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«Nur wer menschlich kompetent ist, führt langfristig erfolgreich»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 6. September 2014
Patrick Jacot, Leiter Kredite Postfinance und Seitenwechsler.

Patrick Jacot, Leiter Kredite Postfinance und Seitenwechsler.

Patrick Jacot, Leiter Kredite und Direktionsmitglied bei Postfinance, ist «auf der Sonnenseite des Lebens geboren». Der einwöchige Einsatz in der Suchtklinik Südhang markierte einen Wendepunkt in seiner Karriere. Der 47-Jährige wurde sich bewusst, dass jeder aus der Bahn geworfen werden kann und es deshalb eminent wichtig ist, eine Vertrauenskultur zu schaffen im Unternehmen.

Interview:
Mathias Morgenthaler

Herr Jacot, Sie haben nicht nur viele fachspezifische Ausbildungen absolviert, sondern auch für eine Woche die Seite gewechselt und mit alkoholkranken Menschen gearbeitet. Wozu soll das gut sein?

PATRICK JACOT: Ich bin auf der Sonnenseite des Lebens geboren und sehr dankbar dafür. Wenn man so viel Glück hat, kann es nicht schaden, sich damit zu beschäftigen, wie weniger Privilegierte ihren Alltag meistern. Das habe ich neben dem Studium schon so gemacht, als ich in Nachtschichten Taxi fuhr. Der Seitenwechsel war ebenfalls eine gute Gelegenheit, den Horizont zu erweitern. Zudem hatte ich als Führungskraft kurz vorher eine schwierige Situation zu bewältigen, weil ein Mitarbeiter ein Alkoholproblem hatte. Die Geschichte hat mich sehr beschäftigt.

Was haben Sie gelernt während der Woche in der Klinik Südhang?

Wie viele hatte ich meine Vorurteile. Früher dachte ich, es seien vor allem Arbeitslose, Leute aus der Baubranche, Wirte, Handwerker, die mit Alkoholproblemen kämpfen. Im Südhang lernte ich aber auch Ärzte und Manager kennen, die mir ihre Geschichte erzählten. Einer sagte mir, er habe es wegen der permanenten Überforderung nicht mehr geschafft, sich abends zu entspannen. Also habe er Alkohol getrunken, um runterzukommen. Mir wurde auf einen Schlag klar: Es kann jeden treffen, wenn etwas passiert, das dich aus der Bahn wirft, wenn du keine gesunden Bewältigungsstrategien mehr hast. Wichtig ist, dass man in den entscheidenden Momenten ein funktionierendes Umfeld hat.

Was heisst das für Sie als Chef, der Führungsverantwortung für rund 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trägt?

Ich bin überzeugt: Nur wer menschlich kompetent ist, führt langfristig erfolgreich. Entscheidend sind zwei Dinge: sich selber zu kennen und eine vertrauensvolle  Kultur zu etablieren. Viele Führungskräfte gehen Konflikten und schwierigen Situationen unbewusst aus dem Weg, weil sie sich vor Emotionen fürchten und nicht wissen, wie sie sich in schwierigen Gesprächen verhalten sollen. Und genau hier kommt die Sozialkompetenz zum Tragen. Wenn der Druck am Arbeitsplatz steigt, kann dies das Klima vergiften. Zudem holt man sich als Chef kurzfristig keine Lorbeeren und keinen Extra-Bonus, wenn man in seine Sozialkompetenz investiert und viel Zeit für Gespräche mit Mitarbeitern aufwendet.

Warum machen Sie es trotzdem?

Für mich war das Seitenwechsel-Projekt ein Wendepunkt. Von da an habe ich in meiner Weiterbildung stark in den Ausbau der Sozialkompetenz investiert. Zunächst erwarb ich Abschlüsse in Mediation und Konfliktmanagement, im November werde ich nun eine zweijährige Coaching-Ausbildung abschliessen. Heute fühle ich mich viel sicherer, auch in schwierigen Gesprächen. Ich habe einen klareren Blick auf die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, auf ihre Ressourcen, aber auch auf Stressoren und Warnsignale. In der Klinik Südhang habe ich mit den Alkoholkranken in der Küche gearbeitet. Es war das erste Mal, dass ich den Begriff Arbeitsagogik hörte. Ich sah dort, wie Menschen wieder gesunden, wenn sie einer sinnvollen Arbeit nachgehen. In grossen Organisationen müssen wir aufpassen, dass nicht das Gegenteil passiert; dass die Mitarbeiter nicht krank werden, weil sie sich der Arbeitsbelastung nicht gewachsen fühlen.

Konnten Sie Erfahrungen aus der Suchtinstitution im Postfinance-Alltag nutzen?

Natürlich. Eine Kollegin erzählte mir beispielsweise von einer Mitarbeiterin, die über längere Zeit krank ausgefallen war nach einem Konflikt mit dem Vorgesetzten. Ich entschied unbürokratisch, einen Versuch zu wagen und sie an einem freien Schreibtisch in meinem Team arbeiten zu lassen. Zu Beginn konnte sie nur ein ganz kleines Pensum bewältigen, ihr war jegliches Selbstbewusstsein abhanden gekommen. Aber sie hatte so einen Grund, am Morgen aufzustehen, und ein Team, das ihr eine Chance gab. Heute ist sie nicht nur eine gute Freundin für mich, sondern auch eine sehr leistungsfähige Mitarbeiterin. So habe ich seit dem Seitenwechsel einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in schwierigen Situationen darin unterstützt, wieder festen Boden unter den Beinen zu bekommen.

An Ihnen ist ein Coach oder Personalchef verloren gegangen.

Ich finde meine Arbeit, die Verantwortung für die Kreditvergabe bei Postfinance, sehr interessant. Aber ich bin jetzt 47-jährig, also in der zweiten Lebenshälfte, und da stellen sich Sinnfragen dringlicher als auch schon. Ich will nicht nur Zahlen optimieren, sondern meine Erfahrung und meinen Einflussbereich nutzen, um Menschen zu bewegen, sie wachsen zu lassen. Früher, wenn ein Mitarbeiter mit einem Problem zu mir kam, nahm ich mich der Sache an und habe das Problem gelöst. Heute habe ich die Coaching-Haltung verinnerlicht und unterstütze die Mitarbeitenden dabei, ihre Ressourcen zu aktivieren und selber eine Lösung zu finden. Meine Diplomarbeit, an der ich gegenwärtig arbeite, trägt den Titel: «Coaching in der Lebensmitte – die zweite Halbzeit entscheidet.» Es ist eine Illusion zu glauben, die Strategien, die sich in der ersten Lebenshälfte bewährt haben, seien auch für die zweite Hälfte die besten.

Als Mitglied der Direktion müssen Sie aber auch das Unternehmen vertreten. 2012 beispielsweise gab es in ihrem Bereich  einen Personalabbau aus Kostengründen. Da mussten Sie Mitarbeitende entlassen, positive Grundhaltung hin oder her.

Ja, wie viele andere Unternehmen muss auch Postfinance auf die Rentabilität achten, ohne diese bleibt kein Unternehmen auf Dauer gesund. Das verlangt auch schmerzliche und in diesem Fall menschlich schwierige Entscheidungen. Viele Chefs gehen in Restrukturierungsphasen auf Tauchstation, überlassen die schwierigen Gespräche den Personalabteilungen oder sogar externen Spezialisten. Meiner Meinung nach ist dies Chefsache. Ich habe sehr früh Einzelgespräche geführt mit allen betroffenen Mitarbeitenden. Ehrliche Kommunikation ist in solchen Momenten das Wichtigste. Dann geht es darum, die Neuausrichtung und Weiterentwicklung gemeinsam zu besprechen.

Sie reden nicht wie einer, der noch mehr Karriere machen will.

Die Frage ist, wie man Karriere definiert. Ich bin seit 14 Jahren bei Postfinance, bin gut vernetzt und habe eine Art Job-Enrichment vollzogen, Personal- und Coaching-Aspekte in meine Arbeit eingebaut. Dies hat viel mit meiner inneren Haltung zu tun. Es schliesst einen weiteren Karriereschritt nicht aus. Im Gegenteil. Heute ist mir jedoch mehr denn je wichtig, dass ich meine Werte leben und gemeinsam mit meinen Mitarbeitenden viel bewegen kann. Was bringt es mir, in einem Marmortempel zu sitzen, wo Fehler tabu sind und keine Zeit für Reflexion bleibt? Wo man rund um die Uhr erreichbar sein muss, weil es alle so machen? Ich achte darauf, dass ich auch in diesem Bereich ein Vorbild sein kann, indem ich an den Wochenenden keine Mails verschicke und so andere in Zugzwang bringe. Erholung und Entspannung sind neben der Leistungsbereitschaft und Begeisterung wichtige Werte in unserer Unternehmenskultur.

Kontakt:
patrick.jacot@postfinance.ch

 

Projekt Seitenwechsel: Ein emotionales Tauchbad mit Folgen

Ein Bank-Manager, der mit Häftlingen im Gefängnis diskutiert; ein IT-Manager, der körperlich behinderte Menschen in den Schwimmunterricht begleitet; der Direktor eines Energie-Konzerns, der im Kinderheim mit anpackt. Es sind nicht alltägliche Begegnungen, die durch das Projekt Seitenwechsel zustande kommen. Seit 20 Jahren bietet das Weiterbildungsangebot der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft Managern die Chance, das gewohnte Umfeld in der Chefetage zu verlassen und für eine Woche die Führungskompetenz in einer Umgebung zu trainieren, in der andere Gesetze herrschen. Über 2900 Kaderleute haben sich dieser Herausforderung in den letzten 20 Jahren gestellt und ihre «Führungspersönlichkeit durch Verunsicherung gestärkt», wie Jacqueline Schärli, Programmleiterin Seitenwechsel, festhält. Schärli sieht die Weiterbildung als «einzigartige Kombination von Persönlichkeitsentwicklung und sozialem Engagement», als eine Art «Auslandaufenthalt im Inland», der Distanz schafft zum eigenen Alltag und Reflexion ermöglicht.

Manager, die sich für einen Einsatz in einer der rund 160 zur Auswahl stehenden sozialen Institutionen entscheiden, erleben laut Schärli ein «emotionales Tauchbad, das ihre Führungskompetenzen verändert». Laut Auswertungen der Projektverantwortlichen beurteilen 88 Prozent der Teilnehmer den Nutzen des Seitenwechsels als «sehr hoch». Manche berichten gar von der «lehrreichsten Woche des Lebens» oder davon, ihnen sei «ein Nachtsichtgerät für Menschlichkeit» aufgesetzt worden. Bei vielen relativiert sich auch das eigene Stressempfinden, weil sie sich bewusst werden, in welch privilegierter Situation sie eigentlich leben. Und sie lernen, auch in schwierigen Situationen offen zu kommunizieren und unvoreingenommener auf Mitarbeiter einzugehen.

Das Projekt Seitenwechsel wurde 1991 zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft ins Leben gerufen. Zunächst stand das Ziel im Vordergrund, die «Wirtschaftsschweiz» und die «soziale Schweiz» zu verbinden, später rückten der Abbau von Vorurteilen und der Ausbau der Sozialkompetenz bei Führungskräften in der Vordergrund. Die Kundenliste umfasst diverse grosse Unternehmen wie die Post, Migros, Swisscom, Alstom, Credit Suisse, UBS oder LGT. In Rekordjahren kamen so rund 240 Seitenwechsel zustande. 2008 im Zuge der Bankenkrise erlitt das Projekt einen Einbruch, für dieses Jahr rechnet Jacqueline Schärli mit 140 Seitenwechslern.

 

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10 Kommentare zu “«Nur wer menschlich kompetent ist, führt langfristig erfolgreich»”

  1. max tarhar sagt:

    Grossartig! Das Projekt Seitenwechsel ist eine hervorragende Einrichtung und was Herr Jacob erreicht hat ist Gold wert. Gutes Interview!

  2. Ralf Schrader sagt:

    Sozialkosmetik. Was soll das sein, ‘Umdenken’? In Wirklichkeit gibt es das vielleicht noch bei Kleinkindern, nie aber bei geistig gesunden Erwachsenen.
    Wer Beispiele oder Anschauung braucht, um etwas zu verstehen, versteht in Wirklichkeit nichts.

  3. adam gretener sagt:

    Lieber Herr Jacot

    Wenn das nicht nur Lippenbekenntnisse sind, wovon ich jedoch nicht ausgehe, dann muss ich echt meinen Hut lüften vor Ihnen.

    Ich arbeitete selbst in einem sehr kompetitiven Umfeld mit 100-Stunden-Wochen und war ziemlich belastbar und robust. Über fast zwei Jahrzehnte. Gerade wenn man sehr motiviert ist und auch leistungsbereit, braucht es nicht viel, um aus der Bahn geworfen zu werden.

    Persönlich habe ich die Kurve gekriegt, mit Hilfe und Glück. Aber das ist nicht jedem einfach so beschert. Heute gebe ich einen halben Tag pro Woche unbezahlt an unsere Gesellschaft zurück, um genau solchen Leuten helfen zu können. Hoffentlich jedenfalls.

    Zeigen Sie ihren Mitarbeitern Wertschätzung, achten Sie auch auf kleine Signale, am besten frühzeitig. Fehler passieren und lassen Sie diese auch mal zu, das passiert jedem. Man sagt ja, eine Führungskraft darf keine Schwäche zeigen. Das ist absoluter Blödsinn.

    Wenn ein Mitarbeiter permanent das Gefühl hat, überfordert zu sein, dann ist das Setup in der Firma nicht richtig eingestellt und ein Fehler des Managers. Meine persönliche Erfahrung als Führungskraft: Die Individuellen Talente und Stärken der Mitarbeiter werden viel zu wenig beachtet. Einer ist akribisch genau, der andere sprüht vor Ideen.

    Wenn man das richtig einzusetzen weiss, funktioniert ein Team hervorragend. Wenn nicht, kann eine ganze Abteilung baden gehen.

    Herzliche Grüsse
    Adam Gretener

  4. Gerhard Graf sagt:

    “Es kann jeden treffen.” Mit dieser Verallgemeinerung bin ich nicht einverstanden. Da unterschätzt Herr Jacot wohl die Resilienz gewisser Menschen.

  5. adam gretener sagt:

    Aha, sehen Sie Herr Schrader, Leute mit ihrer Einstellung sind selbst “geistig” nicht ganz gesund.

  6. Roberto Belgrado sagt:

    Das perfide bei Alkoholikern ist meist, dass sie ihre Sucht auch am Arbeitsplatz kolosal verleugnen, und gar sagen, sie hätten seit Tagen nichts mehr (alkoholhalitiges) getrunken. Sie trinken jedoch im Verborgenen. Ich hatte einen Kollegen, der seine Sucht (Rauchen ist ja auch ¨nur¨ eine Sucht, keine Krankheit) über Jahre verbergen konnte. Einerseits war er überheblich, andereseits labil, was seine Sucht betraf.

  7. Sehr geehrte Redaktion,
    dieser Artikel bzw. dieses Interview ist hervorragend hervor gehoben und eine fantastische Botschaft an alle Führungskräfte.
    Es ist von grosser Bedeutung, dass man in die Sozialkompetenz investiert, bzw. seine eigene Fähigkeiten abruft und umsetzt.
    Viele MitarbeiterInnen würden es bestimmt mehr schätzen, wenn ihre Führungskraft an die Front der Menschlichkeit zurück kehrt.
    Ich bin fest davon überzeugt, dass Führungskräfte heute ihr eigenes Potential noch nicht ausgeschöpft haben UND möglicherweise auch nicht wollen. Ein Hauptgrund sehe ich darin, dass das eigene Versagen und Ängste dieser Leute die Ursache davon ist…. Dieser Bericht über Patrick Jacot, ist hoffentlich bei vielen positiv angekommen. – Kompliment !
    Mit freundlichen Grüssen Bernhard Wüthrich Heimleiter

  8. Tom1 sagt:

    Hervorragend wenn erfolgreiche Manager sich Zeit nehmen um die andere Seite der Medaillie zu betrachten und diese Spannung aushalten! Vorbildlich. Ich bin beeindruckt von Herrn Jacot!

  9. rene frischknecht sagt:

    Erinnert mich irgendwie an einen Zoobesuch. Grundsätzlich befürworte ich solche Aktionen, aber dann mindestens ein zwei Monate, damit nicht nur in der Zeitung ein bleibender Eindruck überlebt.

  10. Paul Moser sagt:

    Wieder einmal ein klarer Hinweis darauf, dass das Sprichwort “jeder ist seines Glückes Schmid” eben noch nicht die ganze Wahrheit ist. Das eigene Glück ist von vielen, auch rein zufälligen Faktoren abhängig, ebenso auch von anderen Menschen und dem Umfeld von Herkunft, Familie, Ausbildung und Beruf. Heute wird so oft von Selbstverwirklichung und Selbstverantwortung gesprochen, sie seien das Wichtigste von allem. Doch genau diese Begriffe haben zur einer massiven und teilweise schon kranken Entsolidarisierung unserer Gesellschaft geführt, wo einem das Schicksal des andern völlig kalt lässt. Gut gibt es solche Projekte, die Menschen “da oben” ein wenig die Augen öffnet, um den Begriff Solidarität wieder etwas mehr in den Blick zu bekommen – nur sollten noch mehr Führungsleute einen solchen Blickwechsel wagen, nicht nur Herr Jacot. Auch vielen Politikern müsste man dieses Projekt dringend vorschlagen.