hub Zürich (Café Auer) ab 18:30 Uhr das 2. Berufungs-Forum statt. Zum Thema «Karriere neu denken» diskutieren der mehrfache Unternehmensgründer Andy Keel (u.a. dade design), Sonja Dänzer (The Green Fairy) und Impact-Hub-Mitgründer Niels Rot, der nach Jahren als Unternehmer nun eine Stelle an der ETH Zürich antreten wird. Information und Anmeldung via www.beruf-berufung.ch/impulse

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9 Kommentare zu “Die besten Jobs sind niemals ausgeschrieben”

  1. P. R. sagt:

    Ich habe die Vernunft über Bord geworfen und bin glücklicher als jemals zuvor. In einer leitenden Position tätig, geschätzt & akzeptiert für mein Fachwissen hätte ich es die letzten Jahre ruhig angehen lassen können. Ich habe hingeschmissen und arbeite heute in NZL als Ingenieur. Die Familie folgt demnächst. Ich sehe heute wieder Inhalt. Ich arbeite mehr, kriege aber auch ein Vielfaches an Wertschätzung zurück.

    Die Schweiz ist die Verliererin. Sie verliert eine Familie (2 Kinder) die ohne Beiträge auskam, ein fähiger Ingenieur sowie nebst dem Humankapital Realwerte die verschoben werden.

  2. Stefan W. sagt:

    Bei Erfolgs-Tips sollte man immer auch die “Grabfelder der Erfolglosen” (Nassim Taleb) beachten: Die riesige Zahl derer, die alles so gemacht haben, aber trottzdem gescheitert sind. Nur schreiben die idR keine Bücher über ihr Scheitern. Daher bekommen wir einen verzerrten Blick. Wir lesen von Richard Reed und denken quasi, man müsse nur eine unkonventionelle Idee konsequent verfolgen, um den Erfolg von “Innocent” zu kopieren. Aber wir lesen nirgends etwas darüber, wie viele Menschen genau das vor und nach Reed getan haben und dabei alles verloren haben.

  3. Marco De Micheli hrmbooks.ch sagt:

    Interessante Thesen. Man spricht ja auch von extrinsischer Motivation, die nach äusserlichen Dingen wie Geld oder Status sucht und intrinsischer Motivation mit Antrieb aus dem Inneren, mit der man etwas bewegen und bewirken will. Mit ihr sind oft auch Begeisterungsvermögen, Herzblut und Passion verbunden, oft die stärksten Antriebe für Spitzenleistungen, auch weil sie emotional sind. Dies ist allerdings auch eine Frage der Persönlichkeit bzw. Antriebsstärke, eines Jobs, der dies ermöglicht und der Unternehmens- und Führungskultur, welche Veränderungen nicht nur zulässt, sondern dazu ermutigt.

  4. Patrik Peter sagt:

    Bei vielen kommt mit Ü40 plötzlich die Einsicht, uh nai ich will was anderes. Ich nehme das als reine Zwängerei war.

    Mit 20 oder 30 kann man scheitern, kein Problem. Man verzichtet auf Ferien, Ausgang und vieles mehr. Kurz: man ist geübt im Entdecken von Möglichkeiten. Bei Ü40 ist da immer diese Wut im Bauch diese „jetzt muss es dann klappen“ „ich weis es besser als Ihr“ gerne unterschwellig von Bankangestellten und Ingenieuren ausgestossen. Branchen mit extremen Gehältern und sinnentlehrter Arbeit. Ein fettes Bankkonto ist eben *keine* gute Starthilfe.

  5. Hofer Matthias sagt:

    Wie Shakespeare schon sagte “There is a tide in the affairs of men which, taken at the flood, leads on to fortune; omitted, all the voyage of their life is bound in shallows and in miseries.”
    Wie wahr !

  6. Benni Aschwanden sagt:

    Es ist einfacher, sich nach einer guten Karriere im ersten Berufsleben inkl. erfolgtem beruflichem, finanziellem und sozialem Aufstieg aus “Langeweile” oder “Unerfülltheit” umzuorientieren und plötzlich etwas “ganz Verrecktes” zu machen, wenn man schon einen sozialen und finanziellen Fallschirm umgeschnallt und einen sicheren Hafen hat, wohin man im Falle eines Scheiterns wieder zurückkehren kann. Bewundernswert finde ich aber eher die, welche von Anfang an aus bescheidenen Verhältnissen, ohne Milliönchen auf dem Konto und ohne Daddys Backup im Rücken etwas Existenzielles wagen – und…

  7. Karl-Heinz sagt:

    Es ist ja alles schön und gut, Surflehrer auf den Kananaren oder Tierpfleger in Namibia. Und wenn ich dann alt bin, komme ich zurück und erwarte eine gute AHV. Ihr Bünzlis habt ja einbezahlt.

  8. Peter Freudig sagt:

    Hier werden unternehmerische Fähigkeiten beschworen. Solche haben nicht wirklich viele (Erwartungshaltung).
    Die Durchhaltekomponente gehört halt auch dazu. Nicht dazu gehört, übertriebene Konsumsteigerung, noch ersten Erfolgen (vor Steuer).

  9. Sandra Müller sagt:

    Hallo und vielen Dank für den interessanten Artikel. In der Tat werden die Stellen als offene Stellen ausgeschrieben für die sich eher weniger Bewerber melden. Dass ist halt auch nur Angebot und Nachfrage, nur vielleicht für die Stellenausschreiber in einem ungewünschten Verhältnis. Wie so oft hilft es vielleicht einmal Ursachenforschung bei dem Problem zu betreiben als zu klagen.