Sie hatte alles, und doch war sie seltsam unzufrieden. So entschloss sich Jannike Stöhr, ihre Konzernstelle gegen ein Abenteuer einzutauschen. Nach 30 Jobs in einem Jahr hat die 28-Jährige ihren Traumjob zwar noch immer nicht gefunden, aber die Unruhe ist weg. Und obwohl sie derzeit keine Pläne und kein geregeltes Einkommen hat, fühlt sich Stöhr sicher und voller Zuversicht.
Interview: Mathias Morgenthaler
Frau Stöhr, Sie haben vor gut einem Jahr eine Odyssee durch die Arbeitswelt angetreten und danach in zwölf Monaten 30 Jobs ausprobiert. Warum haben Sie Ihre gut dotierte Stelle in der HR-Abteilung eines Industriekonzerns aufgegeben?
JANNIKE STÖHR: Diese Entscheidung stand am Ende einer längeren Entwicklung. Ich hatte eine Ausbildung zur Kauffrau absolviert, einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften erworben und danach fünf Jahre Konzernerfahrung mit einem Abstecher nach Peking gesammelt. Ich konnte mich nicht beklagen, aber immer wieder meldete sich eine Stimme, die sagte: Du bist am falschen Ort! Dir fehlt etwas!
Und da haben Sie kurzerhand die Stelle aufgegeben?
Nein, ich versuchte vorher alles Mögliche: Ich las Ratgeber, suchte mir tolle Hobbys und Ehrenämter, legte mir einen Garten an, unternahm viele Reisen inklusive Jakobsweg, übernahm im Unternehmen mehr Verantwortung, stürzte mich erst in den Konsum und übte mich später in Konsum- und Medienverzicht. Doch was auch immer ich tat, das mulmige Gefühl blieb und machte mich verrückt. Ich hatte alles, und doch fehlte mir etwas. Dann erkrankte mein Vater überraschend an Krebs, was mich zusätzlich ins Grübeln brachte. Ich las viele Bücher über das Leben und Sterben, unter anderem das der australischen Palliativschwester Bronnie Ware: «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen». Da reifte mein Entschluss, meinen Job vorübergehend an den Nagel zu hängen, aber ich hatte keine Ahnung, was ich stattdessen tun sollte.
Wie haben Sie es herausgefunden?
Zunächst liess ich mich für drei Jahre freistellen. Da war ich noch ohne Plan, ich wollte einfach das Gewohnte loslassen und mich unter Entscheidungsdruck stellen. Erst wollte ich mich für die Zulassung zum Masterstudium bewerben, doch dann las ich in einem Buch von einer Belgierin, die in einem Jahr 30 Jobs ausprobiert hatte. Ich wusste in diesem Moment sofort: Das ist es.
Wie organisiert man sich 30 Jobs in einem Jahr?
Zunächst baute ich meinen Blog auf, damit die Leute, die ich anfragte, mein Projekt verstanden und sahen, dass ich nicht einfach eine Spinnerin bin. Weiter fällte ich den Grundsatzentscheid, dass Geld oder Arbeitsort keine Rollen spielen dürfen. Entscheidend war, dass ich Menschen begleiten konnte, die mit Leidenschaft ihrer Arbeit nachgingen. Klar war zudem, dass ich jeweils eine Woche im gleichen Job blieb und dann ein paar Tage Übergangszeit hatte bis zum nächsten. Zuerst fragte ich mich: Was wollte ich früher werden? Was haben mir andere vorausgesagt? Was interessiert mich alles? So kamen 14 Jobs zusammen. Dann erhielt ich viele Empfehlungen aus meinem Freundeskreis und via Blog, so dass die 30 Jobs leicht zu erreichen waren.
Sie waren als Kleinkindererzieherin in Lehrte tätig, als Reiseleiterin in Münster, als Biobäuerin in Emden, als Pathologin in Leipzig, als Tierpräparatorin in Wien, Opernagentin in Wiesbaden, Pastorin in Berlin, Hebamme in Bayreuth und Politikerin in Brüssel. Welche Erlebnisse ragen im Rückblick heraus?
Besonders prägend war das Gefühl, überall mit offenen Armen empfangen worden zu sein und sehr schnell viel gelernt zu haben. Jede Station war lehrreich. Emotional war es eine Achterbahnfahrt. Manchmal fand ich es grossartig, ganz Deutschland plus Wien und Brüssel kennenzulernen und auf den Sofas von Freunden oder Fremden zu übernachten. Zeitweise war ich aber sehr erschöpft, vermisste meine Familie und Freunde und fragte mich, wozu das alles gut sein soll. Zu den Highlights gehörte sicher, dass manche Arbeitgeber mich anfragten, ob ich nicht bei ihnen schnuppern möchte. Ich werde nie vergessen, wie ich in meiner Zeit als Tierpräparatorin am Naturhistorischen Museum in Wien auf dem Dach dieses imposanten Gebäudes mit dem ganzen Team die Sonnenfinsternis und den Geburtstag des Direktors gefeiert habe.
Was hat Sie dazu veranlasst, den Pathologen-Beruf auszuprobieren?
Einmal fragte ich die Leser meines Blogs, welchen Job ich noch testen soll. Als die Wahl auf die Pathologie fiel, schluckte ich dreimal leer. Es war ein happiges Praktikum, aber ich habe seither eine andere Sicht auf unseren Körper und halte es nicht mehr für selbstverständlich, dass alles funktioniert. Natürlich konnte ich nicht bei allen Jobs gleich viel selber machen, phasenweise fühlte ich mich eher als Jobtouristin denn als Arbeitskraft. Aber schon nur diese Vielfalt zu erleben, war sehr wertvoll. Die meisten Menschen üben in ihrem Leben zwei, drei, vielleicht vier Berufe aus – viele hätten Lust, noch ganz Anderes zu entdecken. Mir wurde das bewusst anhand der zahlreichen Mails von Berufsleuten, die sich nicht trauten, etwas an ihrer Situation zu ändern.
Hat sich das Experiment also gelohnt?
Anfänglich dachte ich, ich wüsste nach diesem Jahr, welches mein Traumjob ist und was ich nun tun werde. Das ist nicht der Fall – und dennoch hat sich für mich alles verändert. Das Gefühl, ich sei am falschen Ort und mir fehle etwas, ist komplett weg. Ich fühle mich heute überall wohl, wo ich zu Gast bin, spüre eine innere Sicherheit und Zuversicht. Dabei lebe ich materiell viel unsicherer als vorher, habe ich doch die Wohnung aufgelöst und meinen Besitz verkauft vor Beginn meines Projekts. Das Wertvollste ist wohl, dass ich keine Angst vor Entscheidungen und Veränderung mehr habe. Ich musste so viele Entscheidungen fällen in diesem Jahr und war so glücklich über die Konsequenzen, dass ich viel entspannter bin auch ohne Plan, Wohnung und Job.
Was werden Sie die nächsten zwei Jahre tun?
Vieles steht noch in den Sternen. Während meines Projekts haben sechs Verlage angefragt, ob ich ein Buch schreiben möchte – ich arbeite nun am Manuskript und freue mich auf die Veröffentlichung meiner Erfahrungen. Dann erhielt ich viele Einladungen, unter anderem zur TED-Konferenz in Wien, wo ich einen Vortrag halten darf. Das ist doch verrückt, oder? Ich fühle mich zwar nicht als Expertin, aber vielleicht hilft es anderen, wenn ich darüber berichte, wie wichtig es ist, sein Unbehagen ernst zu nehmen und etwas zu verändern, auch wenn man den Weg noch nicht genau abschätzen kann. Im Gewohnten zu verharren und die Unzufriedenheit mit Konsum und Urlaub zu kompensieren, funktioniert auf Dauer nicht. Beruflich habe ich noch keine Pläne, nur ein paar Ideen. Ich will meinen Terminkalender nicht zu sehr füllen, denn ich bin überzeugt, dass viel Unvorhergesehenes auf mich zukommen wird. So bleibt Raum für Entdeckungen und neue Abenteuer.
Kontakt und Information:
www.30-jobs-in-einem-jahr.de oder jannikestoehr@yahoo.de
Die Dame hat ein Luxusproblem. Während viele Leute froh sein müssen, überhaupt einen Job zu haben, weil sie sonst in existenzielle Nöte kämen, fehlt Frau Stöhr der Happeningfaktor im Leben. Ich mag ihr gönnen, dass sie sich offenbar über ihre finanzielle Zukunft keine Sorgen machen muss und mal so ein bisschen abhängen und herumschauen kann, auch “ohne Plan, Wohnung und Job”. Nur ist diese Denkweise für die meisten Normalbürger keine realistische Option und als Vorbild oder Inspiration ungeeignet.
Den wichtigsten Job haben sie vergessen zu erwähnen:
Selbstvermarkterin.
Eine ziemlich verrückte und irgendwie doch beneidenswerte Entscheidung, alles aufzugeben und komplett neu starten nur wegen dieser „eine Stimme“, die früher oder später viele von uns auch hören oder doch überhören! Die wenigsten trauen sich ernsthaft etwas zu unternehmen…Sie sind sehr mutig, Frau Stöhr und wissen Sie was? Ich denke, Sie haben bereits gefunden, wonach Sie gesucht haben: Ihr Freiheitsgefühl resp. die Unabhängigkeit selber zu bestimmen, was Sie alles machen möchten ist jetzt spürbar da – obschon Sie momentan noch keine genaue Richtung haben. Vielleicht sollten Sie Ihre Kollegen/Bekannten fragen, was Sie am besten machen oder wo sie Sie einsetzten würden? Sie haben bestimmt eine Gabe! Oder vielleicht sollen Sie mit Ihrem Blog genau dasselbe anderen anbieten: neue Jobs für eine bestimmte Zeit ausprobieren!? Wie auch immer, ich will Ihnen für das Erreichte gratulieren und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg und Spass auf Ihre Entdeckungstour!
Man ist nicht “als Pathologin tätig” wenn man in der Pathologie ein Praktikum macht!!
Schön, wenn man ungebunden ist und alles wagen kann. Wenn keine Kinder täglich in die Schule gehen sollen, versorgt sein sollen, ein Partner seinem Job nachgehen soll… Da kann man neidisch werden. ABER: Sie probiert es und schlauerweise BEVOR sie sich all diesen Verpflichtungen verschrieben hat!!
Ich würde mich auch unbedingt gerne temporär begleiten und beobachten lassen von jedermann und -frau der/die sich selbst finden möchte. Bitte mehr davon! Einfach dabei nicht vergessen, dass nicht jedermann/-frau sich gerne als Zirkusartist sieht.
Faszinierend, was Frau da alles hinkriegt mit 28 Jahren – Pathologin, Hebamme, Wirtschaftsfrau, Politikerin in Brüssel, Reiseleiterin u.v.m. Ich dachte immer, für diese Jobs brauche es Ausbildungen etc. Oder ist es so zu verstehen, dass die Dame an entsprechende Türen geklopft und gebeten hat, ein Praktikum zu absolvieren, was und wo auch immer? Ich glaube kaum, dass in so kurzer Zeit so viele Berufsausbildungen möglich sind. Ja, es stimmt, unsichere Wirtschaftslage macht weniger träge – Erfahrungen sammeln und das Leben “ausprobieren” ist nur noch beschränkt möglich. Es ist ja erwiesen, dass wir nicht mehr in einer Gesellschaft, sondern in einer Wirtschaft leben, deshalb finde ich solche Artikel (oder Blogs) erfrischend, weil sie aufzeigen, was noch möglich ist heute, auch für Mütter mit Kindern notabene! Alles eine Frage des Organisierens und des Nein- resp. Ja-Sagens (bin selber bestandene Mutter etc.).
@Benni Aschwanden: Die Dame hat sich ihren Job und ihren Lebensstandard offensichtlich erarbeitet. Sie hat ihr “Luxusproblem” nicht gratis in die Wiege gelegt bekommen. Langsam geht mir das Gejammere der armen “Normalbürger”, die sich dieses und jenes nicht leisten können, ganz schön auf die Nerven. Ich komme auch aus einer Normalbürger-Familie, die es sich kaum leisten konnte, einmal pro Jahr eine Woche in die Ferien zu gehen. Und nun habe ich einen guten Job und muss mir keine Sorgen mehr um meine Finanzen machen. Statt immer rumgejammert, habe ich halt was gemacht. Weiterbildungen und Job gleichzeitig, nachträgliches Master und trotzdem 90% in einem Leitungsjob gearbeitet… Ganz schön hart und mit viel Verzicht verbunden. Aber es hat sich gelohnt. Meine Tipp: Entweder zufrieden mit dem, was man hat oder es verändern. Love it, change it or leave it.
“30 Jobs in einem Jahr ausprobiert” – d.h. pro Job rund 12 Tage (Ferien nicht eingerechnet). Eine glaubwürdiges und seriöses Fazit kann man daraus nicht ableiten; weder bei den Firmen/Institutionen, welche diese Frau “beschäftigt” haben noch bei dieser Frau mit Berufserfahrung im HR-Bereich eines Konzerns.
Hier geht es doch nur darum, dass mithilfe eines Journalisten die narzisstische Profilierung und Selbstvermarktung medial kostenlos gestreut werden kann. Ich bezweifle, dass dies einen positiven Eindruck generiert.