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«Man sucht sich seine Aufgaben nicht aus»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 17. Oktober 2015
Manuel Bauer, Fotograf jenseits der Komfortzone.

Manuel Bauer, Fotograf jenseits der Komfortzone.

Der gelernte Werbefotograf Manuel Bauer fand über die Jahre zu einer Aufgabe, die weit über das Fotografieren hinausgeht. Zuletzt half er beim Umzug eines ganzen Dorfs in Nepal mit. Davor dokumentierte er eine Flucht aus Tibet und begleitete vier Jahre lang den Dalai Lama. «Nichts hat so viel Kraft wie das richtige Projekt zur richtigen Zeit», sagt der preisgekrönte Fotograf.

Interview: Mathias Morgenthaler

Herr Bauer, warum haben Sie sich als Fotograf in den letzten 25 Jahren immer wieder mit Tibet auseinandergesetzt?

MANUEL BAUER: Seit meinen ersten Recherchen in den 1980-er Jahren hat mich die Geschichte dieses Volkes, das ohne völkerrechtliche Grundlage sein Land verloren hat und seither von China beherrscht wird, nicht mehr losgelassen. Weil China die Medien zensuriert, ist es sehr schwierig, die Gewalt zu dokumentieren, unter der das tibetische Volk leidet. Es liegt auf der Hand, dass ich als Fotograf keinen Zugang bekomme zu den chinesischen Foltergefängnissen. So ist über die Jahre der Entschluss gereift, ein anderes Projekt zu wagen: Die Dokumentation einer Flucht. Meine Idee war: Wenn ich zeigen kann, welche Risiken Menschen auf sich nehmen, um ihr geliebtes Land und einen Teil der Familie zurückzulassen, dann sagt das viel über die Zustände im besetzten Gebiet aus.

Sie haben einen Vater und seine sechsjährige Tochter beim siebentägigen Fussmarsch über den 5700 Meter hohen Nangpa-Pass nach Nepal begleitet. War Ihnen klar, dass Sie dabei Ihr Leben aufs Spiel setzen?

Ja, das war mir vollauf bewusst. Es war eine Mischung aus politischer Motivation und Empathie, die mich dazu bewog, dieses Risiko in Kauf zu nehmen. Ab einem gewissen Punkt fühlte ich mich sogar dazu verpflichtet. Wir sind uns gar nicht bewusst, welch ein Privileg es ist, darüber entscheiden zu können, ob wir unser Leben aufs Spiel setzen für eine wichtige Sache. Die Tibeter stehen nie vor dieser Frage, sie werden in lebensgefährliche Umstände hineingeboren. Das Projekt begleitete mich über Jahre, zwischenzeitlich verdrängte ich es erfolgreich, dann meldete es sich zurück. Man sucht sich seine Aufgaben ja nicht aus, es sind die Aufgaben, die einen finden. Eines Tages gab ich den Widerstand auf, machte mich an die Planung. Ich hätte aber nie geglaubt, dass ich allein einen Vater und ein Mädchen begleiten könnte. Das war eine einmalige Chance, die mir das Schicksal da gegeben hatte.

Viele sind bei der Flucht erschossen worden oder erfroren, andere mussten sich Körperteile amputieren oder sich gefangen nehmen lassen. Haben Sie das alles ausgeblendet?

Ich spürte von Anfang an, wie stark diese Geschichte wird, welche Resonanz sie haben kann. Das gab mir Kraft. Zudem tröstete ich mich mit dem Gedanken: «Wenn das Schicksal, das mir diese einmalige Chance gibt, mich hier umkommen lässt, dann will ich ohnehin nichts mehr mit ihm zu tun haben.» Aber meine grösste Sorge galt nicht mir, sondern dem Vater und dem Kind. Ich hätte es mir nicht verziehen, wenn meine fotografische Begleitung ihre Flucht vereitelt hätte. Nach einigen Tagen macht man sich sowieso keine Gedanken mehr. Wegen der enormen Strapazen waren wir sozusagen im Automatik-Modus unterwegs. Wir waren 16 Stunden pro Tag bei -20 Grad am Gehen, ohne Rast fürs Essen und Trinken. Ich erinnere mich noch, dass ich plötzlich wütend wurde auf das Mädchen, weil es im Gegensatz zu uns nichts schleppen musste – das zeigt, in welch erbärmlichem Zustand ich war. Auch dachte ich, ich hätte im Gebirge kaum mehr fotografiert, und staunte später in der Dunkelkammer über die vielen Aufnahmen.

Stehen Sie 20 Jahre danach noch in Kontakt mit den beiden Menschen, die Sie damals begleitet haben?

Ja, die junge Frau und ich sind noch heute verbunden. Wir treffen uns meistens, wenn ich in Indien bin.

Zwischen 2001 und 2005 haben Sie vier Jahre lang den Dalai Lama als eine Art Hoffotograf begleitet. Wie kam es dazu und was wollten Sie mit dieser Arbeit erreichen?

Auch dieses Projekt hatte eine lange Vorlaufzeit. Ich fotografierte den Dalai Lama seit 1990 immer wieder als Funktionsträger. Dabei merkte ich: Es werden immer ähnliche Bilder von ihm publiziert: der lachende Mönch, der in eine Menschenmenge winkt. Mir wurde bewusst, dass ein wichtiger Teil seiner Persönlichkeit nicht greifbar, nicht dokumentiert worden war. Mir ging es nicht um weitere historische Bilder, sondern um die Ikone, die Halt gibt und Hoffnung spendet. Es vergingen sieben Jahre, bis alles passte und wir die Zusammenarbeit beginnen konnten.

Wie konnten Sie an der Seite eines so prominenten Menschen arbeiten?

Es war eine grosse Herausforderung. Selbst als offiziell zugelassener Fotograf unterliegt man ja dem Berufsfluch, dass man eigentlich keinen Platz hat und immer im Weg ist. Man muss alles berücksichtigen, das Sicherheitsdispositiv, die Protokolle, die Logistik, die ungeschriebenen Gesetze. Grundsätzlich war es ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz. An sich war es ein unpolitisches Projekt, eine Portraitaufgabe, aber natürlich wollte ich mit den Bildern auch in Erinnerung rufen, dass in Tibet 6 Millionen Menschen unterdrückt werden. Es darf aber nie in blinde Propaganda abdriften, denn im Kern bin ich Journalist, der sich immer wieder die Frage stellt, ob er aufrichtig ist in dem, was er macht. Glücklicherweise vertrug sich diese kritische Haltung gut mit der Persönlichkeit des Dalai Lama. Ich kenne niemanden, der so authentisch, weise und humorvoll ist wie er. Am Anfang war ich sehr verkrampft und pflichtbewusst, später liess ich mich von seiner Lockerheit ein wenig anstecken und war nicht nur Hoffotograf, sondern manchmal auch ein Stück weit Hofnarr.

Sie haben in vier Jahren über 75’000 Fotos gemacht – wie behält man die Übersicht in einer solchen Flut?

Indem man sich viel Zeit nimmt für Sichtung und Auswahl. Damals habe ich noch analog fotografiert, heute im digitalen Zeitalter wären es bestimmt zehn Mal so viele. Ich war schon immer der Sammler-Typ. Ich entscheide erst hinterher bei der Auswahl, was gut und gültig ist. Das hängt auch damit zusammen, dass die Intuition bei der Arbeit im Feld eine wichtige Rolle spielt. Man muss logistisch und inhaltlich alles im Griff haben, wissen, wer wann mit wem in welchen Raum tritt, aber das allein reicht nicht. Gute Fotos gelingen mir nur, wenn ich im entscheidenden Moment alles ausblenden kann, wenn ich ganz durchlässig bin und mitschwinge. Deswegen mag ich auch die schlichten Bilder, die stark von der Stimmung leben, besonders. Als ich den Dalai Lama an seinem spirituellen Rückzugsort besuchte, wo er drei Wochen lang mit niemandem ein Wort geredet hatte, spürte ich sofort, wie sehr er in sich gekehrt war. Es ist eine delikate Sache, dann mit einem Fotoapparat in den Raum zu treten und womöglich noch mit zitternden Händen das Objektiv zu wechseln. Aber es hat sich gelohnt. Auf manchen Bildern – so habe ich den Eindruck – zeigt sich auf seinem Antlitz etwas vom Inneren.

Sind Sie nach Abschluss des Projekts in ein Loch gefallen?

Ja, da spürte ich eine grosse Leere. Ich hätte über die vier Jahre hinaus mit ihm unterwegs sein können, das Projekt wäre finanziert gewesen. Aus privater Sicht sprach nichts dagegen, aber als Fotograf fragte ich mich: Bringt das der Welt etwas? Gelingen mir dadurch noch bessere Bilder? Ich fand keine Legitimation für eine Verlängerung des Projekts, also musste ich mich vom Dalai Lama emanzipieren. Ich fotografierte ihn in der Folge immer wieder, aber es rückten andere Dinge in den Mittelpunkt.

Gehört das zu Ihnen, dass Sie immer wieder den schwierigen Weg wählen?

Status, Komfort und Sicherheit sind schöne Sachen, aber nichts hat so viel Kraft wie das richtige Projekt zur richtigen Zeit. Ich fühlte mich zwischenzeitlich ein wenig wie damals, als ich bei den Eltern ausgezogen war: Man gewinnt Freiheit, weiss aber anfänglich nichts damit anzufangen und kommt punktuell immer wieder auf Besuch. Das Wichtigste war für mich stets, etwas zu lernen, mich weiterzuentwickeln. Und tatsächlich fand mich auch dieses Mal ein neues Projekt. Ich entdeckte ein Dorf mit 85 Bewohnern im nepalesischen Hochland, die wegen des Klimawandels ihre Lebensgrundlage verloren hatten. Die Bewohner mussten mangels Schmelzwasser umziehen, hatten aber kein Geld und als Selbstversorger auch keine Zeit für ein solches Projekt. Über eine Reportage im «Magazin» gelang es, 1000 Spender zu finden, die eine halbe Million Franken einbrachten. Der Umzug ist inzwischen über die Bühne gegangen, im Mai sind die 18 neuen Bauernhäuser am neuen Standort der Dorfbevölkerung übergeben worden. Ich habe keine Sekunde bereut, alle Kraft in dieses Projekt gesteckt zu haben.

Fragen Sie sich manchmal, wie lange Sie noch die Energie für diese Arbeitsform aufbringen?

Ich versuche vom Privileg, in der Schweiz geboren zu sein, etwas zurück zu geben, mich zu engagieren. Ich habe keine Altersvorsorge und mag meine Kräfte nicht einteilen. Ich investiere Geld und Energie immer in das aktuelle Projekt. Im schlimmsten Fall muss ich gegen Ende meines Lebens ins Armenhaus und bekomme täglich eine Suppe – die hätte ich verdient, finde ich. Perfekt wäre es, wenn ich mir dann noch ein Billet leisten könnte, um ab und zu in die Berge zu fahren. Ich bin da relativ unbesorgt, denn es hat mir noch nie wirklich an etwas gefehlt. Ich lebe zum Beispiel seit 11 Jahren mit meiner Familie in einem Haus, das meine Verhältnisse weit übersteigt, und zahle die monatliche Miete in Form eines Bildes. Solche Tauschgeschäfte sind viel beglückender, als sich mit Geld irgendwelchen Luxus zu kaufen.

Bildstrecke: http://www.derbund.ch//wirtschaft/karriere/bildstrecke.html?id=206917

Kontakt und Information:
www.manuelbauer.ch

Vortragstournée ab 23. November: www.explora.ch/programm/himalaya_dalai_lama

Zum Projekt «Sam Dzong: Ein Dorf zieht um»: http://samdzong.org/

Teil 1 des Interviews ist vor einer Woche an dieser Stelle erschienen.

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3 Kommentare zu “«Man sucht sich seine Aufgaben nicht aus»”

  1. Im Zusammenhang mit Berufung halte ich diesen Satz für entscheidend: “Man sucht sich seine Aufgaben ja nicht aus, es sind die Aufgaben, die einen finden.” Und ich möchte hinzu fügen, es ist niemals einfach, dem Ruf des Lebens zu folgen. Berufung ist nicht’s was man überstülpen oder designen kann, es kommt von aussen sozusagen als Ruf des Lebens.

  2. Irene feldmann sagt:

    Vielen Dank für die proportionen des Lebens, die dorfumsiedlung ist einfach beeindruckend!!!!!

  3. Frau Sonnenschein sagt:

    Vielen Dank für das Interview mit Manuel Bauer – eine interessante Person. Ich schätze sein Engagement sehr. Letztes Jahr hat mir meine Mutter den Artikel im Magazin, über das nepalesische Dorf, gezeigt. Darauf hin konnte ich die Mitarbeiter der Firma, für die ich arbeite, zu einer Spende mobilisieren, was mich sehr freute. Das war letztes Jahr an der betrieblichen Weihnachtsfeier. Nochmals vielen Dank.