Beruf + Berufung ist umgezogen. Neu finden Sie die wöchentlich erscheinenden Interviews hier. Viel Lesevergnügen!
Logo

«Es ist wunderbar, wenn du den Boden zurücklässt»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 14. Oktober 2017
Chrigel Maurer hat den wichtigsten Ausdauerwettkampf für Gleitschirmflieger fünf Mal in Folge gewonnen.

Chrigel Maurer hat den wichtigsten Ausdauerwettkampf für Gleitschirmflieger fünf Mal in Folge gewonnen.

Als 4-Jähriger unternahm Chrigel Maurer die ersten Experimente mit einem Gleitschirm, seither hat der Berner Oberländer das Fliegen zur Perfektion gebracht. Im Interview sagt der Ausnahmeathlet, was er in der Luft fürs Leben gelernt hat, wie er im Tandem-Flug übers Matterhorn flog und welchen Rekord er in Brasilien brechen will.

Interview: Mathias Morgenthaler

Herr Maurer, Sie gelten als weltbester Gleitschirmflieger und haben im Juli zum fünften Mal in Folge den Wettkampf X-Alps gewonnen, bei dem die Athleten zu Fuss und mit dem Gleitschirm von Salzburg nach Monaco gelangen. Welcher Ihrer vielen Rekorde bedeutet Ihnen am meisten?

CHRIGEL MAURER: Am meisten bedeutet mir bis heute, dass es mir gelang, im Tandem übers Matterhorn zu fliegen. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Wir flogen von Adelboden aus los, über die Alpen, höher und höher, schliesslich übers Matterhorn hinaus und dann gleich noch die ganze Strecke zurück, 140 Kilometer in fünfeinhalb Stunden. Das geht höchstens an einem Tag pro Jahr, und auch an diesem Tag musst du das richtige Zeitfenster treffen.

Man hat Ihnen also nicht von ungefähr den Übernamen «Adler von Adelboden» gegeben. Wann haben Sie bemerkt, dass Sie beim Fliegen ganz in Ihrem Element sind?

Mit 4 Jahren erhielt Chrigel von der Mutter seinen ersten Schirm. Abgehoben ist er damit noch nicht.

Mit 4 Jahren erhielt Chrigel von der Mutter seinen ersten Schirm. Abgehoben ist er damit noch nicht.

Mein Vater ist ein leidenschaftlicher Bergsteiger und ein Gleitschirm-Pionier. In meiner Kindheit Ende der Achtziger- und Anfang der Neunziger-Jahre wurde das Gleitschirmfliegen populär, aber es gab auch sehr viele Unfälle, weil die Leute die Gefahr unterschätzten und dachten, es reiche aus, ein Klettergstältli an einen Schirm zu hängen und damit abzuheben. Ich selber war schon als Vierjähriger fasziniert vom Fliegen, baute Papierflieger, beobachtete die Vögel, die scheinbar schwerelos dahingleiteten, und erhielt bald von meiner Mutter einen selbstgenähten kleinen Schirm, den ich steigen lassen konnte wie einen Drachen. Mit sieben Jahren absolvierte ich den ersten Tandemflug, mit neun wagte ich erste 100-Meter-Flüge wenige Meter über dem Boden und mit 16 hob ich zum ersten Mal richtig ab und erlebte, wie wunderbar das ist, wenn du den Boden zurücklässt und lautlos davonschwebst.

Und dann hat Sie der Ehrgeiz gepackt?

Ich hatte das Glück, dass ich der Weltelite hier im Berner Oberland zusehen konnte, wie sie trainierten und ihre Schirme einstellten und wie sie sich in der Luft verhielten. Mein Ehrgeiz war, mich rasch zu verbessern, und das gelang am besten, wenn ich Wettkämpfe flog und mit den anderen trainierte. Durch die Wettkämpfe und die Testflüge für Schirmhersteller lernte ich auch, das Wetter und die Möglichkeiten des Materials immer besser einzuschätzen. Es ist in unserem Sport wichtig, nah ans Limit zu gehen, aber die Grenzen zu respektieren. Dank dieser Haltung bin ich nicht nur erfolgreich geworden, sondern auch gesund geblieben. Bis auf einen Fussbruch nach einer zu harten Landung hatte ich keine ernsthaften Verletzungen.

Und dennoch gelten Sie als der Wagemutige, der auch dann noch mit dem Schirm abhebt, wenn andere der Gefahren wegen lieber am Boden bleiben. Am diesjährigen X-Alps-Wettkampf kam ausser Ihnen nur noch ein Athlet ins Ziel, weil die Wetterverhältnisse so schwierig waren.

Das X-Alps ist auf mich zugeschnitten, weil Erfahrung und Taktik sehr wichtig sind. Es gibt zwischen Salzburg und Monaco nur sechs Fixpunkte, die alle passieren müssen, sonst ist die Routenwahl frei. Wer viel investiert und etwas probiert, kann fliegen, während die anderen marschieren. Ich fühle mich während diesem Wettkampf wie ein leidenschaftlicher Pokerspieler, der in Ausnahmesituationen noch eine zusätzliche Farbe im Ärmel hat. Manchmal fällte ich intuitiv Entscheidungen, die mich innert Kürze an die Spitze bringen. Und wenn ich einmal vorne liege, bin ich sehr entspannt, dann wird es schwierig für die anderen. Diese Lust am Spiel ist wichtig. Wenn du einfach versuchst, nichts falsch zu machen und dich maximal anzustrengen, gibst du dem Glück keine Chance, dir zu helfen.

Wo haben Sie die Konkurrenz dieses Jahr überflügelt? Die Vorzeichen standen ja eigentlich schlecht: In der Woche vor dem Wettkampf waren Sie krank; Sie mussten den Prolog deshalb auslassen und mit einer Stunde Verspätung starten.

Es war tatsächlich nicht lustig, mit Grippe im Tourbus zu liegen, während die Konkurrenten bei letzten Trainingseinheiten ihre gute Form demonstrierten. Aber ich sagte mir: «Du liebst nicht den Sieg, sondern das Abenteuer des Wettkampfs – und jetzt hast du ein richtiges Abenteuer vor dir.» Am ersten Tag marschierte ich 80 Kilometer in 10 Stunden. Am zweiten Tag stieg ich im Gegensatz zu den meisten anderen westlich am Alpenhauptkamms auf, weil ich mir so mehrere Optionen zum Fliegen erhoffte. Und prompt gab es im Gasteiner-Tal hervorragende Bedingungen; ich konnte dank Nordwind sehr schnell fliegen und mich so schon am zweiten Tag an die Spitze setzen. Es war sehr motivierend, jene Konkurrenten, die 24 Stunden am Stück durchmarschiert waren, in nur zwei Stunden Fliegen zu überholen. Das ist eine Lektion fürs Leben: Maximale Anstrengung bringt nicht immer die besten Resultate. Manchmal muss man Druck wegnehmen, innehalten und dann eine mutige Entscheidung fällen.

Ohne gute körperliche Verfassung geht trotzdem nichts. Sie sind in 11 Tagen 500 Kilometer gelaufen und 1700 Kilometer geflogen und haben pro Tag zu Fuss knapp 50 Kilometer und 2800 Höhenmeter absolviert.

Klar, ich bin in den Bergen aufgewachsen und habe früh gelernt, zu beissen, wenn es hart auf hart kommt. Vor sechs Jahren habe ich das im Training einmal auf die Spitze getrieben und bin innert 24 Stunden 6,5-mal auf den Niesen gerannt, insgesamt über 10’000 Höhenmeter, mit dem Schirm auf dem Rücken. Aber besser als im Berglauf, für den ich eigentlich zu schwer bin, bin ich in der Erholung. Ich kann 80 oder 90 Kilometer marschieren an einem Tag und bin am nächsten Tag wieder fit. Und natürlich hilft es mir, dass ich seit fast 30 Jahren in der Luft bin und mich dort so leicht nichts überrascht. Der diesjährige Wettkampf war sehr schwierig, weil es viele Gewitter gab.

Und am Ende wurde es noch richtig knapp – Sie hatten nach 11 Tagen nur zwei Stunden Vorsprung auf den Zweitplatzierten.

Eigentlich war ich 16 Stunden voraus, doch die anderen Teams fragten mich, ob ich ein wenig warten könnte, damit sie eine Chance hätten, innerhalb des Kontrollschlusses ins Ziel zu kommen, also maximal 24 Stunden nach dem Sieger. So nahm ich es gegen Schluss gemütlich. Leider kam der Dritte um 10 Minuten zu spät an. Ich war sehr zufrieden, denn ich habe kaum Fehler gemacht, auch dank meinem Team, das mich begleitete oder von zuhause aus mit wichtigen Wetter- und Routeninformationen versorgte.

Stimmt es, dass Sie beim Fliegen manchmal für kurze Zeit schlafen?

Die Müdigkeit kann wirklich zum Gegner werden. Es sind ja nicht nur die körperlichen Leistungen, die Kraft kosten, sondern auch das permanente Abwägen, welche Route zu wählen ist, wo das Risiko in Leichtsinn kippt. Den Sekundenschlaf gibt’s tatsächlich auch in der Luft, aber wenn man einnickt, fällt man aus der Flugposition heraus und erwacht von selber wieder. Mit guter Distanz zu den Bergen kann man im Steigflug ein wenig dösen, das ist erholsam und ungefährlich. Wenn man nah am Hang fliegt, muss man das aber unbedingt vermeiden, denn die Müdigkeit beeinträchtigt die Sehschärfe und damit das Distanzgefühl. Zum Glück verabschiedet sich das Gehör, bevor der Sekundenschlaf eintritt. Wenn das passiert, schrecke ich jedesmal sofort auf. Seit 2011 gibt es sinnvollerweise Ruhezeiten beim X-Alps, zwischen 22:30 und 5 Uhr darf nicht geflogen und marschiert werden, wobei jedes Team einen Joker für eine Nacht hat. 2009, bei meinem ersten Sieg, gab es noch keine Vorschriften. Bei der nachträglichen Analyse zeigte sich, dass ich trotz oder eher wegen der längsten Ruhezeiten gewonnen hatte.

Ende Oktober starten Sie eine Vortragstournee. Sprechen Sie da in erster Linie zu anderen Gleitschirmfliegern oder erzählen Sie Dinge, die auch jene weiterbringen, die gerne festen Boden unter den Füssen behalten?

In der Schule hasste er Vorträge, inzwischen gibt er sein Wissen gerne weiter.

In der Schule hasste er Vorträge, inzwischen gibt er sein Wissen gerne weiter.

Lange Zeit beschränkte ich mich auf Weiterbildungen für Piloten. Inzwischen geniesse ich es, ein breites Publikum anzusprechen – obwohl ich in der Schule nichts mehr hasste als Vorträge. Ich bin sicher nicht der geborene Redner, aber ich habe durch den Spitzensport viel über Teambildung, Motivation und Durchhaltevermögen gelernt, und es tut gut, wenn man merkt, dass andere davon profitieren und etwas fürs eigene Leben mitnehmen können. Und natürlich hat man als Gleitschirmflieger einen enormen Vorteil: meine Erfolge sind definitiv fotogener als die eines Managers, mit den ersten Bildern aus der Luft habe ich deshalb das Publikum meistens im Sack. Aber es geht mir nicht nur um den Applaus. Der Coaching-Aspekt interessiert mich sehr. Ich möchte noch besser darin werden, andere stark zu machen.

Nun brechen Sie mit anderen Schweizer Piloten nach Brasilien auf. Was haben Sie dort vor?

Die Mitglieder der neu gegründeten Swiss XC Liga unternehmen einen Weltrekordversuch im Streckenflug. Die aktuelle Bestmarke liegt bei 572 Kilometern, gehalten von drei Brasilianern. Mein Bestwert in der Schweiz liegt bei 333 Kilometern, wobei die Verhältnisse in der Schweiz viel schwieriger sind. Ich bin zuversichtlich, dass bei stabilem Wetter in Brasilien einer aus unserer Gruppe den Weltrekord übertreffen kann.

Kontakt und Informationen zur Tournee:

www.chrigelmaurer.ch
www.explora.ch/programm/chrigel_maurer

« Zur Übersicht

Kommentarfunktion geschlossen.