«Agilität» ist das Zauberwort der Stunde im Management. Doch wo Selbstverantwortung und Beweglichkeit gepredigt werden, bleiben vielfach die alten Machtstrukturen erhalten. Der Arbeitspsychologe und Unternehmensberater Christoph Clases erkennt darin Pathologisches und sieht in Chefetagen viele «Trockenschwimmer» am Werk.
Interview: Mathias Morgenthaler
Herr Clases, Hierarchie ist in vielen Organisationen verpönt, moderne Chefs appellieren an die Selbstverantwortung der Mitarbeiter und predigen Agilität. Sind das mehr als Lippenbekenntnisse?
CHRISTOPH CLASES: So schnell wird die Hierarchie nicht abgeschafft. Die meisten grösseren Organisationen halten daran fest, weil sie ein bewährtes Ordnungsprinzip darstellt, das Entscheidungen herbeiführt und Verlässlichkeit garantiert. Ein Handicap der Hierarchie ist allerdings, dass sie Organisationen träge macht. Viele Unternehmen haben auf die steigende Komplexität und das erhöhte Tempo im Markt durch Erhöhung der internen Kompliziertheit reagiert. Kompliziert wird es, wenn viel zu vieles kleinteilig in der Hoffnung organisiert und geregelt wird, so die Komplexität in den Griff zu bekommen. So verfangen sich Organisationen im Gestrüpp der eigenen Prozesse, Vorschriften und Spezialisierungen. Wenn die Geschäftsleitung anfängt, sich über die Farbe des Wasserkochers zu streiten, weil viele Entscheide schlicht die Hierarchie hocheskalieren, dann ist das sicher kein Beitrag zur Entwicklung des Unternehmens.
Ist es den Managern demnach gar nicht ernst mit der Agilität?
Doch, die meisten haben erkannt, dass es Veränderungen braucht. Viele interpretieren aber Agilität einseitig als Synonym für mehr Tempo. Ich habe kürzlich eine qualitative Befragung in 20 Unternehmen durchgeführt, die klar gezeigt hat, dass die Manager primär versuchen, an der Effizienzschraube zu drehen und so in den bisherigen Strukturen raschere Entscheidungen herbeizuführen. Wir reden also von einer Optimierung des bisherigen Systems, nicht von einem Prozessmusterwechsel. Agilität bedeutet nach meinem Verständnis aber in erster Linie Beweglichkeit. Das ist nicht nur eine Frage des Tempos, sondern es beinhaltet zum Beispiel auch die Frage, wie kundennah welche Entscheidungen gefällt werden und ob Führung an Personen oder eher an Rollen gekoppelt ist.
Wenn den Unternehmen der Mut fehlt, das System zu verändern, bringt es wenig, an die Selbstverantwortung der Mitarbeiter zu appellieren.
Viele Unternehmen versuchen, eine neue Kultur, einen neuen Mindset zu installieren, ohne die alten Strukturen anzupassen. Das wirkt vielerorts ein wenig so, als möchte jemand seine Schwimmtechnik perfektionieren, ohne nass zu werden. Wenn Sie Trockenschwimmer bleiben wollen, also nicht bereit sind, Entscheidungen strukturell zu delegieren, sollten Sie auch nicht Unternehmertum predigen. Beispielsweise in der Finanz- und Versicherungsbranche wird viel in die Personalentwicklung investiert, aber die meisten Unternehmen sind weiterhin klassisch hierarchisch organisiert. Die Grundfrage ist, ob Verantwortung strukturell delegiert wird oder ob jene, die Führungsverantwortung tragen, nach Gusto delegieren und den Freiraum der Mitarbeiter so je nach Situation definieren können. Es gibt aber natürlich auch Beispiele mutiger Unternehmen, die Hierarchiestufen abbauen oder in einzelnen Abteilungen mit Organisationsformen experimentieren, bei denen die Verantwortung verbindlich auf mehreren Schultern verteilt ist.
Manche kleinere Unternehmen haben die Chefs ganz abgeschafft und organisieren sich durch Holacracy, ein System, bei dem die Autorität auf viele Schultern verteilt wird; auch die Swisscom experimentiert in der Personalabteilung damit. Macht das den Unternehmensalltag einfacher oder komplizierter?
Klar scheint mir, dass wir uns nicht von der Frage verabschieden können, wie wir in Unternehmen mit der Verteilung von Autorität und Führung umgehen. Hierarchie ist ein Muster, das Grundproblem der Autorität zu lösen, Holacracy ein anderes; dort wird die Frage der Autorität einfach strukturell anders gelöst. Die Einführung beinhaltet Risiken, weil wir wenig Erfahrungen mit solchen Systemen haben. In einem hierarchischen System wissen die meisten Akteure, wie Entscheidungen herbeigeführt werden, wie also Unsicherheit zumindest vorübergehend in Sicherheit und Berechenbarkeit transformiert wird. Wobei ehrlicherweise anzufügen ist, dass viele Entscheidungen nicht dort gefällt werden, wo es formal vorgesehen wäre, weil Chefs angesichts der wachsenden Komplexität oft nicht mehr selber entscheiden. Viele Entscheidungen entspringen der Mikropolitik im Unternehmen, sind abhängig von Netzwerken und Menschen ohne formale Entscheidungsmacht, die andere beeinflussen.
Das klingt, als würden Sie die strikt hierarchische Organisation verteidigen, weil sie berechenbarer ist als alle Alternativen. Allerdings führen viele Unternehmen jährlich Reorganisationen durch, da ist es mit der von Ihnen erwähnten Sicherheit nicht mehr weit her.
Ich wollte damit nur betonen: Wir sind extrem gut trainiert in hierarchischem Denken. Dadurch können wir uns in hierarchischen Systemen leicht orientieren. Auch wenn eine Reorganisation auf die andere folgt, wissen wir, wie das Game gespielt wird und wie wir uns zu verhalten haben. Aber natürlich sind diese eingeübten Prozesse in vielerlei Hinsicht pathologisch: Da wird zum Schein Verantwortung delegiert, während der starke Chef nach wie vor alles kontrolliert; da findet in immer höherem Tempo ein Wechsel zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung statt; da sind in Meetings und Mailverkehr viel Selbstbeschäftigungsroutinen eingeübt, weil der Abstimmungsaufwand immens ist; da wird Einigkeit vorgegeben in Dingen, wo sich einer durchgesetzt hat und die anderen gute Miene zum bösen Spiel machen müssen; und da wird über Fehlerkultur geredet, wo Konformität erwünscht ist.
Also haben Sie einen schweren Stand, wenn Sie als Berater Managern empfehlen, ihre Organisation agiler zu machen?
Man muss als Berater die Menschen in Unternehmen auch schon mal da abholen, wo sie nicht stehen; sonst wird es mit Innovationsimpulsen schwer. Es ist mein Verständnis, dass ich als Berater auch stören sollte – nämlich die etablierten Denkweisen, zum Beispiel zu Agilität. Organisationen sind beharrungsfähig. Sie zeigen auch gerne Immunreaktionen und produzieren Antikörper gegen den beratenden Eindringling. Allerdings ist mir persönlich der Fokus auf Agilität im Sinne der Entwicklung von systemisch angelegter Beweglichkeit und Veränderungsfähigkeit wichtig. Wenn es allein um ein Drehen an der Beschleunigungsschraube geht, ohne auch strukturell die erforderlichen Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu schaffen, dann wird sich qualitativ am Ende Tages nicht wirklich etwas ändern.
Kontakt und Information:
christoph.clases@aoc-consulting.com
Das Problem ist das “Menscheln”. In einer rein logisch funktionierenden, automatisierten Prozesskette können sie die Wirksamkeit von Innovationen sehr präzise messen. Wo Menschen ins Spiel kommen, sind plötzlich auch Sympathien und Antipathien entscheidende Faktoren. Am stärksten einer praktisch-logischen Abfolge im Wege stehend ist aber das Bedürfnis nach persönlicher Wichtigkeit. Einen Computer oder eine Maschine interessiert das nicht. Für Menschen hängen an ihren Jobs und Positionen teilweise der ganze Lebensentwurf und -Sinn. Rein rationelle Abläufe erreicht man so ja nie.
Ihr Chef hat Agility? Keine Sorge, das wächst sich noch aus.