
Experimentalphysikerin Ille Gebeshuber will nicht nur in einer Disziplin glänzen. Foto: Fotostudio Wilke, 1010 Wien.
Die Wiener Physikerin Ille Gebeshuber war schon als Kind lieber in der Natur als im Klassenzimmer. Nach ihrer Habilitation brach sie auf zu einer Expedition in Malaysias Regenwald. Im Dschungel entdeckte die Forscherin nanotechnologische Wunderwesen, welche die industrielle Produktion revolutionieren könnten.
Interview: Mathias Morgenthaler
Frau Gebeshuber, Sie haben eine glänzende Karriere als Wissenschaftlerin hingelegt und waren bis 2009 Experimentalphysikerin in Wien. Wie hat es Sie in den malaysischen Regenwald verschlagen?
ILLE GEBESHUBER: Mein Mann erhielt ein wunderbares Job-Angebot und ich begleitete ihn in die Tropen. Der Start war für mich sehr frustrierend. Ich fand zwar eine gute Stelle als Professorin am Institut für Mikroingenieurswissenschaften und Nanoelektronik in Malaysia, aber die meisten Arbeitsinstrumente funktionierten nicht und niemand machte Anstalten, sie zu reparieren. In einer Gegend, wo die Leute nur die Hand ausstrecken müssen, um eine frische Mango zu ernten, ist Instandhaltung nicht besonders ausgeprägt. Ich fürchtete, meine wissenschaftliche Karriere werde zerstört, lenkte mich eine Weile mit dem guten Essen und Shopping ab und begann dann zu schreiben. Erst viel später begriff ich, dass die herausfordenden Bedingungen an der Universität ein Glücksfall waren für mich.
Ein Glücksfall?
Ich kam dadurch in Kontakt mit Menschen, die Expeditionen in den Regenwald durchführten, und bald unternahm ich eigene Streifzüge durch den Dschungel – mit dem einzigen konkreten Ziel, so langsam wie möglich unterwegs zu sein, die Sinne zu schärfen und zu lernen von der Natur. Schon Leonardo da Vinci liess sich für seine Fluginstrumente von Vögeln inspirieren. Später wären Erfindungen wie der Klettverschluss oder selbstreinigende Wände nicht möglich gewesen ohne sorgfältige Naturbeobachtungen. Doch die moderne, hoch spezialisierte Forschung läuft Gefahr, vor lauter Detailexpertise den Blick für das grosse Ganze zu verlieren. Dabei wäre es heute wichtiger denn je, von der Natur zu lernen und ihre Prinzipien zu nutzen für eine industrielle Produktion, die im Einklang mit der Natur steht statt sie zu zerstören.
Wurden Sie im Urwald zur ökologischen Aktivistin?
Jeder, der einen Funken Verstand und einen gewissen Freiraum hat, muss doch zum Aktivisten werden in dieser Zeit. Je mehr Autos, Häuser und Computer wir auf konventionelle Art und Weise bauen, desto mehr Lebewesen sterben aus, desto härter wird es künftige Generationen treffen. Wir leben längst auf Pump. Wir stehen mitten im Anthropozän, im von Menschen geprägten Erdzeitalter, aber wir stellen uns der damit verbundenen Verantwortung nicht und tun viel zu wenig, um die Auswirkungen unserer Lebensweise in den Griff zu bekommen. Wir hätten alle Möglichkeiten, intelligenter und verantwortlicher zu leben, aber wir tun es nicht, weil wir nicht in grossen Zusammenhängen denken oder an unseren Strukturen festhalten. Das sieht man nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Wissenschaft: Belohnt werden die Anzahl der Publikationen, die Menge der eingespielten Fremdmittel, nicht Dinge wie Engagement und disruptive Innovation. Ich will nicht in diesem System glänzen, sondern die Entwicklung von Technologien vorantreiben, welche die negativen Auswirkungen unserer Wirtschaft und Lebensweise abfedern.
Inwiefern waren die Regenwald-Streifzüge da hilfreich?
Ich habe im Dschungel beispielsweise Farne gesehen, die wunderbar blau leuchteten, nach der Trocknung aber keinerlei Farbpigmente aufwiesen. Die Farbe war also eine Illusion, erzeugt durch eine spezielle Struktur. Oder Schmetterlingsflügel, die selbstreinigend waren, auf denen das Wasser in vorgegebener Richtung abfloss und Honig nicht haften blieb. Lauter nanotechnologische Wunderwesen, von einer Kunstfertigkeit, wie sie der Mensch bis anhin nicht erreicht hat. Einer Doktorandin von mir gelang es in der Folge, einen Stempel herzustellen zur Erzeugung selbstreinigender Strukturen. Das galt als unmöglich, ich hätte dafür niemals Forschungsgelder bekommen, aber wir kamen in fünf Jahren so weit, dass eine industrielle Anwendung greifbar wurde.
Welche anderen Anwendungsfelder für natürliche Strukturen haben Sie entdeckt?
Wer sich auf Naturbeobachtung mit allen Sinnen einlässt, findet Inspiration ohne Ende und fühlt gleichzeitig die immense Verantwortung, etwas gegen die Zerstörung all dieser Wunder zu tun. Allein im Bereich «Struktur statt Material» gibt es unzählige Anwendungsfelder. Nicht nur der Farbeffekt kann mit Struktur statt Material erreicht werden, sondern es können auch viele Metallkonstruktionen durch leichtere Stützstrukturen aus Horn oder Bambus ersetzt werden. Der nächste Schritt wird sein, solche Strukturen gezielt wachsen zu lassen und damit Metalle zu ersetzen. So sollte es eines Tages auch möglich sein, Knochen nachzubilden. Wir wissen heute, dass Kalkalgen, welche weniger als ein Milliardstel Gramm wiegen, durch Biomineralisation Gewebestrukturen schaffen, die architektonische Meisterwerke sind. Das könnte sich für die Bildung von Zähnen und Knochen als überaus wertvoll erweisen.
Sie sind nun seit gut einem Jahr wieder zurück in Wien und forschen hier an der Universität. Mit welchem Plan?
Ich arbeite mit all meiner Kraft darauf hin, dass künftige Generationen eine lebenswerte Welt vorfinden werden. Am meisten kann ich bewegen, wenn ich nicht als Spezialistin agiere, sondern als Generalistin mit einem anerkannten Leistungsausweis im Bereich Physik und Bionik. Derzeit strecke ich die Fühler aus in Richtung Wirtschaftswissenschaften, weil ich dort die Hebel finde, um über Technologie Wesentliches zu bewegen.
Woher kommt Ihre Unerschrockenheit bei allem, was Sie tun?
Ich fand es schon als Kind uninteressant, Dinge zu lesen, die alle anderen schon wussten. Während andere Kinder Freifächer besuchten, unternahm ich mit unserem Kater Streifzüge in die Natur. Ich stamme aus einem kleinen Dorf in der Steiermark, mein Vater war technischer Angestellter in der Stahlindustrie, meine Mutter Hausfrau, kaum ein Kind ging länger als bis zum 15. Lebensjahr in die Schule. Ich schrieb mit 10 Jahren die beste Prüfung des ganzen Bundeslandes und durfte danach aufs Gymnasium statt später Kassierin zu werden im örtlichen Supermarkt. Das kleine Mädchen, das nachts in den Himmel geschaut hatte und sich gewundert hatte, wie viele Sterne es gab, verstand mit der Zeit, dass die Sterne unterschiedlich weit weg sind, dass sie beim Blick in den Himmel verschiedene Zeiten sah, auch Lichter von nicht mehr existierenden Sternen. Ich war verzaubert von dieser Welt und dankbar, dass ich das alles erforschen durfte. So entschied ich mich, etwas möglichst Schwieriges zu studieren, technische Physik. Die Ausfallquote von 78 Prozent hat mich magisch angezogen. Ich wollte und will ein Maximum aus meinen Möglichkeiten herausholen.
Kontakt und Information: www.ille.com
Das Buch: Ille C. Gebeshuber: Wo die Maschinen wachsen. Wie Lösungen aus dem Dschungel unser Leben verändern werden. Ecowin Verlag 2016.