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Wie ein Anruf um 3 Uhr die Kieser-Erfolgsgeschichte lancierte

Mathias Morgenthaler am Samstag den 29. Juli 2017
«Mental wach» dank Krafttraining: der 77-jährige Werner Kieser.

«Mental wach» dank Krafttraining: der 77-jährige Werner Kieser.

Ende der Achtzigerjahre wollte sich Werner Kieser aus dem Krafttraining zurückziehen und Pferde züchten, doch ein Anruf aus den USA veränderte alles. Kieser verärgerte danach mit der Aussage, 9 von 10 Rückenoperationen seien unnötig, die Ärzte, expandierte nach Deutschland und eröffnete in kurzer Zeit über 100 Studios.

Interview: Mathias Morgenthaler

Herr Kieser, Sie sagten vor Wochenfrist hier im Interview, mit 25 Jahren habe der Mensch sein Ablaufdatum erreicht, die Evolution habe kein Interesse daran, dass wir älter werden. Ist das Ihr Ernst oder war es das Marketingkalkül des Fitness-Unternehmers?

WERNER KIESER: Es war vielleicht etwas pointiert formuliert, aber inhaltlich stehe ich zu meiner Aussage. Die Maximalkraft und die Knochendichte nehmen beim Menschen bis zum 20. Lebensjahr zu, ab dem 25. Lebensjahr fallen beide Werte kontinuierlich ab. Mit Krafttraining kann diese Tendenz bis etwa 40 kompensiert, danach immerhin markant verlangsamt werden. Deshalb sollten wir zwei Mal pro Woche eine halbe Stunde unsere Kraft trainieren.

Aber Sie neigen schon zu grossspurigen Aussagen. Als Sie in den 1990er-Jahren nach Deutschland expandierten, behaupteten Sie in Inseraten, von den 50 Milliarden Mark, die jährlich zur Therapie von Rückenleiden ausgegeben würden, könnten 40 Milliarden eingespart werden dank Krafttraining. Das sorgte für ziemlichen Ärger.

Provokativer Auftritt in Deutschland: Werner Kieser mit der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.

Provokativer Auftritt in Deutschland: Werner Kieser mit der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.

Ich war selber überrascht, aber die Studien zeigten eindeutig: neun von zehn Rückenoperationen können durch das isolierte Training der Rückenstrecker vermieden werden. Diesen Sachverhalt habe ich an einer Tagung der damaligen deutschen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und ihrem Tross vorgestellt. Alle waren begeistert – aber geändert hat sich nichts. Niemand lernt gerne freiwillig um: Einzelne Muskeln drücken sich am liebsten vor der Arbeit, indem sie die Arbeit auf die anderen, meist stärkeren Muskeln verteilen. Deshalb ist es wichtig, sie im Krafttraining isoliert maximal zu belasten. Und die Orthopäden und Pharmafirmen verdienten gut an den Rückenbeschwerden, also waren sie wenig erfreut, als ich mit einer einfachen Lösung des Problems auftauchte. Jedes System zielt auf Selbsterhaltung ab durch Kontrolle gegen Innen und Abschottung gegen Aussen. Vom Anästhesisten bis zum Ergotherapeuten leben sechs Fachleute von Rückenoperationen – da hatte niemand auf mich gewartet.

Warum haben Sie sich all den Ärger angetan?

Eigentlich wollte ich mich ja Ende der Achtzigerjahre aus dem Business zurückziehen, einen Bauernhof kaufen und Pferde züchten. Doch dann klingelte mich eines Nachts um 3 Uhr mein Mentor Arthur Jones aus dem Bett und verkündete euphorisch, er habe das Rückenproblem gelöst – mit seiner neusten Erfindung würden 90 Prozent der Probleme verschwinden. Bei jedem anderen hätte ich müde gelächelt, aber Jones war ein Genie. Er hat schon sehr früh mit kurzen, hohen Belastungen grosse Erfolge erzielt. 40 Jahre danach hat sein Ansatz unter dem Begriff «High Intensity Training» Hochkonjunktur.

Sie glaubten dem nächtlichen Anrufer und ergriffen die Flucht nach vorne?

Gabi, meine dritte Ehefrau, arbeitete zu dieser Zeit als Ärztin im Zürcher Triemli-Spital. Wir gingen an die Uni von Florida, wo Jones‘ Maschinen unter harten wissenschaftlichen Bedingungen getestet wurden. Die Resultate waren sensationell. Meine Frau eröffnete 1990 ihre eigene Praxis für Medizinische Kräftigungstherapie. Die Patienten jubelten, die Medien berichteten seitenweise und die Ärzte schimpften. Da die  Patienten nach der Genesung weitermachen wollten mit Krafttraining, lief mein Studio immer besser. Dann schlug mir ein vermögender Kunde vor, er wolle Kieser in Deutschland etablieren. Nach zwei Jahren gab er auf. Weil ich aufgeben für unanständig halte, übernahm ich das Geschäft. Das Studio in Frankfurt lief einigermassen, aber in Hamburg kam kein Mensch – eine Besucherin fragte mich beim Betreten des neuen Studios, ob das eine Kunstausstellung sei. Wir machten mit den ersten beiden Geschäften in Hamburg fast vier Millionen Mark Verlust in den ersten zwei Jahren. Dann drehte der Wind plötzlich, fragen Sie mich nicht, warum.

Und von da an war Kieser eine Erfolgsgeschichte. Sie eröffneten ab 1997 innert sechs Jahren  über 100 neue Studios in Deutschland und Österreich.

Dieses rasante Tempo war nur möglich, weil wir bloss knapp einen Fünftel davon selber betrieben und den Rest im Franchise-System aufbauten. Das ist eine intelligente, aber auch anspruchsvolle Sache: der Franchise-Geber hat die starke Marke und das Know-how, der Franchise-Nehmer übernimmt das unternehmerische Risiko und den Grossteil des Gewinns. Das System hat aber auch Schwächen. Zum einen muss der Franchise-Geber seine Standards rigoros durchsetzen, sonst verwässert die Marke. Das sorgt früher oder später für Spannungen. Und wenn die Geschäfte gut laufen, fragt sich der Franchise-Nehmer früher oder später, warum er 5 Prozent der Erträge abliefern soll, wenn er doch praktisch alles selber macht.

Hat das in der Schweiz zum Zerwürfnis geführt? Da buhlten in den letzten sechs Jahren zwei verschiedene Marken mit praktisch identischem Angebot um Kunden.

Unser Master-Franchisenehmer Jost Thoma verunfallte 2001 nach 12 Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit tödlich. Seine Tochter übernahm das Geschäft und machte ihre Sache angesichts der schwierigen Umstände gut. Aber wir hatten nicht die gleiche Vorstellung von der Weiterentwicklung der Marke Kieser. Als 2010 der Vertrag auslief, beendeten wir die Zusammenarbeit. Sandra Thoma betrieb 19 Kieser-Trainingscenter unter dem Namen Exersuisse weiter, Kieser hatte in der Schweiz noch sieben Studios. Das war für alle Seiten eine unbefriedigende Situation. Nach meinem Rückzug auf Anfang dieses Jahres ist es den beiden neuen Besitzern nun zum Glück gelungen, sich mit Thoma auf eine Übernahme der Exersuisse-Zentren zu einigen.

Was bleibt nun für Sie noch zu tun nach dem Verkauf und dem Rückzug aus dem operativen Geschäft?

Ich verkörpere noch immer die Marke und deren Philosophie. Und ich verfüge über eine unerschöpfliche Neugier. Das hat immer wieder zu Geräte-Neuentwicklungen geführt, etwa fürs Sprunggelenk- oder Beckenboden-Training. Nun setze ich grosse Hoffnungen in ein Trainingsgerät, das Parkinson-Patienten helfen könnte. Der zweite Prototyp steht schon. Und es gibt noch viel zu tun. – achten Sie mal darauf, wie gebückt und schief die meisten Menschen stehen, gehen und sitzen. Alles Probleme, die man mit korrektem Krafttraining lösen kann.

Sie dagegen sehen beneidenswert fit aus für Ihre 77 Jahre.

Das bin ich der Marke Kieser schuldig… Im Ernst, vor acht Wochen habe ich mir auf einer Radtour in Vietnam den Oberarm gebrochen. Die Ärzte waren sehr verwundert, wie schnell ich mich danach wieder normal bewegen konnte. Meine Zellen haben sofort wieder nach Belastung und Aktivität geschrien, sie kennen nichts Anderes. Darüber hinaus hat das Training unserer Muskeln auch Einfluss auf unsere mentale Verfassung, wie die neuste Forschung immer deutlicher zeigt. Die Muskulatur schüttet unter Belastung hormonähnliche Botenstoffe aus, übt also eine Art Weckreize auf das Gehirn aus. Das führt dazu, dass Menschen, die regelmässig trainieren, mental wacher sind und sich mehr zutrauen.

Wie äussert sich das bei Ihnen?

Ich habe im Alter von 71 Jahren einen Master in Philosophie erworben – in Englisch, ganz nach dem Kieser-Motto: der Mensch wächst am Widerstand. Derzeit lerne ich mein drittes Instrument nach Klavier und Schwyzerörgeli: Lap-Steel-Gitarre. Ich bin gerne Dilettant im guten Sinne des Wortes, tauche in neue Welten ein und eigne mir etwas Neues an – das war schon zu Zeiten so, als ich als Unternehmer noch voll gefordert war. Machiavelli schrieb, er habe sich abends den Alltagsstaub von den Kleidern geklopft und sich zurückgezogen, um mit den Toten zu reden. Das kann ich gut nachvollziehen, es gibt noch so viel zu lernen, von den Lebenden wie von den Toten. Mein einziges Problem ist, dass mir allmählich die Zeit davon läuft.

Und was soll einmal auf Ihrem Grabstein stehen? Dass Sie «Europas führender Produzent von Magermasse» waren, wie Sie in einem Interview sagten?

Das interessiert mich nicht. Ich habe meine Lebensziele erreicht und durfte einiges bewegen. Aber der Wind der Geschichte wird alle Spuren verwehen.

Teil 1 des Interviews ist vor einer Woche an dieser Stelle erschienen.

Kontakt und Information: www.kieser-training.ch

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3 Kommentare zu “Wie ein Anruf um 3 Uhr die Kieser-Erfolgsgeschichte lancierte”

  1. Jürg Weiss sagt:

    Ich mache seit 1994, 2X in der Woche, Kieser resp. Exerswiss-Training. Ich hatte in dieser Zeit mehrere Operationen die ich alle gut überstanden habe. Die Aerzte bestätigten mir immer, dass ich eine gute Kondition habe. Einer sagte mir, als ich nach einer Hüftgelenkoperation nach einem REHA-Aufenthalt fragte, das brauchen sie nicht!
    Ich bin jetzt, mit 81Jahren, 8 cm kleiner als ich einmal war. Und ich bin überzeugt, dass mir mein Rücken nur dank dem Training keine grösseren Probleme macht.

  2. Jeanette sagt:

    Ich stimme dem letzten Satz nicht zu! Er wird/hat Spuren hinterlassen, die auch der Wind nicht verwehen wird. Herr Kieser hatte das Glück, sein Hobby zum Beruf machen zu können und hat trotz Rückschläge doch bewiesen, dass es sich lohnt, wieder aufzustehen, in allen Lebenslagen. So denken wahre Sportler, die nicht nur an sich und Eigennutz denken, sondern der Menschheit gleich was Nachhaltiges hinterlassen. Das kräftigt nicht nur die Muskeln, sondern auch den Geist. Die Lebensleistung von einem “alten Eisen” steht fest, wie die Berge in der Schweiz.Vielen Dank an Herrn Kieser für den…

  3. Gert von Kunhardt sagt:

    Kieser hat in der richtigen Richtung gedacht, geforscht, konstruiert und therapiert. Die Erfolge sind meßbar und beachtlich. Da kann man nur dankbar sein und gratulieren. Aber über die Nebenwirkungen – auf der molekularen Ebene – die Säuren und Gifte, die als Abfallprodukte eben anfallen, wird so gut wie nichts berichtet. Kuklinski, Rostock hat seine diesbezüglichen Studien wegen “Gesunheitsbedenken” abgebrochen und singgemäß gesagt: “Solche Belastungen sind ein Nagel zum eigenen Sarg”.