Dass Studentinnen auf elf Quadratmetern wohnen, ist keine Seltenheit – doch Linda Büchi war schon über fünfzig, als sie «das unkomfortabelste und beste Jahr» ihres Lebens in Angriff nahm. Sie hat lange gebraucht, um sich von den Erwartungen anderer zu emanzipieren, und will nun Menschen in Umbruchphasen unterstützen.
Interview: Mathias Morgenthaler
Frau Büchi, Sie haben mit 53 Jahren ihren Bachelor-Abschluss in Rechtswissenschaften erworben. Warum ist Ihr akademischer Ehrgeiz so spät erwacht?
LINDA BÜCHI: Ich habe erst sehr spät den Mut aufgebracht, meine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und das zu tun, was mich wirklich interessiert. Aufgewachsen bin ich als Einzelkind in einem streng gläubigen Elternhaus. Aus Angst vor Strafe lernte ich früh, Geboten zu folgen, mich unterzuordnen und anzupassen. Die Frage, wer ich war und was ich vom Leben erwartete, stellte sich gar nicht. Mit 17 lernte ich meinen späteren Mann kennen, mit 19 – unmittelbar nach meiner Matura – heirateten wir, dann kamen unsere beiden Söhne zur Welt und ich kümmerte mich um Haushalt und Erziehung. Ich schickte mich in diese Aufgaben, aber das Gefühl, im falschen Film zu sein, wurde über die Jahre immer stärker.
Wie schafften Sie den Einstieg ins Berufsleben?
Ich holte zunächst die kaufmännische Ausbildung nach, um bessere Chancen zu haben, dann arbeitete ich in der Personalberatungs-Firma meines Mannes mit und war vorübergehend in der Event-Branche tätig. Schliesslich kam es zum Bruch zwischen meinem Mann und mir, und als er nach der Scheidung die Firma verkaufen wollte, übernahm ich das Personalberatungs-Geschäft und führte dieses sechs Jahre lang weiter. Die Beratungsarbeit lag mir, denn die Kunden vertrauten mir und fühlten sich mit ihren Anliegen gut verstanden. Mit dem knallharten Konkurrenzkampf und dem Druck, möglichst viele rasche Vermittlungen zu erzielen, tat ich mich aber schwer, so dass ich das Geschäft nach sechs Jahren mangels Perspektiven aufgab. Das war zwar schmerzhaft, aber wichtig – so konnte ich mich zum ersten Mal in aller Freiheit mit der Frage befassen, welchen Leidenschaften ich folgen wollte.
Wo fanden Sie Antworten?
Das erste Schlüsselerlebnis hatte ich fernab der Arbeitswelt. Ich begleitete meinen älteren Sohn beim Jungfrau-Marathon. Als ich zwischen Lauterbrunnen und Wengen auf ihn wartete und ihm einen Energie-Riegel reichen konnte, wusste ich: Das will ich auch erleben. Dieses Feld von Läufern, die alle dem gleichen Ziel entgegenstrebten, faszinierte mich total – wohl auch, weil es ein so starker Kontrast zu meiner Laufbahn als Einzelkämpferin war. So entdeckte ich meine Leidenschaft für die Berge und das Marathon-Laufen. Ein Jahr später lief ich mit fünfzig erstmals den Jungfrau-Marathon. Das war ein gewaltiges Erlebnis. Und als ich mich zur Kleinen Scheidegg hochkämpfte, stand ein gutmütiger Bergler am Streckenrand und rief mir zu: «Linda, das ist eine tolle Leistung.» Nie zuvor hatte jemand zu mir gesagt: «Es ist gut, was du tust.»
Hatte das Lob dieses Unbekannten eine Bedeutung über den Marathon hinaus?
Ich sehe das Gesicht dieses Berglers heute noch vor mir. Es war für mich ein wichtiger Ansporn, meinen eigenen Weg weiterzugehen, wenn es hart wurde oder sich Zweifel meldeten. Ich hatte mich an der Fernuni Schweiz für den Bachelor in Rechtswissenschaften eingeschrieben und einen 80-Prozent-Job als Geschäftsleitungs-Assistentin gefunden. Da mich die Juristerei, die ja die Leitplanken für das Funktionieren unserer Gesellschaft vorgibt, brennend interessierte, nahm ich nach dem Bachelor gleich das Master-Studium in Luzern in Angriff. Ich musste mich stark einschränken, um mir das Präsenz-Studium leisten zu können. Zunächst wohnte ich in einer Art Wohngemeinschaft, dann in einem 11-Quadratmeter-Zimmer mit Gemeinschaftsdusche auf der Etage. Es war das unkomfortabelste und gleichzeitig das wohl beste Jahr meines Lebens. Um 5 Uhr ging ich Joggen, danach arbeitete ich den ganzen Tag in der Uni-Bibliothek, abends fiel ich müde und vor allem zufrieden ins Bett.
Warum brachen Sie das Master-Studium nach zwei Semestern ab?
Ich verlor während des zweiten Semesters meinen Teilzeitjob und fand trotz intensiver Bemühungen keine andere Stelle. In dieser schwierigen Situation bestand ich nur zwei von fünf Zwischenprüfungen. Ich hatte kein Geld, keinen Job, keine Perspektiven und war auf mich alleine gestellt. So legte ich die weiteren Studienpläne auf Eis, nahm eine Auszeit in den Bergen und konzentrierte mich danach auf die Stellensuche.
Seither sind drei Jahre vergangen – wie präsentiert sich die Situation heute?
Die Jobs, die ich in der Zwischenzeit gemacht habe, waren alle befristet. Mein Wunsch ist weiterhin, eine Anstellung zu finden, bei der ich mein juristisches Fachwissen ebenso einbringen kann wie meine Lebenserfahrung. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich – ich brauche dafür eine Portion Glück und jemanden, der mir einen Vertrauensvorschuss gibt. In dem meisten Fällen wird einfach das Stellenprofil mit dem Curriculum der Kandidaten abgeglichen, da passe ich mit meinem bunten Lebenslauf natürlich in keine Schublade. Aber es gibt zum Glück auch Chefs, die Lebenserfahrung als Ressource sehen und dankbar sind, wenn eine Quereinsteigerin mit hoher Motivation zu einem Team stösst.
Und falls das nicht klappt – haben Sie einen Plan B?
(Lacht) Ja, der heisst sogar so: Ich werde mich mit der Firma «büchi-planb» selbständig machen und Menschen in Krisen- und Umbruchphasen begleiten. Viele Menschen machen in schwierigen Situationen die Erfahrung, dass sie schubladisiert und mit Etiketten wie «gescheitert», «zu alt» oder «arbeitslos» disqualifiziert werden. Umso wichtiger ist es, dass jemand ihre Bedürfnisse und Ressourcen ernst nimmt und sie darin unterstützt, das eigene Profil zu schärfen und kreative Lösungen zu finden. Mich hat das Leben zur Expertin in diesen Fragen gemacht, denn bei mir kam sehr oft der Plan B zum Zug. Vieles ist nicht so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte, aber es ist immer wieder irgendwo ein Türchen aufgegangen. Nun hoffe ich, meiner Restbiografie noch eine vertiefte persönliche Handschrift geben zu können.
Welchen Ratschlag würden Sie im Rückblick der 16-jährigen Linda Büchi mit auf den Weg geben?
Ich würde ihr dringend dazu raten, die innere Stimme ernst zu nehmen und das zu tun, was sie lebendig sein lässt. Es ist keine gute Idee, sich den Erwartungen anderer unterzuordnen. Wenn ich mit meinen Enkelkindern unterwegs bin und sie auf ein Klettergerüst zuspringen, dann verbiete ich ihnen das nicht, sondern ermutige sie, etwas auszuprobieren, und leiste ihnen Hilfestellung. Auch mit dem Risiko, dass sie auf die Nase fallen. Es ist viel besser, zu scheitern als aus Angst davor nichts Eigenes zu versuchen.
Kontakt:
Liebe Frau Büchi,
Sie beschreiben genau meine Situation bei der Stellensuche und ich möchte sie gerne kennenlernen.
Rufen Sie mich gelegentlich an. 079 934 27 01.
Mit freundlichen Grüßen
Luciana Pfäffli-Colombo
Chapeau. Ihnen Frau Büchi wünsche ich alles gute mit Ihrem Plan B Unternehmen. Und dass sich immer wieder ein Türchen öffnet. Man muss es nur rechtzeitig sehen. Dies hat sich auch für mich so ergeben. Ist immer wieder inspirierend solche Interviews zu lesen.
Liebe Frau Büchi,
auch ich habe mich mit fast 50 Jahren für das Wintersemester 2017 in das Studium der Rechtswissenschaften mit Bachelorabschluss und anschließenden jur. Staatsexamen eingeschrieben. Es ist ein Fernstudium, dass ich durch meinen Vollzeitjob nur im Teilzeitstudium schaffe. Wenn alles gut läuft, bin ich dann 60 Jahre . Aber ich freu mich riesig drauf. Denn mit 60 will ich in “Rente”. So nenne ich meine Kündigung, die mich dann endlich von der Angestellten und auf Anpassung und Erfolg getriebenen stellvertretenden Geschäftsführerin zur eigenen Herrin meines Lebens macht.