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4646 Kilometer auf der Spur der Freiheit

Mathias Morgenthaler am Samstag den 26. November 2016
Kein Mensch nirgends: Christoph Rehage auf seinem Marsch durch die Wüste.

Kein Mensch nirgends: Christoph Rehage auf seinem Marsch durch die Wüste.

4646 Kilometer hat Christoph Rehage zu Fuss in China zurückgelegt. Eigentlich wollte er bis nach Deutschland marschieren, doch eine Nachricht seiner Freundin liess ihn das Vorhaben abbrechen. Als er scheinbar alles verloren hatte, entdeckte er etwas, wonach er in China vergeblich gesucht hatte: ein Gefühl von Freiheit. Seine Geschichte berührt Millionen von Menschen.

Interview: Mathias Morgenthaler

Herr Rehage, Sie sind an Ihrem 26. Geburtstag in Peking aufgebrochen, um zu Fuss nach Norddeutschland zurückzukehren. Wie ist es Ihnen ergangen in den ersten Tagen?

CHRISTOPH REHAGE: Für den Körper war es brutal, ein einziges Abschaben und Reiben. Es war keine gute Idee gewesen, 30 Kilo Material in den Rucksack zu packen. Trotz der Schmerzen verspürte ich aber rasch eine grosse Euphorie. Es war für mich sehr befreiend, kein Zuhause mehr zu haben und zu wissen: Meine Welt ist, was in diesen Rucksack passt. Es gab eine klare Ordnung, alles war wohltuend einfach und überschaubar – nicht nur die Ordnung im Rucksack, sondern auch mein Job. Er bestand darin, mit diesem Schneckenhaus am Rücken jeden Tag ein Stück voranzukommen. Die anfängliche Angst war schnell weg und ich freute mich, wenn ich am Abend wieder 26 Kilometer geschafft hatte.

Gab es keine Momente der Angst?

Am Anfang war ich sehr misstrauisch, weil ich fürchtete, man würde mich ausrauben. Wenn ich für 2 Euro in einer Truckerherberge übernachtete, nahm ich stets alle Wertsachen mit auf die Toilette oder in die Duschräume. Als ich später einen ersten Freund traf, blieb ich unnötig lange auf Distanz, weil mir sein freundliches Verhalten verdächtig vorkam. Dann wurde mir aber klar, dass ich in diesem Kontrollmodus nicht weit kommen würde. Ich überwand mich, mehr auf mein Bauchgefühl zu vertrauen, und durfte erfahren, dass die Intuition Dinge versteht, von denen der Verstand keine Ahnung hat.

Welches waren die gefährlichsten Momente Ihrer Reise?

«Wenn du 25 Kilometer gewandert bist, erscheinen dir ein Hocker und eine Tasse Tee als kleines Paradies.»

«Wenn du 25 Kilometer gewandert bist, erscheinen dir ein Hocker und eine Tasse Tee als kleines Paradies.»

Die grösste Gefahr ging stets vom Verkehr aus. Wenn ich durch enge Tunnels marschieren musste, fühlte ich mich ohnmächtig. Ein paar Mal verlief ich mich mit wenig Proviant in den Bergen, einmal sagten mir Einheimische am Morgen nach einer Zeltübernachtung, in diesem Gebiet seien viele Schneeleoparden angesiedelt. Insgesamt ist China aber ein sehr sicheres Reiseland, wenn man seinen siebten Sinn ein wenig geschult hat. Zudem erlebte ich sehr viel Unterstützung. Wenn du zu Fuss unterwegs bist, sehen die Leute leicht deine Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Sie lassen sich berühren von deiner mühevollen Fortbewegungsart und tun alles, um deine elementaren Bedürfnisse wie Trinken, Essen und Schlafen zu stillen. Man wird sehr anspruchslos und auch das hat etwas Reinigendes. Wenn du 25 Kilometer gewandert bist, erscheinen dir ein Hocker und eine Tasse Tee als kleines Paradies.

Sie sprachen am Anfang von der Gefahr, solche Abenteuer nachträglich zu verklären. Hand aufs Herz, haben Sie Ihr Vorhaben nicht auch oft verflucht?

Aber sicher, immer wieder. Ich habe viele Momente unglaublicher Langeweile erlebt auf nicht enden wollenden Strassen. Und immer wieder meldeten sich Selbstzweifel, Zorn, Wut und Traurigkeit. Dann fragte ich mich, warum ich ein bis zwei Jahre meines Lebens wegwerfe für ein durch und durch sinnloses Unterfangen. Und dann, ohne dass ich Antworten auf solche Fragen gefunden hätte, kippte die Stimmung wieder in eine berauschende Euphorie. Ich erlebte jede einzelne Emotion viel intensiver als im europäischen Alltag, weil ich so viel Zeit hatte und so wenig Ablenkung.

Sie wollten von Peking bis in Ihr Heimatdorf in Norddeutschland wandern. Warum haben Sie das Unterfangen nach einem Jahr und 4646 Kilometern abgebrochen?

Ich hatte mich in Peking in ein chinesisches Mädchen verliebt. Sie hatte sich für ein Studium in München eingeschrieben, an jener Uni, von der ich nach Peking geflohen war. Als Juli, meine Freundin, nach München flog, sagte ich zu ihr: «Warte dort auf mich, ich komme dir nach, aber das wird dauern.» Für mich war dieses Gefühl elementar wichtig, dass in Deutschland jemand auf mich wartete, dem ich all meine Geschichten erzählen konnte. Wir waren während meines Fussmarschs immer wieder in Kontakt, so gut es das Funknetz eben erlaubte. Dann erreichte mich eines Tages ihre Nachricht, sie warte jetzt nicht mehr länger auf mich, es sei vorbei. Dadurch verlor mein ganzes Unterfangen auf einen Schlag seinen Sinn.

Der Sinn Ihrer Reise bestand darin, dass in Deutschland eine Frau auf Sie wartete?

Sagen wir es so: Durch die Nachricht meiner Freundin wurde mir klar, dass ich kein Gefühl für diese Reise hatte. Zuvor war alles auf Prinzipien aufgebaut, die ich eisern verfolgte: Täglich marschieren, keine Verkehrsmittel benutzen, den Bart wachsen lassen, bloggen, jeden Tag die Füsse waschen und Socken wechseln. Dann fiel dieses disziplinierende Regelwerk wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Mir wurde klar, dass ich keine Ahnung hatte, was ich eigentlich wollte, und dass die Fortsetzung der Reise zu einer komplett inhaltslosen Durchhalteübung verkäme. Ich marschierte weiter in die nächste Stadt, Ürümqi, liess mir dort den Bart abschneiden und die Kleider in Ordnung bringen, und flog zurück nach München. Ich wollte Juli sehen und für meinen Fall plädieren.

Hatten Sie Erfolg?

Sie hörte sich das an und sagte mir dann, das ändere nichts an ihrer Entscheidung, wir würden uns nie mehr sehen. Danach fühlte ich mich verlorener als im Zelt in der Wüste Gobi. In München konnte ich nicht bleiben, in mein Heimatdorf wollte ich nicht zurückkehren nach dieser Schmach. Also entschied ich mich, für eine Weile bei der Familie eines Grossonkels in der Eifel zu leben. Und dort fühlte ich mich, obwohl doppelt gescheitert, plötzlich seltsam befreit. Ich hatte stets immense Angst vor dem Scheitern gehabt und mir auch deshalb rigide Prinzipien auferlegt für meinen Marsch von Peking nach Hause. Mein Vorhaben hatte mich zum Abenteurer gemacht, aber mein Verhalten war das eines Buchhalters gewesen. Ich war zwar draussen in der Wildnis gewesen, aber gleichzeitig gefangen in meinem Korsett, komplett unfrei.

Und was haben Sie mit dieser Freiheit angefangen?

Ich produzierte ein Video von meiner Reise. Als ich es online publizierte, löste das ein immenses Echo aus. Ich erhielt endlos viele Zuschriften, wurde in TV-Sendungen eingeladen, erhielt von mehreren Verlagen Anfragen, ob ich ein Buch schreiben möchte. So erfüllte sich mein heimlicher Wunsch, Bücher zu schreiben. Später setzte ich meinen Fussmarsch fort, hängte 500 Kilometer an, weniger zwanghaft als früher. Nun werde ich die Route in Kasachstan fortsetzen, später die usbekische Stadt Samarqand und Istanbul besuchen. Das Schöne ist, dass ich mir auf diesen Reisen nichts mehr beweisen muss – ich bin ja schon gescheitert und habe deshalb nichts mehr zu verlieren.

Ihr Video über Ihren Fussmarsch durch China ist über 12 Millionen Mal angeschaut worden. Wie erklären Sie sich dieses Echo?

Diese bärtige Robinson-Crusoe-Figur eignet sich wunderbar für alle möglichen Projektionen. Die Leute sehen mir zu und erkennen darin einen Teil von sich selber – den Abenteurer, den Heimatlosen, den Künstler, den Liebenden. Wie stark die Projektionen sind, zeigt sich daran, dass die Absender der Mails oft auf Dinge Bezug nehmen, die gar nicht vorkommen in meinem Film. Lustigerweise sind viele, die mir schreiben, 17-jährig. Wenn sie mich um einen Rat bitten, antworte ich ihnen: «Ein Abenteuer ist eine gute Sache, aber du musst keine Gipfel erklimmen oder Wüsten durchqueren, du kannst direkt vor deiner Haustür starten.» Bevor ich selber zum Autor wurde, habe ich über 100 Bücher aus dem Genre der Reiseliteratur gelesen. Das eindrücklichste war «Deutschland umsonst» vom Michael Holzach. Der Autor ging ohne Geld zu Fuss durch Deutschland. Kein Superman, keine Superlativen, aber ein unglaubliches Abenteuer.

Kontakt und Information: www.thelongestway.com

Vortragsreise durch die Schweiz: www.explora.ch/programm/the_longest_way

Teil 1 des Interviews ist vor einer Woche an dieser Stelle erschienen.

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Ein Kommentar zu “4646 Kilometer auf der Spur der Freiheit”

  1. Severin sagt:

    “Schicke deinem Feinde ein Weib zu seinem Verderben. Es hält ihn besser auf als deine Kanonen.” – Guillaume de Galménique, 1634-1732