Im Film mag das möglich sein, im richtigen Leben ist es unwahrscheinlich, dass jemand im Alter von 56 Jahren erstmals eine Professur erhält. Doch Barbara Flückiger hat keinen Aufwand gescheut, als Späteinsteigerin noch die akademische Karriereleiter zu erklimmen. Die Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich hat sich durch Fokussierung auf ihre Herzensangelegenheiten unentbehrlich gemacht.
Interview:
Mathias Morgenthaler
Frau Flückiger, Sie haben mit 56 Jahren die erste unbefristete Festanstellung Ihres Lebens angetreten. Warum waren Sie so spät dran?
BARBARA FLÜCKIGER: Ich bin – im Gegensatz zu vielen Interviewpartnern hier – keine Aussteigerin, sondern eine Späteinsteigerin. Zu Beginn meiner Laufbahn suchte ich das abenteuerliche, wechselhafte Leben, die immer neuen Herausforderungen. Erst durch die Geburt meiner Tochter wurde ich sesshafter und nahm meine zweite Karriere in Angriff. Eine Sache blieb aber während über 30 Jahren gleich: Ich wusste nie, womit ich in zwei Jahren den Lebensunterhalt verdienen würde. Als ausserordentliche Professorin an der Universität Zürich habe ich nun erstmals Planungssicherheit. Das empfinde ich als sehr beruhigend.
Ihr Berufsleben hatte immer einen Bezug zum Film. Warum hat diese Kunstform eine so starke Anziehungskraft auf Sie ausgeübt?
Ich bin in der Provinz aufgewachsen, es gab im Haushalt kein Fernsehgerät und in der näheren Umgebung nur ein Kino, in dem grauenhaft schlechte Filme gezeigt wurden. Als 15-Jährige fuhr ich oft nach Zürich, um die neuen Filme von Wim Wenders oder Rainer Werner Fassbinder zu sehen. Ich war schon früh eine leidenschaftliche Leserin gewesen. Aber die Bilder und Klänge im Kino sprachen direkt die Emotionen an – für mich hatte das etwas Magisches.
Wie kamen Sie mit der Filmproduktion in Berührung?
Nach der Matura nahm ich ein Germanistik-Studium in Angriff, der klassische Weg halt. Ich war allerdings sehr enttäuscht vom Studium, organisierte mir ein Auslandjahr in Berlin und begann, als Nebenjob in kleinen Filmproduktionen mitzuarbeiten. Was war das für ein Kontrast zur Atmosphäre in den Hörsälen! Rasch rutschte ich tiefer in die Filmproduktion hinein, bekam immer bessere Jobs und brach schliesslich mein Studium ab. Es war wunderbar, ganz in dieses Metier einzutauchen. Während des Studiums hatte ich bereits für verschiedene Zeitungen Filmkritiken verfasst, aber mir war schon da bewusst gewesen, dass ich eigentlich zu wenig von der Materie verstand. Nach dem Jahr in Berlin zog ich nach München, wo ich das Filmhandwerk in einem Tonstudio von der Pike auf lernte. Danach war ich 12 Jahre lang als Filmtechnikerin mit Spezialisierung auf Sounddesign unterwegs, drehte in Portugal, Italien, den USA, Kanada, im Libanon und in vielen anderen Ländern. Es war eine wunderbare Freelancer-Zeit mit interessanten Projekten.
Warum konnte es nicht so weitergehen?
Nach der Geburt unserer Tochter war mir klar, dass es mit diesem Lebenswandel für alle schwierig würde. Gleichzeitig schlichen sich trotz immer neuen Schauplätzen gewisse Wiederholungen ein, es fehlte an Entwicklungspotenzial. Ich sehnte mich nach mehr Stabilität und intellektueller Herausforderung. So suchte ich eine Berufsberaterin auf, um mir über meine Perspektiven klar zu werden. Nach vielen Tests stand für die Beraterin fest, dass ich problemlos ein Studium absolvieren könne. Ich selber war mir da gar nicht sicher, vor lauter Zweifeln erzählte ich praktisch niemandem von meinem zweiten Anlauf an der Uni – so hätte ich jederzeit abbrechen können ohne Gesichtsverlust. Dann fand ich in der Filmwissenschaftlerin Christine Brinckmann allerdings eine Mentorin, die mich ermutigte, nicht nur das Studium abzuschliessen, sondern danach gleich eine Doktorarbeit in Angriff zu nehmen.
Kein leichtes Unterfangen als Mutter.
Es gelang mir, ein Stipendium im Rahmen eines Nationalfondsprojekts zum Thema Sounddesign zu gewinnen, parallel dazu arbeitete ich als Dozentin an verschiedenen Filmhochschulen. Bald wurde mir klar, dass ich ganz in meinem Element war auf diesem akademischen Weg. Ich wusste aber auch, dass ich mich beeilen und überdurchschnittlich anstrengen musste, weil ich sehr spät dran war im Vergleich mit allen anderen. So nahm ich bald ein weiteres Nationalfondsprojekt in Angriff, was 2007 zur Habilitation an der Universität Berlin führte. Dabei spielten einige glückliche Zufälle mit. Wären nicht passende Projekte vergeben und die richtigen Stellen frei geworden, würde ich heute kaum als Professorin arbeiten.
Wie kommt man im Alter von 56 Jahren zu einer Professur? Gibt es an Universitäten keine Altersguillotine?
Mit über 50 bekommt man eigentlich keine Professur mehr. Ich hatte mir aber als praxiserprobte und international anerkannte Fachfrau in den Bereichen Filmrestaurierung, Digitalisierung und Filmtechnologie einen Namen gemacht und erhielt so kurz nach der Habilitation eine befristete Gastprofessur an der Universität Zürich. Das war zwar hoch spannend, aber innerlich blieb ich angespannt. Wenn solche befristete Engagements nicht verlängert werden, steht man plötzlich auf der Strasse – aussortiert an der Uni und überqualifiziert in allen anderen Bereichen. Ich kenne einige Frauen mit unkonventionellen Berufsbiografien, die es so aus der Bahn geworfen hat. Deshalb legte ich mir nicht nur einen Plan B, sondern Pläne B bis Z zurecht für alle Eventualitäten.
Und dann wurde vor einem Jahr an der Universität Zürich eine vierte Film-Professur geschaffen, ausdrücklich für Sie – «ad personam», wie es im Fachjargon heisst.
Das war teilweise sicher als Anerkennung meiner Leistung zu verstehen – als Spätzünderin habe ich wirklich keinen Aufwand gescheut. Dann hatte es aber auch damit zu tun, dass ich viele Drittmittel vom Nationalfonds oder der Kommission für Technologie und Innovation akquiriert habe und mich so ein wenig unentbehrlich machen konnte. Ich empfand die Ernennung zur Professorin als schöne Bestätigung für meine Überzeugung, dass es sich lohnt, seiner Leidenschaft zu folgen – auch wenn es der anstrengendere Weg ist. Wenn man diesen Weg unter die Füsse nimmt, entdeckt man ein Potenzial und Ressourcen, von denen man kaum etwas wusste. Verharrt man im Gewohnten, Sicheren, in dem, was andere für richtig und machbar halten, stutzt man sich selber die Flügel.
Wie hat Ihre Tochter die Karriere ihrer Mutter erlebt?
Der Spagat zwischen Familie und spät entdeckter Karriereambition machte mir zu schaffen. Für meine Familie war es nicht immer einfach. Als mir meine Tochter eines Tages als Samichlaus verkleidet mitteilte, er finde es gut, dass ich so viel arbeite, aber mein Kind sei manchmal ganz schön traurig, erwischte er mich damit an einem wunden Punkt. Aber dieses schlechte Gewissen kennen viele, die im Privatleben und beruflich hohe Ansprüche haben. Man hat zwischenzeitlich das Gefühl, an beiden Orten zu wenig geben zu können.
Wo liegen heute Ihre Forschungsschwerpunkte?
Ein Schwerpunkt ist die Digitalisierung des Films. Viele wertvolle mit analoger Technik produzierte Filme müssen ins digitale Zeitalter überführt werden, weil sie sonst nicht mehr gezeigt werden können. Parallel dazu beschäftigt mich die Frage, wie sich der Produktionsprozess verändert durch den technologischen Wandel, wie sich die Digitalisierung auf die ästhetische Gestaltung auswirkt. Ein weiterer Schwerpunkt ist sind Farbfilm-Verfahren wie Technicolor, das die Filme seit den 1930-Jahren in leuchtenden Farben erscheinen lässt. Ich habe eine gigantische Datenbank geschaffen, die als zentrale Informationsquelle für Farbprozesse im Film dient – Forscher aus aller Welt und viele interessierte Laien setzen sich da ins Bild. Für mich ist das ein Herzensprojekt. Es gibt weit über 200 Farbverfahren im Film, und die Farbgestaltung ist ein wichtiges Element des Filmerlebens. Je nach Filmfarbe reagiert der Zuschauer ganz anders auf die gleiche Szene, ohne dass ihm dies bewusst wäre.
Kontakt und Information:
baflueckiger@gmail.com
http://zauberklang.ch/filmcolors/
Ist eine 4. Professur für Filme die Initiative für Bildung? Das ist, was die Schweiz braucht, um sich im internationalen zu behaupten? Ich mag es der Frau gönnen… aber sind die Millionen-Kosten wirklich zu verantworten? Muss nicht auch der öffentliche Sektor einen Wert generieren?